PLEASURE (eBook)

Schlafen, Essen, Mode: Der neue Essay der Starkolumnistin Jovana Reisinger über die Frage, warum Luxus politisch ist.
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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3273-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

PLEASURE -  Jovana Reisinger
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»Was macht eigentlich das Unterschichtskind auf dem Roten Teppich?«, fragt eine Besucherin auf dem Münchner Filmfest in meine Richtung. Ja, was macht sie da? Sie ist auf einer Mission. Die Tussi suggeriert durch ihre Erscheinung ein grenzüberschreitendes Begehren. Es geht um Kitsch, Glamour, Trash, es geht um Camp. Es geht um Körper, Identitäten. Es geht um Strass, um Klasse und um künstliche Fingernägel. PLEASURE ist eine atemberaubend eloquente Tour de Force durch die Luxus-Triade Schlaf (meterlange Hotelbett-Laken!), Nahrung (Schlemmermaus!) und Kleidung (Dior, aber fake!). Anhand von aufschlussreichen Anekdoten aus der Kunstwelt stellt Jovana Reisinger die verdeckten Normen eines vermeintlich liberalen Milieus, bricht eine Lanze für den Kitsch, für die Völlerei und das Rumliegen. 'Unterschichten-Ästhetik' ist nicht nur ein politisches Signal, sondern auch ein Weg zu individueller Freiheit. Für Jede von uns. »Jovana Reisingers Erkundungen beweisen, dass der Kontinent der weiblichen Lust schon lange nicht mehr dunkel ist. Vielmehr beschreibt sie höchst amüsant und intelligent das feministische Lebensgefühl einer neuen Generation, die sich ein Recht auf Widersprüche vorbehält.« Katja Eichinger

Jovana Reisinger ist Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Mit ihrem Buch Spitzenreiterinnen war sie 2021 für den Bayerischen Buchpreis nominiert. 2022 erschien ihr essayistischer Roman Enjoy Schatz. Seit 2020 schreibt sie die Menstruationskolumne Bleeding Love für die VOGUE, seit 2023 die »Single-Kolumne« für die F.A.Z.

Jovana Reisinger ist Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Mit ihrem Buch Spitzenreiterinnen war sie 2021 für den Bayerischen Buchpreis nominiert. 2022 erschien ihr essayistischer Roman Enjoy Schatz. Seit 2020 schreibt sie die Menstruationskolumne Bleeding Love für die VOGUE, seit 2023 die »Single-Kolumne« für die F.A.Z.

Das Ende eines Jahrtausends


Am 11. August 1999 glaubte unsere Küchenhilfe, dass die Welt untergehen würde, kam aber trotzdem pünktlich zur Arbeit. Der Mond schob sich zwischen Erde und Sonne, verdunkelte die Sonne, und während wir, meine Familie und ich, mit all den Nachbarinnen, Nachbarn und den Verwandten draußen auf der Terrasse unseres oberösterreichischen Wirtshauses die gratis Sonnenfinsternis-Schutzbrillen aus den Fernsehzeitschriften und Kiosken aufsetzten, um das Jahrhundertereignis zu begutachten und vor allem zu erleben, schrubbte und polierte die Frau, die ich fortan Charlotte nenne, weil niemals eine*r denken würde, eine Charlotte wäre Küchenhilfe eines Dorfwirtshauses in Oberösterreich, bis zur letzten Sekunde pedantisch die Arbeitsplatten meines Vaters, nur um sich dann Schutz suchend, und vor allem um das Ende der Zeit nicht mitansehen zu müssen, unter ihnen in Sicherheit zu bringen. Charlotte, die uns tagelang auf die anstehende Auslöschung der Menschheit vorbereitet hatte, die Bibelverse rezitierte und Rosenkränze zum Segnen in die Dorfkapelle brachte, die ihre eigene Familie in der Annahme, sie nie wiederzusehen, zu Hause zurückgelassen hatte, sich morgens verabschiedete, vielleicht unter Tränen, vielleicht durchaus mit Erleichterung und einem Gefühl von Genugtuung, aber ich spekuliere nur, denn gefragt habe ich sie nie, die Charlotte also ließ es sich nicht nehmen, ihrem regulären Arbeitsalltag nachzugehen und auf die Minute genau ihre Schicht zu beginnen, was selbst mir als Zehnjähriger imponierte. So viel Arbeiterinneneifer am letzten Tag der Erde oder überhaupt an irgendeinem anderen würde ich heute, jünger als Charlotte damals, nicht aufbringen.

