Eingetaucht: Das Tierwohl-Paradox (eBook)
112 Seiten
CE Community Editions (Verlag)
978-3-96096-455-1 (ISBN)
In seinem Studium der Tiermedizin erkennt Karim Montasser bald, dass es in dem Fach nicht um die Gesundheit der Tiere, sondern um die der Menschen und ihre Versorgung mit tierischen Lebensmitteln geht. Sachlich und empathisch erklärt der YouTuber und Moderator, wie das Tierwohl etwa in Zucht, Haltung und Schlachtung immer den Bedürfnissen des Menschen hintangestellt wird - teils mit drastischen Folgen. Der engagierte Veterinär zeigt auf, was sich ändern muss, damit Tierwohl Wirklichkeit wird.
<p><strong>Dr. Karim Montasser</strong>, online bekannt als<strong> DerTierarzt</strong>, studierte Veterinärmedizin. In seiner Praxis stellte er fest: Die Menschen haben viele Fragen! Daher klärt er seit 2018 auf seinem YouTube-Kanal »Der Tierarzt« über die komplexe Themenvielfalt seines Fachs auf. Zudem moderiert er die ARD-Sendung »Haustierprofis« und wurde jüngst mit dem Fast Forward Science Award ausgezeichnet. Karim ist der Mitbewohner einer Katze in der Nähe von Bonn.</p>
Speziesismus neu betrachtet
Das heutige Tierwohl-Paradox können wir nur verstehen, wenn wir ganz an den Anfang unseres Zusammenlebens mit Tieren gehen. Tiere so anzupassen, dass sie unseren menschlichen Bedürfnissen gerecht werden, begann vor vielen tausend Jahren. Im Sinne der Chronologie müssen wir einen wirklich riesigen Sprung wagen. Da hilft es, Anlauf zu nehmen, und dafür machen wir einen kleinen Zwischenstopp in die 1960er-Jahre. Hier hat ein britischer Psychologe einen der wichtigsten Begriffe im Tierschutz erfunden. Und zwar als Folge auf einen Protest gegen die Jagd auf Otter.
Ja, genau, die im Wasser lebenden Marder.
Diese Jagd ist extrem unfair gestaltet, und das selbst im Vergleich mit anderen, per se unfairen, Jagden. Eigentlich haben Menschen kaum eine Chance, einen Otter zu fangen. Die Tiere sind im Wasser viel zu schnell und wendig.
Wir Menschen haben aber seit dem Mittelalter ein großes Interesse am Pelz der Otter. Also haben wir uns Hilfe gezüchtet. Hilfe in Form eines anderen Tieres, dem Otterhound. Ein großer, felliger Hund mit Schlappohren und einem freundlichen Ausdruck. Der Job dieser Hunderasse ist es, ins Wasser zu gehen und einen Otter an das Ufer zu drängen. Der Otterhound ist groß, um auch tieferes Wasser durchwaten zu können, fellig, weil er dichte, wasserabweisende Locken hat, nur die Schlappohren und der freundliche Ausdruck dienen nicht direkt der Otterjagd. Bei der Jagd treten mehrere Otterhounds im Rudel gegen einen Marder an.
Am Ufer wartet dann jemand mit einem Dreizack (so eine Art überdimensionierte Fonduegabel) und spießt den Otter auf. Das ist überaus praktisch, da sich so kein Mensch die Füße nass machen muss.
Wie gesagt, die Otterjagd ist besonders unfair. Es ist also verständlich, dass Richard Ryder, der besagte Psychologe aus Oxford, gegen dieses »Brauchtum« protestierte: Er schickte Leserbriefe an die örtliche Zeitung. Wir sprechen also von einer kleinen, lokalen Protestaktion. Als er merkte, dass die Auswirkungen seiner postalischen Beschwerden begrenzt waren, suchte er nach einem neuen Weg für seinen Protest. Dies wiederum half einem anderen Herrn, weltberühmt zu werden.
Ryder druckte einige Tierschutz-Flugblätter und verteilte sie in Oxford. Auf diesen Flugblättern tauchte zum ersten Mal der Begriff Speziesismus auf. Der Psychologe beschrieb mit diesem Begriff die Überheblichkeit von uns Menschen gegenüber anderen Spezies. Konkret kritisierte er, dass wir bei Jagden und in Tierversuchen unser Wohl über das von »nicht-menschlichen Tieren« stellen. Speziesismus tauchte schließlich 1971 auch als Begriff in einem Essay von Ryder mit dem Titel Experiments on Animals 1 auf.
