Warum noch lernen? (eBook)
304 Seiten
Mosaik bei Goldmann (Verlag)
978-3-641-31192-6 (ISBN)
Warum finden die meisten Schülerinnen und Schüler, dass sie in der Schule nichts Relevantes gelernt haben? Wie kann es sein, dass der Großteil der Lerninhalte wieder vergessen wird? Und wie lässt sich die Frage nach Chancengleichheit in einem System beantworten, das schon in jungen Jahren nach Schularten aussortiert? Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume sagt: Wir müssen uns darüber klarwerden, warum wir im 21. Jahrhundert lernen. Dieses Warum muss im Zentrum der Bildung stehen. Denn nur dann kann Lernen erfüllend und sinnstiftend sein. Er formuliert eine klare Vision für die Schule der Zukunft und zeigt, dass ein gemeinsames Verständnis von Bildung und Lernen der einzige Weg aus der Bildungsmisere ist.
Bob Blume ist Lehrer, Blogger, Podcaster und Bildungsinfluencer. Er studierte Germanistik, Anglistik sowie Geschichte und arbeitet nun als Oberstudienrat an einem Gymnasium in der Nähe von Baden-Baden. Daneben schreibt er Bücher zur Bildungsdebatte und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam. Zudem ist Bob Blume ein gefragter Experte in der deutschen Medienlandschaft zum Thema Schule. Bei der Verleihung der Goldenen Blogger 2022 wurde er als Blogger des Jahres ausgezeichnet. Außerdem wurde er von Bildung.Table, der führenden deutschen Bildungsredaktion, als einer der 100 entscheidenden Köpfe der Bildungsszene ausgewählt.
Vorwort: Das Experiment sind wir
In deutschen Schulen wird nicht gelernt. Dieser Satz fiel mir ein, während ich über das hiesige Bildungssystem nachdachte. Konnte ich ihn überhaupt in dieser Radikalität äußern?
Aber doch, ja: In deutschen Schulen wird nicht gelernt. Das ist nicht als Affront gemeint, nicht als Anklage gegen Lehrpersonen, die in den Schulen in Zeiten des Mangels ihr Bestes geben, um Kindern und Jugendlichen einen möglichst reichhaltigen Schatz mitzugeben, von dem sie ihr Leben lang zehren sollen. Und es ist auch keine Anklage gegen Kinder und Jugendliche, die medial, wenn überhaupt, nur dann beachtet werden, wenn es um den ewig wiederholten Verfall von Moral, Anstand, Tugend oder Leistungsbereitschaft geht.
Nein, die Behauptung, in der Schule wird nicht gelernt, ergibt sich aus einer über Jahrzehnte eingeübten und festgezurrten Praxis, die aus einer anderen Zeit stammt und nicht mehr mit unserer heutigen in Einklang zu bringen ist.
Natürlich ist nicht alles schlecht. Denn auch wenn allenthalben erklärt wird, das deutsche Bildungssystem würde sich nicht bewegen, ist deutlich hervorzuheben: Vieles hat sich geändert. Nicht mehr nur ein Bruchteil von Kindern besucht das Gymnasium und genießt den Vorteil, nach der Schule alle Chancen zu haben. Dennoch muss im selben Atemzug erwähnt werden, dass noch immer viel zu viele Schülerinnen und Schüler wenige oder gar keine Chancen haben. Aber: Mehr Menschen denn je können an Bildung teilhaben.2 Gleichzeitig erscheint das zentrale Anliegen der Schule, wie in den Landesschulgesetzen formuliert, zunehmend in der Krise. Vielleicht sollte man sagen: wiederholt und verschärft.
Das hat mehrere Gründe, die in diesem Buch eine Rolle spielen werden. Das Drama der deutschen Bildungsmisere spielt sich – neben Lehrer- und Ressourcenmangel, Investitionsstau und Bildungsföderalismus – auch in dem riesigen Canyon ab, der zwischen den Bildungseinrichtungen und der Welt, in der wir leben, entstanden ist.
Wir sind an der Schwelle zu einer weiteren digitalen Revolution. Manche würden sagen, dass wir sie schon übertreten haben. Die künstliche Intelligenz (KI) kann – und wird – so viele Aufgaben übernehmen, dass zahlreiche Menschen in den verschiedensten Branchen ihren Job verlieren könnten. Es ist nicht verwunderlich, dass auch und gerade Eltern sich die Frage stellen, ob Schule, wie sie heute funktioniert, ihren Kindern noch alle wichtigen Kompetenzen für eine solche Welt vermittelt.
