Israel, 7. Oktober (eBook)
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492083-2 (ISBN)
Trauer: Eine Einführung
Es gibt im Judentum die Tradition des »Schiwa-Sitzens«. Das ist eine rituelle Trauerzeit, in der nach dem Tod eines Menschen dessen nahe Angehörige zusammenkommen. Der Begriff geht zurück auf das hebräische Wort »sheva« (sieben), und so viele Tage dauert auch die Trauerzeit.
Im Buch Genesis (50,10) halten Josef und »sein ganzes Haus«, nachdem er seinen Vater Jakob begraben hat, »eine sehr große, würdige Totenklage; sieben Tage hielt er um seinen Vater Trauer«. Der Prophet Hiob verliert seine Frau, seine sieben Söhne und drei Töchter. Daraufhin kommen seine Freunde, setzen sich mit ihm auf die Erde – in den Staub – und versuchen sieben Tage und sieben Nächte lang, ihn zu trösten.
Auch Jahrtausende später läuft in den Ländern der Bibel ebenso wie in jüdischen Gemeinden weltweit das Ritual noch immer nach demselben Muster ab.
Die sieben Tage der Trauer beginnen mit dem Tag der Beerdigung, wenn sich die nächsten Angehörigen »zusammensetzen«. Während dieser Zeit ist alles, was irgendwie mit der täglichen Routine zu tun hat, verboten. Die Trauernden dürfen weder arbeiten noch kochen, weder das Haus putzen noch baden. Sie sollen im Heim des oder der Verstorbenen so nah am Boden sitzen wie möglich, ein Sinnbild für die Tiefe ihrer Trauer. Die Tür muss immer offen stehen für Freunde und Nachbarn, die »Trostspender«. Deren Rolle besteht darin, der Familie die Alltagspflichten abzunehmen. Auf Vergnügungen sollen die Trauernden in diesen Tagen verzichten. Sie sollen ihre Kleider zerreißen, was den Riss in ihren Seelen zum Ausdruck bringt und auch auf die Bedeutungslosigkeit von weltlichem Zierrat verweist. Sogar die Spiegel werden verhängt, damit niemand von Äußerlichkeiten abgelenkt wird, statt den Blick auf sein Inneres zu richten. Die Trauernden dürfen nicht mit Worten gegrüßt werden, in denen der Wortstamm »Shin-Lamed-Mem« enthalten ist, der dem hebräischen »Schalom« (und dem arabischen »salām«) zugrunde liegt. In der Trauerzeit soll man keinen Frieden suchen. Am siebten und letzten Tag sind die, die gekommen sind, um ihr Beileid auszusprechen, aufgerufen, die Trauernden »aufzuwecken« und ihnen zu helfen, sich zu erheben. Die Trauer, die dominanteste aller Empfindungen, muss zu einem formellen Ende gebracht werden.
Sieben ganze Tage, die Zeitspanne, in der Gott die Welt und alles Lebendige erschuf, reicht uns Menschen schon kaum aus, um ein einzelnes Leben zu betrauern, unsere Klage hinter uns zu lassen.
Das Judentum, das jeden Aspekt des menschlichen Lebens von der Geburt bis zum Tod durch Ge- und Verbote reguliert, bietet wenig Orientierung in der Frage, wie sich eine Schiwa nach einem Massaker wie dem vom 7. Oktober 2023 – auf Hebräisch »shiva b’October« – oder dem Krieg, der ihm folgte, gestalten ließe.