Ganz im Gegenteil. Ich würde, wäre ich wirklich überzeugt vom anstehenden Weltuntergang, überhaupt nichts mehr leisten, außer den großen Abschied, ein letztes Hurra und die maximale Entgrenzung, einen einzigen hemmungslosen Exzess. Niemals aber würde mein Plan vor dem Abtritt darin bestehen, die kleine, jedoch äußerst gut ausgestattete Profiküche sauber zu machen und für den Koch zu präparieren, der zwar mein Chef ist, aber außerdem hirnrissig genug, im Anschluss an das alles vernichtende Spektakel ein ausgefallenes Menü servieren zu wollen, denn so eine totale Sonnenfinsternis passiert ja wirklich nicht alle Tage, und da könne man, so die Meinung dieses Chefs, auch herausgehoben speisen, als Zelebrierungsmaßnahme und Markierung von Besonderheit. Um dem Weltuntergang mit offenen Armen entgegentreten zu können, ihn also zu feiern, statt tatsächlich bei einer profanen Arbeitstätigkeit vom Untergang alles Menschlichen überrascht zu werden und unvorbereitet beim Schuften – oder wie er, der Chef, gesagt hätte, beim Hackeln – zu verrecken, braucht es offensichtlich ein konkretes Datum und nicht diesen mal diffusen, mal deutlicheren, jedoch immerzu drohenden und spürbaren, menschengemachten Klimawandel als Endzeitgarant oder das Mikroplastik in unseren Körpern und in überhaupt allen Körpern der Lebewesen dieser Erde. Man braucht etwas wie den legendären 21. Dezember 2012, der das Ende des Maya-Kalenders markiert, oder etwas Ähnliches, irgendein symbolisches Ende.

Charlotte hatte ihren 11. August 1999 und wusste, das Leben, die Gesellschaft und der Planet würden sogleich verschwunden sein, sich auflösen, verschlungen werden, oder, das war ihre größte Angst, es würde schlichtweg für immer dunkel bleiben, und alle würden langsam krepieren. Gegen elf Uhr dreißig war es Zeit dafür. Die Küche blitzte, Charlotte hatte ihr Tagwerk vollbracht und stand allein und aufrecht vor der Salatkühlung, während das halbe Dorf in unserem Biergarten Platz genommen hatte. Die enorme Nachfrage an Schutzbrillen konnte bis zum Schluss nicht gedeckt werden, und Europa starrte, zum Teil ungeschützt oder schlecht präpariert, allerdings erwartungsvoll in den Himmel. Keine Wolke störte, es herrschte freie Sicht, der Attersee, über dem die Mitte der Totalitätszone in Oberösterreich, also die ultimative Sonnenfinsternis, inklusive Temperaturabfall und Sichtbarkeit hellerer Sterne stattfand, war 55 Kilometer entfernt und die Stimmung prächtig.

An dieser Stelle muss man sich doch spätestens fragen: Charlotte, wozu das Ganze? Es muss Charlotte klar gewesen sein, dass im Falle eines Weltuntergangs weder mein Vater noch meine Mutter an eine faire Honorierung ihrer vorausschauenden Reinigungstätigkeiten denken würde. War das Pflichtgefühl, oder war die Arbeit zum einzig möglichen Ausdruck ihrer emotionalen Schieflage geworden? Ein Nachbar zählte mit theatraler Stimmhaftigkeit stupide die Minuten bis zum Ereignis herunter, Charlotte verkroch sich derweil tiefer ins Herz der Wirtschaft. Dann war es so weit. Die Gesichter im Biergarten wurden noch angestrengter in den Himmel gestreckt, Charlotte indessen vergrub das ihrige in den Händen. Stille, Erwartung auf das große Ende. Die Schönheit der Sonnenfinsternis, die Besonderheit des ganz großen Gemeinschaftserlebnisses, und schwups, war’s schon wieder vorbei. Die Angelegenheit dauerte nur kurz, etwa eine Minute, und mit der Rückkehr der für kurze Zeit verstummten Tiergeräusche füllten auch die Stimmen der Betrachter*innen erneut den Biergarten. Wow! Unglaublich! Der Wahnsinn! So ein Spektakel! Atemberaubend!

