Ausgeliefert (eBook)
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31208-9 (ISBN)
Orry Mittenmayer, geb. 1992, ist ausgebildeter Buchhändler und Politikwissenschaftler (B.A.) und lebt seit seiner Geburt mit einer Hörbehinderung. Er setzt sich im Gewerkschaftskontext ehrenamtlich für mehr demokratische Mitbestimmung ein und legt dabei einen besonderen Fokus auf den Niedriglohnsektor. ZEIT Campus wählte ihn 2018 zu einem der 30 wichtigsten Aktivist:innen unter 30, als Mitgründer der Kampagne »Liefern am Limit« erhielt er 2019 den Hans-Böckler-Preis der Stadt Köln.
Orry Mittenmayer, geb. 1992, ist ausgebildeter Buchhändler und Politikwissenschaftler (B.A.) und lebt seit seiner Geburt mit einer Hörbehinderung. Er setzt sich im Gewerkschaftskontext ehrenamtlich für mehr demokratische Mitbestimmung ein und legt dabei einen besonderen Fokus auf den Niedriglohnsektor. ZEIT Campus wählte ihn 2018 zu einem der 30 wichtigsten Aktivist:innen unter 30, als Mitgründer der Kampagne »Liefern am Limit« erhielt er 2019 den Hans-Böckler-Preis der Stadt Köln.
1 Kaltstart
»A riot is the language of the unheard.«
Martin Luther King jr.
Das erste Mal vergisst man nicht. Rudolfplatz, Köln. Ein sonniger Spätvormittag in der schönsten Stadt am Rhein, ich lehne lässig an meinem Bike und versuche, dabei nicht umzukippen. Ich starre auf mein Telefon und warte. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Anderthalb Stunden. Für Passanten wirke ich vermutlich wie jemand mit viel Tagesfreizeit und zu wenig Fantasie, um damit etwas Vernünftiges anzufangen. Ich weiß nicht, wie oft ich schon die App von Foodora angesteuert habe, um zu kontrollieren, ob sie auch wirklich funktioniert. Tut sie. Immer wieder, auch nach dem zehnten Check.
Foodora ist seit heute mein Arbeitgeber. Einer dieser Essenslieferdienste, die zurzeit, im Jahr 2015, versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Foodora beschäftigt Menschen wie mich, die ein eigenes Rad und ein Handy haben und zudem enorm verzweifelt sind. Leute, die dringend einen Job brauchen und nicht allzu lange fackeln. Auf der Foodora-App habe ich mich schon zu Beginn meiner »Schicht« eingeloggt und warte jetzt auf meine erste Order. Das heißt, ich warte darauf, dass mir auf der App angezeigt wird, in welchem Restaurant der Umgebung ich vorab bestelltes Essen abholen und wohin ich es im zweiten Schritt liefern soll. Und das möglichst schnell. Nach knapp zwei Stunden blökt mein Telefon plötzlich in erstaunlicher Lautstärke. Meine erste Order! Hastig öffne ich die App und checke die Adresse des Restaurants. Glück gehabt, der Laden liegt nur ein paar Hundert Meter von meinem Standort entfernt. Schneller Wischer nach rechts, schon habe ich mir den Auftrag gesichert. Meine Leute im Foodora-Hauptquartier wissen jetzt Bescheid: Der Neue legt los. Natürlich nehme ich den Auftrag an, es ist schließlich meine Premiere an meinem allerersten Tag als Rider. Und abgesehen davon, dass ich selbst langsam unruhig geworden bin, habe ich eh keine Wahl. Das hier ist jetzt schließlich mein Job. Und bei der kurzen Strecke wird das sicher ein Zuckerschlecken!
Little did I know.