Wenn jemand an ein und demselben Tag Sohn, Tochter, Mutter und Ehemann verloren hat, sollten sie dann alle zusammen betrauert werden oder in einer bestimmten Reihenfolge? Sollte man für jeden Einzelnen sieben Tage Schiwa sitzen oder für alle zusammengenommen eine Woche? Was macht man, wenn man keinen Leichnam zum Begraben hat? Oder wenn der Leichnam nicht herausgegeben wird? Soll man dann die Trauerzeit ohne eine Beerdigung beginnen oder warten, bis der Leichnam da ist? Was ist, wenn vom Leichnam nur noch Einzelteile übrig sind – soll man das Einzelteil dann begraben und um einen abgerissenen Arm oder einen Zahn trauern? Was können die Trostspender noch tun, wenn sie selber in Trauer sind? Und schließlich, wie lässt sich das Ende der Schiwa markieren, wenn da kein Alltag mehr ist, in den man zurückkehren kann – vor allem mitten im Krieg?
Mit dem Schreiben dieses Buches, für das ich Hunderte trauernde Eltern und Kinder, Überlebende und Ersthelfer befragte, suchte ich nach Antworten auf diese Fragen – nach einer Möglichkeit, angemessen zu trauern und weiterzuleben, nach einer Möglichkeit, wieder Schalom sagen zu können.
Am 7. Oktober 2023 – einem Schabbat und gleichzeitig dem Feiertag Simchat Tora, dem letzten Tag des Laubhüttenfestes – starteten Mitglieder der Hamas gemeinsam mit Verbündeten vom Palästinensischen Islamischen Dschihad sowie acht weiteren Gruppen eine Operation, auf die sie sich mindestens drei Jahre lang vorbereitet hatten. Sie durchbrachen die Grenze zu Israel und griffen vom Land, vom Meer und von der Luft aus an, schlachteten wahllos Zivilisten ab und sorgten für einen der schlimmsten Terrorangriffe in der neueren Geschichte und, wie Präsident Joe Biden es ausdrückte, »den vernichtendsten Tag für die Juden seit dem Holocaust«.
In weniger als vierundzwanzig Stunden brachten rund dreitausend Terroristen es fertig, das Leben von mehr als tausendzweihundert Menschen auszulöschen und etwa zweihundertfünfzig zu entführen – die meisten davon israelische Männer und Frauen, aber auch Angehörige von mehr als dreißig anderen Nationen. Zivilisten vom Säugling bis zur Rentnerin, die gerade erst aufgewacht waren an diesem Morgen, wurden niedergeschossen, erstochen oder lebendig verbrannt, gefoltert und vergewaltigt, ihnen wurden gezielt Gliedmaßen abgehackt – und diese Szenen aus der Hölle waren dann auch noch zeitnah im Internet mitzuverfolgen, gepostet in alle Welt von den Terroristen. Ganze Gemeinden wurden vernichtet, und Hunderttausende von Israelis waren gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen und Flüchtlinge im eigenen Land zu werden.
Nach dem Massaker zog Israel mit beispielloser Härte gegen Gaza in den Krieg, mit dem Ziel, die Hamas ein für alle Mal unschädlich zu machen, eine Terrororganisation, die geschworen hat, Israel auszulöschen, die seit fast zwanzig Jahren in Gaza regiert und sich bei der Zivilbevölkerung dort unentbehrlich gemacht hat.
Aktuell sind in diesem Krieg, nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza, schon mehrere Zehntausend Palästinenser ums Leben gekommen. Viele von ihnen waren unschuldige Zivilisten, darunter Tausende Kinder. Den Vereinten Nationen zufolge wurden fast zwei Millionen Palästinenser aus ihrem Zuhause vertrieben und etwa 70 Prozent der Häuser zerstört, einschließlich der meisten Krankenhäuser, Märkte, Schulen und Moscheen. Der Preis, den die ganz normalen Bewohner des Gazastreifens bezahlen, ist unfassbar hoch: Vertrieben und vielfach in provisorischen Zeltstädten an der ägyptischen Grenze zusammengepfercht, müssen sie Hunger und Dehydrierung ertragen, ebenso wie Krankheiten, die auf fehlende Gesundheitsfürsorge und sanitäre Einrichtungen zurückzuführen sind. Männer, Frauen und Kinder, die nichts mit den Verbrechen der Hamas zu tun hatten, zahlen am Ende den höchsten Preis. Für sie ist selbst das Gebot, ihre Toten zu betrauern, unter Beschuss geraten. Der Tod und das Leid so vieler Unschuldiger sind nicht hinnehmbar.