Ryder hatte darin die von ihm durchgeführten Tierversuche in seiner klinischen Forschungszeit damit begründet, dass die Versuchstiere dem Menschen nun mal sehr ähnlich seien. Ergebnisse lassen sich folglich wunderbar übertragen.
Wenn uns Tiere aber so ähnlich sind, warum sind dann Experimente
an ihnen in Ordnung und an uns Menschen nicht?
Eine simple Logik, die Ryder dazu veranlasste, keine Tierversuche mehr durchzuführen und schließlich den Begriff Speziesismus einzuführen.
Der Grund, dass Sie von Ryder noch nie gehört haben, heißt Peter Singer. Der bekannte Philosoph und Tierrechtler erfuhr von Ryders Wortneuschöpfung, als er das Essay für eine New Yorker Publikation rezensierte. Diese Rezension kam so gut an, dass Singer damit beauftragt wurde, zu dem Thema ein Buch aus philosophischer Sicht zu schreiben. Dieses Buch erschien 1975, heißt Animal Liberation 2 und ist bis heute ein Klassiker der Tierrechtsbewegung.
Übrigens fand Singer den Begriff Speziesismus unhandlich. Wir können daher froh über die deutsche Übersetzung sein: Artenarroganz. Dieser Begriff trifft den Punkt auch meiner Meinung nach besser als der Fachbegriff, denn damit wird der Grund für die Herabwürdigung anderer Arten direkt klar.
Der Begriff Speziesismus wurde im Laufe der Jahrzehnte bearbeitet und erweitert und steht heute weniger für die Bevorzugung von Menschen gegenüber Tieren als für die Bevorzugung einiger weniger Tierarten gegenüber anderen. Wie bei der Otterjagd, bei der die Otter Beute und die Otterhounds Mitjäger sind. Besonders gravierend kommt die Unterscheidung zwischen Tieren im Zusammenhang mit unseren Essgewohnheiten zum Tragen.
Manche Tiere gelten als Nahrungsmittel und andere als Freunde.
Schwein? Nahrung.
Hund? Freund.
Rind? Nahrung, und Milch auch lecker.
Katze? Schwierige Freundschaft.
Für das Thema dieses Buches ist die Artenarroganz sehr wichtig. Viele der Missstände gegenüber Tieren lassen sich darauf zurückführen, dass wir Menschen uns für wichtiger halten als so ziemlich alles andere auf diesem Planeten.
Ich vermute, dass Sie diesen Umstand genauso unbefriedigend finden wie ich. Denn wenn wir es bei »Tja, wir Menschen sind halt arrogant« belassen, haben wir uns ausreichend beschwert, dass es einen nicht zu ändernden Zustand gibt, und, naja, dann machen wir jetzt einen Punkt, und ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Netflix-Abend.
Spoiler: Die restlichen Seiten sind nicht leer, es kommt also noch was. Und zwar die Begründung für diese Arroganz und ein Ausblick, wie wir die Lage ändern können.
Domestizierte Freunde
Jetzt haben wir den Begriff Speziesismus eingeordnet und uns damit Schwung für unsere Zeitreise geholt. Tiernutzung beginnt mit der Domestizierung. Es folgt der Versuch, viele tausend Jahre Kulturgeschichte auf die für unser Thema wichtigsten Punkte herunterzubrechen.
Domestizierung beschreibt den Übergang von Wildformen zu Hausformen. Wir Menschen nehmen ein wildes Tier oder eine wilde Pflanze und formen über viele Generationen daraus eine für uns nützliche Hausform. Dieser Prozess ist für manche Tiere gut ausgegangen, für andere weniger.