Meine Foodora-App schlägt mir eine Route vor, an deren Ziel ein pinker Punkt blinkt. Okay, denke ich, das ist leicht. Dicker pinker Punkt gleich Restaurant. Nichts wie hin. Ich fahre gern Rad, schon immer, und wenn es mal ein bisschen zackig gehen soll, umso mehr. Bei Foodora, das ist mir gleich eingehämmert worden, muss es schnell gehen. 99 problems but tempo ain’t one. Und damit ich das nicht vergesse, gehört zu jeder Order von Foodora auch eine Zeitvorgabe. Gnade mir Gott, wenn ich sie bloß als freundliche Empfehlung auffassen sollte. Ich brettere also in halsbrecherischem Tempo über den Hohenzollernring und versuche, auf meiner ersten Fahrt nicht gleich den Großteil aller Verkehrsregeln zu ignorieren. Dass sich das im Laufe der nächsten Monate ändern wird, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Bei meinem zweiten Ampelstopp riskiere ich einen Blick auf das Telefon. Oh, oh, das wird knapp. Um die Bestellung im Restaurant abzuholen, sind großzügige zehn Minuten angesetzt worden, sechs davon sind schon rum. Um den Druck noch ein wenig zu erhöhen, teilt mir Google Maps mit, dass ich, falls ich die Absicht hätte, weiterhin so zu bummeln, erst in sechs Minuten am Ziel ankommen würde. Na wunderbar.
Fünf Minuten später stehe ich japsend und schwitzend vor der angegebenen Adresse. Sie befindet sich ganz in der Nähe der St.-Pantaleon-Kirche. Eine Minute habe ich aufgeholt – das ist super. Nicht so toll ist, dass nirgendwo ein indisches Restaurant zu sehen ist. Überhaupt kein Restaurant. Nur das Finanzamt Köln-Süd in seiner ganzen architektonischen Schönheit. Verdammt. Passiert das jetzt wirklich? Sollte ich auf meiner ersten Tour schon in Schwierigkeiten kommen? Ich verdränge für einen kurzen Moment, dass echte Ride-or-die-Kuriere nicht nach dem Weg fragen, und bitte Passanten um Hilfe. Aber ihnen ist hier auch noch kein indisches Restaurant aufgefallen. Kleinlaut rufe ich in der Foodora-Zentrale an und schildere meine Lage. Könne es sein, dass mit der Adresse etwas nicht okay sei?
»Moment«, antwortet mein Gesprächspartner freundlich, aber ich höre auch Desinteresse und unterschwelligen Ärger heraus. »Ich checke das gleich mal und schicke dir die Adresse dann via App.«
Zehn Sekunden später blökt mein digitaler Wegweiser wieder. Leider viel Lärm um nichts. Der pinke Punkt befindet sich immer noch genau an derselben Stelle wie vorhin und blinkt störrisch im altbewährten Rhythmus. Statt Pantaleonstraße steht da jetzt zwar Am Pantaleonsberg auf meiner Order, aber ansonsten hat sich nichts verändert. Immer noch kein Restaurant, immer noch die Kirche. Inzwischen bin ich fünfundvierzig Minuten über dem vorgegebenen Zeitlimit. Wo immer dieses verdammte indische Restaurant auch war – darin kühlten sich gerade Speisen im Wert von über fünfzig Euro auf ein zunehmendes Level der Ungenießbarkeit runter. Zum Ausgleich wurde mir dafür immer heißer. Vielleicht könnte ich das Restaurant anrufen und mir den Weg erklären lassen? Als ich noch dabei bin, die Nummer im Internet ausfindig zu machen, nehme ich aus den Augenwinkeln eines dieser typischen Hipsterpärchen wahr, die in der Regel über »authentisch-exotische« Gastronomie in ihrem Viertel Bescheid wissen. Und tatsächlich: Mit amüsierter Miene mustern sie erst mich und deuten dann auf eine Toreinfahrt rund fünfzig Meter weiter, die in einen Innenhof führt. Dort habe erst vor kurzer Zeit ein, wie sie mir erklären, »fantastischer Szene-Inder« eröffnet. Halleluja. Ich bedanke mich überschwänglich und eile mit Fahrrad und klobiger Lieferbox davon.
Endlich bin ich am richtigen Ort. Allerdings verbessert das die Gesamtsituation nur unwesentlich. Kaum betrete ich die gute Stube, werde ich auch schon von zwei wütenden Kellnern abgefangen:
»Sie sind über eine halbe Stunde zu spät dran«, sagt der eine.
»Über eine halbe Stunde«, wiederholt der andere.
Ich nicke, das kann ich nicht abstreiten.
»Wir mussten das Essen schon zweimal aufwärmen«, sagt der eine.
»Schon zweimal«, wiederholt der andere.