Charlotte wurde jedenfalls, nachdem sich die Euphorie über die Verdunklung allmählich gelegt hatte – Erdbeben, tote Vögel, die vom Himmel fielen, vollständiger Zusammenbruch des globalen Internetnetzwerks, ein implodiertes Atomkraftwerk, ein klaffender Riss im Boden, all das war ausgeblieben –, zitternd, betend und entgeistert unter der Arbeitsplatte neben der Salatkühlung vorgefunden, anschließend an einen Tisch gesetzt und von eilig helfenden Händen betreut. Da wurde der Puls am Handgelenk kontrolliert, Luft zugefächert, ein Soda Zitron angeboten, ein Traubenzucker verabreicht, auf die Schulter geklopft und der Handrücken getätschelt. Charlotte allerdings wollte nichts von alldem, ihr wurde zunehmend schwindelig und schwindeliger. Es dämmerte ihr: Das Leben nach dem Weltuntergang war das Leben vor dem Weltuntergang geblieben.

Was für eine elendige Gemeinheit! Da hatte sie gebetet und gelitten und ein Leben lang gearbeitet und war sparsam und genügsam und lebte mit allen Entbehrungen und war freundlich und anpassungsfähig und zäh und resilient und jammerte nicht und gebar Kinder und horchte auf einen angetrauten Mann, den sie sich nicht mal wirklich selbst aussuchen durfte, lebte in einem kleinen Haus, welches sie auch nicht wirklich aussuchen durfte, weil es eben schon seit dann und dann im Familienbesitz war, baute ihr eigenes Gemüse an und kochte und putzte und pflegte und tat, wie von ihr verlangt, aber letztendlich saß sie da, alles ruiniert, alles vorbei, und alles blieb wie eh und je, wie gehabt und wie zuvor. Dieser Weltuntergang, so schoss es Charlotte durchs Hirn, ist die größte Enttäuschung ihres Lebens, eine einzige Frechheit, schlimmer als jede bisher erlebte Demütigung, die absolute Hölle.

Das, aber irgendwie anders formuliert und vor allem auf Mundart, schrie sie fassungslos in die leicht erröteten, heiteren Gesichter, die sich vor ihr versammelt hatten, die sie entweder aus- oder anlachten, die entweder helfen oder ihre eigene Dummheit über das Megaversäumnis mitteilen wollten. So ein Jahrtausendereignis schweißt die Menschen zusammen. Nur die nicht, die es verpassten. Charlotte schwitzte, sie atmete tief und schwer, sie verengte ihre Augen und zog ihre Mundwinkel nach unten, während der Vater in der Küche gut gelaunt mit scharfen Messern hantierend das Spezialmenü zubereitete und die Mutti das Bier und die weißen Spritzer in einem hohen Tempo einschenkte und an die vielen Tische brachte, weil plötzlich alle einen enormen Durst bekommen hatten von dieser Grenzerfahrung. Die kleine Menschentraube um Charlotte wurde beim Anblick der keifenden Frau ganz ergriffen und entschied, sich selbst in Sicherheit zu bringen, denn die eigentlich so Zierliche war schlagartig nicht mehr fromm und ängstlich, sondern hasserfüllt und verkrampft und erschien stärker als jemals zuvor. »Ist das hier die Hölle?«, fragte sie in die verdatterten Gesichter, die sich ihr noch zuwandten, und riss der Mama beim Vorbeigehen das Tablett aus den Händen, die sich davon nicht beeindrucken ließ, sondern einen Ausruf des Erstaunens geltend machte, so als würde sie uns Kinder oder den Hund ermahnen. »Die Scherben räumst aber jetzt sofort selber auf«, schob die Mami hinterher, als sie wieder zur Schank ging, um die Getränke erneut zu zapfen und einzuschenken, und ich setzte mich neben die schunkelnde Oma, weil irgendwer ein deppertes Volkslied sang und Stimmung machte und die Omi die Stimmung sofort spürte. Charlotte war sich indes sicher, dass die Welt untergegangen war und dass es sich bei der Fortsetzung der bekannten Welt nach ihrem Untergang um die allergrößte Strafe Gottes handelte, also beschloss sie, dass es jetzt auch schon wurst (egal) sei, stellte sich auf den Tisch und verlangte nach dem Selbstgebrannten, den der Vati der Gesetze wegen oben auf dem Küchenschrank versteckt hielt. »Her damit!«, schrie sie in Endlosschleife, und zu ihrer eigenen Überraschung stimmte...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte arme Leute • Aufstieg • Billig • Edel • Essay • Essen • Feminismus • Gesellschaft • Hotelzimmer • junge Frauen • Klasse • Kleidung • Kritik • Kunst • Künstlerleben • lifestyle • Luxus • Mode • Prekariat • Scham • Schlafen • slut shaming • trashy • tussi • Wohlstand
ISBN-10 3-8437-3273-6 / 3843732736
ISBN-13 978-3-8437-3273-4 / 9783843732734
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