Juvenile Szenen -

Juvenile Szenen (eBook)

Theoretische und praktische Zugänge für die Soziale Arbeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
178 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-038826-0 (ISBN)
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Juvenile Szenen sind nicht (mehr) nur Kindern und Jugendlichen vorbehalten - sie können auch für Menschen jenseits dieser Lebensphase bedeutsam sein. Entsprechend bieten Szenen wie die Rap-, die Graffiti- oder auch die Fan-Szene Ansätze für die Soziale Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Allerdings wurde die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit juvenilen Szenen lange Zeit durch soziologische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven dominiert. Um eine lebensweltliche Sichtweise zu ermöglichen, müssen sozialarbeitswissenschaftliche Zugänge integriert und auch in der Praxis verortet werden. Neben den Kategorien 'Jugend' und 'Identität' sind Partizipation und Gerechtigkeit sowie Politik und Kultur wichtige analytische Zugänge der Sozialen Arbeit, die in den Beiträgen dieses Bandes erörtert werden. Möglichkeiten praktischer Umsetzung bietet der zweite Teil des Buchs anhand ausgewählter Zielgruppen und Arbeitsfelder in multiperspektivisch und transdisziplinär angelegten Beiträgen. Grundlage dafür sind Praxisprojekte aus der Medienpädagogik, der politischen Bildung und der Kulturarbeit, aus der Graffiti-Szene, der Rap-Pädagogik und der Fan- bzw. der Ultra-Szene.

Dr. Sebastian Schröer-Werner ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sozialforschung an der Evangelischen Hochschule Berlin.

1 Juvenile Gesellungs- und Gesinnungsphänomene – Zugänge und Implikationen für die Soziale Arbeit


Sebastian Schröer-Werner

1.1 Einleitung


Der Beitrag erläutert den Begriff »Jugend« als analytische Kategorie, damit verbundene Gesellungs- und Gesinnungsphänomene und entfaltet Implikationen für die Soziale Arbeit. Dabei erfolgt eine Auseinandersetzung mit bezugswissenschaftlichen Ansätzen und Perspektiven sowie damit einhergehende Potenziale und Grenzen.

Jugend, die Lebensphase, in der nach gängiger Auffassung jugendkulturelle Zusammenhänge zu beobachten sind, wird häufig im Sinne einer »negativen Definition« als ein Status beschrieben, der nicht mehr als Kindheit und noch nicht als Erwachsenphase gedeutet wird (Lenz 1986: 104 sowie 1989: 14; Mansel/Griese/Scherr 2003: 21) und durch für diese Lebensphase typische Risikopraxen (Böhnisch 2012: 170 ff.) gekennzeichnet sein kann. Diese Sichtweise erweist sich jedoch als problematisch, denn es finden sich innerhalb jugendtypischer (im Folgenden: juveniler) Netzwerke und damit einhergehender Peer-Beziehungen Akteur*innen, die noch nicht oder nicht mehr als Jugendliche zu definieren sind, und zwar weder aus entwicklungspsychologischer noch aus sozialisationstheoretischer Perspektive. Zudem lässt sich die gegenwärtige Ausdifferenzierung sozialer Praxen nicht (mehr) ohne weiteres typisieren. Lebenswelten der Akteur*innen widersetzen sich also gängigen Kategorisierungen und theoretischen Zugängen von und zu Jugend. Außerdem verstellt diese eindimensionale Rahmung den Blick auf Potenziale juveniler Handlungspraxen, die sich u. a. in Szenen widerspiegeln. Dies soll im Folgenden erörtert und daran anknüpfend sollen Konsequenzen für die Soziale Arbeit diskutiert werden. Zuvor erfolgt ein Abriss über Sozialisationstheorien und analytische Konzepte zur Beschreibung juveniler Gesellungs- und Gesinnungsphänomene.