Ich zucke mit den Schultern. Die Lage entspannt sich erst, als ich den beiden mein Telefon mit der Foodora-Order und dem dicken pinken Punkt zeige. Die beiden Kellner schütteln mit dem Kopf und werden gleich eine Spur geschmeidiger. Es sei halt so, dass sie jetzt schon mehrmals Probleme mit Foodora hatten.
»Das Essen wird ständig zu spät abgeholt und landet dann maximal noch lauwarm bei unseren Kunden«, erklärt der erste mir. Klar, dass da die Bewertungen auf den Vergleichsplattformen in den Keller purzeln.
»Wir zahlen fast 25 Prozent unseres Umsatzes an Foodora«, schiebt der andere hinterher. »Das ist viel Geld und am Ende laufen uns trotzdem die Kunden davon.«
Okay, das ist ein Dilemma, das sehe ich ein. Allerdings fühle ich mich an meinem ersten Arbeitstag noch nicht so richtig verantwortlich für die Qualitätslücken im Geschäftskonzept meines neuen Arbeitgebers. Mein Dilemma besteht jetzt gerade eher darin, dass meine Lieferung mit jeder weiteren Minute, in der das Kellnerduo seine allgemeine Verstimmung zum Ausdruck bringt, ein wenig lappiger, kühler und somit ungenießbarer wird.
»Könnte ich jetzt los?«, frage ich also vorsichtig und deute auf die nur noch leicht dampfenden Tüten auf der Theke des Restaurants. Wortlos nimmt man mir meine Box aus der Hand und stapelt die in Papiertüten verpackten Speisen übereinander hinein. Ich werde ermahnt, die Box möglichst immer waagerecht zu transportieren. Zum guten Schluss bringen sie auch noch einige Suppen in sichtbar schlecht verschlossenen Plastikdosen herbei und quetschen sie in meine bereits leicht überladene Transportbox. Suppen?
»Das ist die Entschädigung für die lange Wartezeit. Unser Service, geht aufs Haus«, sagte der eine.
»Aufs Haus«, bekräftigte der andere.
»Ernsthaft? Verarscht ihr mich? Das geht doch mit Sicherheit in die Hose«, werfe ich ein und zeige auf den dünnen Streifen Tesafilm, mit dem die Suppenbehälter leidlich transportfähig gemacht werden sollen. »Ich muss das Ding da doch nur komisch anschauen, dann zerfällt es in alle Einzelteile. Das schwappt doch raus, das endet alles in einer schleimigen Katastrophe!«
Kellner eins wiegelt ab.
»Guck mal, mein Junge, ich sag’s noch mal: Du sorgst einfach dafür, dass du deine Box gerade hältst. Wenn da was passiert, soll mich der Blitz erschlagen und mein Laden in die Insolvenz gehen, bei allem, was mir heilig ist.«
Bleibt mir eine Wahl? Widerstand ist zwecklos, es ist meine erste Fahrt, mein erster Job. Wie würde es aussehen, wenn ich den gleich in den Sand setzen würde? Ich nehme die Suppen also seufzend an und mache mich so schnell wie möglich auf den Weg. Ich bestätige in meiner App, dass ich erstens das Essen entgegengenommen habe und dass es sich nun zweitens in meiner Transportbox befindet. Erst nach dieser geforderten Doppelbestätigung verrät mir meine App, wo genau der Kunde zu finden ist, der jetzt bereits seit einer Stunde auf sein Essen wartet. Es ist ein Start-up in der Innenstadt, ganz in der Nähe des Neumarkts. Finanzsektor. Okay.
Die Fahrt verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Keine Autos, die mich abdrängen wollen, keine Fahrradfahrer, die auf Tuchfühlung mit meiner klobigen Lieferbox gehen. Allerdings bin ich während der wilden Fahrt nicht ganz sicher, wie sich schlechte...
Erscheint lt. Verlag | 7.11.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aktivismus • Arbeitskampf • Arbeitsrecht • Arbeitsrechtsverstöße • Betriebsrat • Fahrradlieferdienst • Gewerkschaft • Inside-Bericht • Intersektionalität • Lebensmittellieferung • Lieferando • lieferdienst • Liefern am Limit • Solidarität • Soziale Gerechtigkeit • Wahre GEschichte • Wolt |
ISBN-10 | 3-462-31208-1 / 3462312081 |
ISBN-13 | 978-3-462-31208-9 / 9783462312089 |
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