Gleichzeitig warnen nicht wenige Vertreter dieses Wandels davor, den Wettlauf um die beste KI uneingeschränkt zuzulassen.3 Nach dem Titel eines Buchs des Autors und Hochschulprofessors Christian Stöcker könnte man zusammenfassen: »Das Experiment sind wir.«4
Aber es hilft nicht weiter die realen und konkreten Gefahren, die sich aus einer unkontrollierten und unkontrollierbaren KI ergeben, zu relativieren. Schon jetzt entsteht ein unkontrolliertes Netz aus sozialen Medien, KI und Bots, die Effekte auf uns haben, die wir noch nicht absehen können.
Wenn die künstliche Intelligenz nun in der Lage ist, die unangenehmen, die langweiligen, die basalen Kompetenzen zu übernehmen, ergibt sich daraus ein fundamentales Problem für alle, die lernen oder das Lernen ermöglichen wollen. Für das Bildungssystem insgesamt, die Schulen, aber auch die einzelnen Schülerinnen und Schüler, Studierenden und Eltern. Dies ist nicht auf Deutschland beschränkt. Alle Länder der Welt stehen vor derselben Herkulesaufgabe (sofern man nicht, wie etwa die chinesische Regierung, schon seit Jahren Kurse im Umgang mit KI anbietet5). Denn wie soll jungen Menschen deutlich gemacht werden, dass Lernen sie persönlich, kulturell, finanziell und gesellschaftlich weiterbringt, unabhängig und mündig macht, wenn der Weg, der sie ans Ende eines solchen Lernens bringt, sehr viel leichter von einem digitalen Assistenten übernommen werden kann?
Und nicht nur im Bereich der technischen Entwicklung haben wir es mit einer schwer zu fassenden Beschleunigung zu tun: Die Große Beschleunigung – ein Begriff, der laut Christian Stocker darauf hinweist, dass sich »eine ganze Reihe von Kennzahlen und Messwerten […] seit vielen Jahren exponentiell verändert, das heißt, in absoluten Zahlen betrachtet: immer schneller.«6 In einem solchen Zeitalter zu lernen, bedeutet auch, die Zusammenhänge so zu verstehen, dass wir auch weiterhin auf dieser Erde leben können.
Jeder, der durch eigene Neigung oder beruflichen Zwang weiterlernen muss, wird zustimmen, dass es nicht um einen Abschluss des Lernens geht. Auch wenn der deutsche Begriff genau das glauben machen will: Abschluss. Doch gerade in einer sich so schnell verändernden Welt ist es zentral, immer weiter zu lernen. Aber wie sollen junge Leute, denen erklärt wird, dass ein Zertifikat am Ende der Schullaufbahn Bildung darstellt, erkennen, dass es eigentlich erst um den Anfang geht? Viele Eltern werden schon jetzt die Diskussion am Esstisch kennen, in der sich alles darum dreht, warum zum Teufel Aufgaben abgearbeitet werden sollen, die doch der digitale Assistent viel besser und schneller bearbeiten kann. Oder deren Sinn gar nicht erst erkannt wird. Verliert man diese Diskussion und spielt die Autoritätskarte, mag das Kind die Hausaufgaben machen. Zum frohen Lernenden wird es dadurch nicht.
Damit verkehrt sich der Vorteil von KI (und im Grunde auch der zahlreichen Lernvideos, Plattformen und Kommunikationsmöglichkeiten) ins Gegenteil. Denn die Potenziale sind enorm. Es kommt aber auf die Phase an, in der man sich – in der Ausbildung, beim Lernen oder innerhalb der Arbeit – befindet. Genau weil man die scheinbar einfachen Aufgaben nicht mehr selbst bewältigen muss, erlernt man sie gar nicht mehr. Die Gefahr ist, dass dies so weit geht, dass man sie auch mit Hilfe nicht mehr lernen kann, wenn man es muss. Im übertragenen Sinn könnte man es so sagen: Während man sich also noch über den elektrischen Akku des neuen Fahrrads freut, verlernt man, überhaupt zu fahren.