1.2 Jugend als Lebensphase


Beschäftigt man sich mit Ansätzen Sozialer Arbeit, in deren Mittelpunkt Akteur*innen stehen, die sich innerhalb von Szenen verorten bzw. sich mit diesen identifizieren, ist eine Auseinandersetzung mit dem Begriff »Jugend« und damit einhergehenden analytischen Konzepten und theoretischen Zugängen unerlässlich. Diese sind vielfältig:

  • eine Klassifikation anhand von Rechtsnormen, die mit dem Lebensalter korrelieren

  • eine Definition anhand des biologischen Alters

  • die Konzeption von Jugend als Phase der Sozialisation

  • die Betrachtung von Jugend als generative Einheit

Die Definition von Jugend anhand des Lebensalters ist für die Soziale Arbeit von besonderer Bedeutung, da sie expliziert Aufgabenbereiche definiert (und damit einhergehend auch deren Finanzierung tangiert). So findet sich bspw. eine Definition dieser Zielgruppe in § 7‍(1) SGB VIII, deren Geltungsbereich sich im engeren Sinne auf die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen und im weiteren Sinne auf junge Menschen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres erstreckt. Auch weitere Rechtsvorschriften sind an das Lebensalter gekoppelt: Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wird die Geschäftsfähigkeit sowie das aktive und passive Wahlrecht anhand gesetzlicher Normen definiert, das Jugendgerichtsgesetz (JGG) sieht vor dem Hintergrund es Kerngedankens »Erziehung statt Strafe« in Abhängigkeit von der sittlichen und geistigen Entwicklung der*des Delinquent*in eine Anwendung bis zum 21. Lebensjahr vor und definiert auch die Strafmündigkeit ab dem 14. Lebensjahr. Ferner finden sich Regelungen in Bezug auf den Kinder- und Jugendschutz in einer entsprechenden Verordnung, dem Jugendschutzgesetz (JSchG).

Eine weitere Möglichkeit, sich dem Begriff anzunähern, ist eine Definition aus biologischer Perspektive. Demnach fällt der Beginn von Jugend mit dem Einsetzen der Pubertät zusammen, die mit der Geschlechtsreife einhergeht und eine Veränderung des Körpers und der Körperwahrnehmung nach sich zieht. In einer entwicklungspsychologischen Rahmung ist damit die Phase der Adoleszenz als ein »psychosoziales Moratorium« (vgl. Erikson 2021 [orig. 1959]: 137 f.) verbunden. Dieses Moratorium (i. S. v. »Aufschub«) wird als eine durch die Gesellschaft zugestandene Karenzzeit verstanden, um experimentell die Erwachsenenrolle zu erlernen. »Klassische« Sozialisationstheorien sehen Jugend und den damit verbundenen Prozess der Sozialisation abgeschlossen, wenn die Erwachsenenrolle erfolgreich verinnerlicht wurde.

Hier zeigen sich Bezüge zu anthropologischen Ansätzen. So beschrieb der Schweizer Biologe und spätere Anthropologe Adolf Portmann (1969) den Menschen als »physiologische Frühgeburt«, der als »Lernwesen« ein »extra-uterines Frühjahr« durchlebe und auf einen »sozialen Uterus« angewiesen sei. Das heißt, dass Menschen im Gegensatz zu vielen Tieren zu Beginn ihres Lebens von ihrem sozialen Umfeld abhängig sind und sich erst in einem Lernprozess emanzipieren. Der Soziologe, Philosoph und Vertreter einer Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessner (1975) argumentiert ähnlich: Der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen und damit (Zeit des Lebens, aber besonders zu dessen Beginn) auf andere Menschen angewiesen. Arnold Gehlen, ebenfalls Soziologe, Anthropologe und Vertreter einer Philosophischen Anthropologie, begründet dies damit, dass Menschen im Vergleich zu Tieren eine geringere instinktive Absicherung des Verhaltens hätten und anstelle der Erbmotorik bei Menschen eine Erwerbsmotorik trete (ders. 1993 [1940]). Dies ist auch auf soziale Kontexte und damit einhergehend auch dem Erwerb sozialer Kompetenzen zu übertragen.