Ich bin Tochter und Enkelin von Flüchtlingen und Überlebenden des Holocausts. Ich bin Jüdin. Ich bin Israelin. Und ich bin eine Frau, Feministin, Journalistin und gehöre aus tiefer Überzeugung zu jener Seite, die sich für die Rechte aller Völker zwischen Jordan und Mittelmeer einsetzt, jener Seite, die noch immer den Traum von zwei Staaten für zwei Völker träumt, die Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern gleichermaßen Demokratie und Menschenrechte garantieren.
Seit fast zehn Jahren arbeite ich als Journalistin für Haaretz, Israels älteste und angesehenste Tageszeitung – und die einzige hebräischsprachige Zeitung, die konsequent immer auch über arabische und palästinensische Themen berichtet und die Bürgerrechte israelischer Minderheiten verteidigt hat. Bevor ich die Klimakorrespondentin des Blattes wurde – und versuchte, dem Nahen Osten die Augen zu öffnen für seine schlimmste existenzielle Bedrohung –, war das Sozialwesen mein Themenschwerpunkt gewesen. Das brachte es mit sich, dass ich Menschen hauptsächlich in für sie besonders schmerzlichen Momenten kennenlernte, als Opfer von Vorurteilen, häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen. Ich schrieb über Asylsuchende, die sich mit diskriminierender Bildungs- und Wohnungspolitik herumschlagen mussten; über LGBTQ-Personen, die sich veralteten Ehegesetzen zum Trotz um eine Adoption bemühten; ich schrieb über schlimme Umweltsünder, Klimawandelleugner und staatliche Behörden, die Holocaust-Überlebenden die Leistungen vorenthielten, die ihnen von Rechts wegen zustanden.
Manchmal führten meine Recherchen am Ende zu einer Änderung in der Politik oder sogar zu einer neuen Gesetzgebung, und ich verstand meine Arbeit immer mehr als eine Art Interessenvertretung der Bürger. Wenn die Opfer der Politik in den Schlagzeilen sind, lassen sie sich nicht mehr so leicht ignorieren. Im Laufe meiner beruflichen Laufbahn lernte ich so ziemlich alle Stränge der israelischen Gesellschaft kennen: Juden, Araber, Beduinen, Äthiopier, Eritreer, Sudanesen, Chinesen, mit besonderem Blick auf die an den Rand Gedrängten, die Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft in Israel gering geschätzt werden.
Meiner Erfahrung nach berichten die meisten Journalisten – und so steht das dann später auch in den Geschichtsbüchern – über die Großtaten der Mächtigen aus der Perspektive der Mächtigen. Die politische Berichterstattung speist sich allzu oft aus Zitaten von Politikern und nicht aus Aussagen der Menschen, die am stärksten die Auswirkungen der Politik zu spüren bekommen. Berichten über das Militär liegen in der Regel Zitate von Generälen und Militärsprechern zugrunde, nicht von normalen Soldaten und ganz...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Nachwort | Joshua Cohen |
Übersetzer | Sigrid Schmid, Cornelia Stoll, Maria Zettner |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anti-Israelismus • Antisemitismus • Besetzte Gebiete • Gazastreifen • Gedenken Terroropfer • Hamas Angriff • Hisbollah • israelisch-Palästinensischer Konflikt • Kibbuzim Überfall • Nahostkonflikt • radikaler islam • Terrorangriff gegen Israel • Terror gegen Juden |
ISBN-10 | 3-10-492083-4 / 3104920834 |
ISBN-13 | 978-3-10-492083-2 / 9783104920832 |
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