Das Problem dabei sind Schulen, deren Selbstverständnis auf Instruktionen, auf einen vorgeplanten (oder schlimmer: ungeplanten) Unterricht basiert. Anders formuliert: Wenn jener Ort, der dafür da ist, dass man Bildung erfährt, nichts weiter bietet als gleichgeartete Erklärungen, in denen der Einzelne nicht die Möglichkeit hat, sich großartig zu orientieren, geschweige denn seine eigenen Schwerpunkte zu setzen, macht er sich überflüssig. Das individuelle Lernen muss dann zu Hause passieren.
Dieses Selbstverständnis wird von Generation zu Generation weitergegeben, weshalb sich das System selbst erhält. Gerade im Referendariat geht es immer noch oft um perfekte Stunden, die genauestens geplant und nach strengem Takt durchgeführt werden. Die Konsequenz: immenser Druck für die Lehramtsanwärter, die zum Teil von Selbstaufopferung und Erniedrigung berichten.7 Mit anderen Worten: Die neue Generation der Lehrkräfte scheitert nicht selten an einem Anspruch, der im Grunde völlig überholt ist. Und einem, der Lernen nach Hause verlagert.
Geschieht Lernen aber nur dort, profitieren die, denen geholfen werden kann. Oder deren Eltern sich die beste Nachhilfe leisten können. Die anderen lassen sich die Arbeit von einer KI oder weiteren Tools abnehmen und merken zu spät, dass Lernen eigentlich das Großartigste ist, das der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Weiterentwicklung geschehen kann. Und dass ein solches Lernen im besten Fall zu Bildung führt, einer Bildung, die nicht abgeschlossen ist. Denn jede Form der Bildung, die nutzbar gemacht werden kann, ist die Grundlage für einen nächsten, vielleicht höheren Schritt. Somit ist Bildung die Voraussetzung für ihre eigene Erweiterung.
Deshalb ist meine These denkbar einfach: Schulen müssen Orte des Lernens sein. Oder sie müssen es werden. Oder: Das Lernen muss ins Zentrum von Bildung.
Das klingt einfach, ist aber schwer. Das Lernen ins Zentrum zu bringen, bedeutet nämlich eine Veränderung aller Ebenen schulischer Bildung. Warum und wie das aussehen kann, ist Teil dieses Buchs. Und zwar innerhalb und außerhalb der Schule, zu Hause und, im Großen, im gesamten Schulsystem.
Es soll aber nicht nur darum gehen. Die Sinnhaftigkeit dessen, was wir Bildung nennen, wird zudem auf den Prüfstein gestellt. Gefragt wird, ob sie für junge (und alte) Menschen relevant ist. Relevanz bedeutet nicht (nur) Nützlichkeit. Relevanz bedeutet auch Verständnis, dass der Gegenstand einen bewegt und berührt. Dass man also weiß, warum man etwas tut und dies auf eine Weise, die die Gefühle berührt. Das mag sich abstrakt anhören, ist jedoch Kern von Bildung.
Doch nicht nur das Bildungssystem wird in diesem Buch unter die Lupe genommen, auch wenn der erste Teil mit seinen zunächst naiv wirkenden Fragen an die einzelnen Elemente dieses Systems versucht, scheinbar unverrückbare Säulen der Schule kritisch zu beleuchten. Dies bildet die Grundlage, um abzuwägen, was überdacht, verändert, aber auch beibehalten werden sollte.
Ich beschäftige mich zudem damit, wie Lernen überhaupt initiiert werden und wie jeder Einzelne Teil eines solchen Lernens sein kann. Das gilt für den Unterricht, die Schule, aber...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 10 dinge, die ich an der schule hasse • 2024 • Aladin El-Mafaalani • alles ist schwer, bevor es leicht ist • Bettina Stark-Watzinger • Bildung • Bildung buch • Bildungskatastrophe • Bildungsmisere • Caroline von St. Ange • Chancengleichheit • Daniel Jung • der tanzende direktor • Dietrich Schwanitz • eBooks • Eltern • Gesundheit • Lehrermangel • Lernen • let’s rock education • Markus Lanz • markus lanz gäste heute • Mythos Bildung • Nachhilfe • Netzlehrer • Neuerscheinung • Pädagogik • PISA-Studie • Schule • Schulsystem • twitter lehrerzimmer • verena friederike hasel • wie lernen gelingt |
ISBN-10 | 3-641-31192-6 / 3641311926 |
ISBN-13 | 978-3-641-31192-6 / 9783641311926 |
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