Die Bedeutung des Sozialisationsbegriffs ist aus historischer Perspektive einem Wandel unterworfen. So verstand der französische Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim darunter die Anpassung des Individuums an seine soziale Umwelt im Kontext einer »planmäßigen Sozialisation« (1972 [orig. 1922]). Dieses adaptive Verständnis verweist auf eine normative Zielsetzung des Sozialisationsprozesses, der durch eine Generation Erwachsener durch Erziehung – Durkheim versteht darunter »die Einwirkung, welche die Erwachsenengeneration auf jene ausübt, die für das soziale Leben noch nicht reif sind« (ebd.: 30.) – gezielt und mehr oder weniger bewusst gesteuert wird. Peter Berger und Thomas Luckmann unterscheiden dabei zwei Phasen: (1) die »primäre Sozialisation« als erste Phase, in der ein Mensch zum Mitglied einer Gesellschaft wird (Kindheit), und (2) die »sekundäre‍[] Sozialisation«, im Rahmen derer eine (primär) sozialisierte Person sich ab der Adoleszenz neue Ausschnitte sozialer Wirklichkeit erschließt (1980: 140 f.). Hurrelmann und Geulen sprechen in den 1980er Jahren bereits etwas allgemeiner von der Bildung des Menschen zu einem »sozial handlungsfähigen Subjekt« (1980: 51). Modernere Sozialisationstheorien sehen Sozialisation als einen lebenslangen Prozess an, der die Entwicklung von Menschen in einem Wechselwirkungsverhältnis von Anlage und Umwelt begreift (ebd.) und dabei dem Individuum als »produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt« eine aktive Rolle zugesteht (Hurrelmann 1983: 91 ff.).

Die Fokussierung von Sozialisationstheorien auf die Phasen der Kindheit und Jugend hat ihre Ursprünge in (Stufen-)‌Modellen der psychischen und psychosozialen Entwicklung von Menschen. Sigmund Freud als Begründer der Psychoanalyse beschriebt fünf Phasen der psychosexuellen Entwicklung (2004: 48 ff.). Während die ersten vier Phasen (orale Phase, anale Phase, phallische Phase und Latenzphase) mit der Phase der Kindheit korrelieren, fällt die genitale Phase mit der Pubertät zusammen. Talcott Parsons unternahm später den Versuch, dieses Stufenmodell in seine strukturfunktionalistisch begründete Sozialisationstheorie weitgehend zu integrieren (1956; vgl. dazu auch Tillmann 2004: 36). Er geht davon aus, dass die soziale Ordnung einer Gesellschaft durch Prozesse der Sozialisation reproduziert würden, und postuliert eine Übernahme bestehender Normen und Werte im Zuge einer »sukzessiven Internalisierung« (Parsons 1956: 42 ff.).

Der Schweizer Entwicklungspsychologe und Biologe Jean Piaget beschreibt Phasen der kognitiven Entwicklung (Kesselring 1999: 100 ff.), wobei das »formaloperationale Stadium« (11 bis 16 Jahre) in die Phase der Pubertät und damit gemäß klassischer Erklärungsansätze in die Phase der Jugend fällt (ebd.: 163 f.). Der deutsch-amerikanische Entwicklungspsychologe Erik Erikson, der durch psychoanalytische Ansätze geprägt war und diese weiterentwickelte, etablierte ebenfalls ein Stufenmodell, das sich jedoch auf den gesamten Lebenszyklus bezieht (ders. 2021 [orig. 1959]). Er beschreibt damit anhand von Krisen, die mit Dilemmata einhergehen, die psychosoziale Anthropogenese im Kontext der menschlichen Biografie. Zwei dieser Stadien (Adoleszenz und das frühe Erwachsenenalter) fallen nach dieser Lesart in die Jugendphase. Während die Adoleszenz durch das Gegensatzpaar »Identität vs. Identitätsdiffusion« geprägt...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-17-038826-6 / 3170388266
ISBN-13 978-3-17-038826-0 / 9783170388260
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