Das bekannteste Beispiel für eine Domestizierung ist sicherlich der Weg des Wolfes hin zum Hund. Während ich dieses Kapitel schreibe, schaue ich über den Rhein hinweg nach Bonn-Oberkassel. Hier wurde in einem Steinbruch ein etwa 14.000 Jahre altes menschliches Grab gefunden.3 Neben menschlichen Überresten liegt in diesem Grab ein Hundeskelett. Das ist erst mal nicht außergewöhnlich für diese Zeit, denn die Domestizierung des Wolfes erfolgte schließlich in einem Zeitraum vor 40.000 bis 15.000 Jahren. Die Oberkasseler Grabstätte ist für unsere Menschheitsgeschichte deshalb besonders, weil der Hund für mindestens sechs Wochen vor seinem Tod an Staupe litt.
Diese Viruserkrankung ist auch heute noch extrem tödlich, kein Hund überlebt sechs Wochen ohne Hilfe. Die Vermutung ist daher, dass der begrabene Hund von Menschen versorgt und am Leben gehalten wurde. Das lässt auf eine enge Bindung schließen. Wie konnte der Wolf also zum Hund und schließlich zum besten Freund des Menschen werden?
Die zwei dominanten Thesen sind die des »kommensalen Aasfressers« und die »Haustier-Hypothese«.4
Mit kommensalen Aasfressern ist gemeint, dass wilde Wölfe sich selbst domestiziert haben. Kommensalen beschreiben Lebewesen, die bei anderen mitessen. Die ersten menschlichen Siedlungen lockten nämlich Wölfe an, die sich von Essensresten der Menschen ernährten. Nur die Wölfe mit wenig Angst vor Menschen trauten sich in die Siedlungen, damit fand also eine automatische Selektion auf »menschenfreundliche« Wölfe statt. Diese Wölfe mussten weniger selbst jagen, hatten also einen Vorteil gegenüber ihren menschenskeptischen Verwandten. Die Menschen tolerierten die Wölfe vermutlich, weil sie ein hervorragender Schutz vor anderen großen Jägern, etwa Säbelzahntigern, waren. Wölfe in Siedlungen warnten die Menschen durch Bellen vor Gefahren und waren daher gern gesehene Gäste.
Die Haustier-Hypothese schlägt einen völlig anderen Mechanismus der Domestizierung vor: Laut dieser Theorie fingen frühe Menschen Wolfswelpen und adoptierten sie. Auch hier wurden menschenfreundliche Wölfe bevorzugt, und über Generationen hinweg entstand eine besondere Wolfsform. Ein Wolf, der in seinem Jugendzustand verharrt, menschenfreundlich bleibt, sein Leben lang spielt und nie scheu wird. Unser moderner Hund.
Beide Hypothesen klingen erstmal plausibel, können aber eine wichtige Frage nicht beantworten. Warum der Wolf?
Aus heutiger Sicht ist der Wolf ein bedrohliches Tier und löst in vielen Menschen eine tief sitzende, wenn auch irrationale, Angst aus. Warum wurde also ausgerechnet der Wolf als allererstes Tier überhaupt domestiziert? Erst Jahrtausende später folgte die Domestizierung unserer heutigen Nutztiere (dazu kommen wir gleich).
Der aktuelle Wissensstand macht die Theorie des kommensalen Aasfressers wenig plausibel. Wir erinnern uns: Die Domestizierung des Wolfes liegt zwischen 15.000 und 40.000 Jahre zurück, das sagen uns genetische Untersuchungen. In dieser Zeit waren Menschen in kleinen nomadischen Gruppen organisiert und hatten kaum feste Siedlungen. Außerdem fielen in den wenigen temporären Siedlungen kaum Essensabfälle an, von denen sich Wölfe hätten ernähren können....
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Veterinärmedizin | |
Schlagworte | Antibiotikaeinsatz in der Tierzucht • der Tierarzt YouTube • Ethik • Haustierprofis • Massentierhaltung • Nachhaltige Tierhaltung • Ökologischer Fußabdruck Tierhaltung • Qualzucht • Sachbücher • Tierärzte und Tierschutz • Tiergesundheit und Lebensmittelqualität • Tiermedizinische Ethik • Tierschutzgesetze • Tierschutz in der Landwirtschaft • Tierwohlstandards • Umweltauswirkungen der Tierproduktion • Wirtschaft und Tierwohl |
ISBN-10 | 3-96096-455-2 / 3960964552 |
ISBN-13 | 978-3-96096-455-1 / 9783960964551 |
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Größe: 1,2 MB
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