Das glücklichste Volk -  Daniel Everett

Das glücklichste Volk (eBook)

Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Pantheon (Verlag)
978-3-641-32889-4 (ISBN)
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Vom Missionar zum Bekehrten
Als Daniel Everett 1977 mit Frau und Kindern in den brasilianischen Urwald reiste, wollte er als Missionar den Stamm der Pirahã, der ohne Errungenschaften der modernen Zivilisation an einem Nebenfluss des Amazonas lebt, zum christlichen Glauben bekehren. Er begann die Sprache zu lernen und stellte schnell fest, dass sie allen Erwartungen zuwiderläuft. Die Pirahã kennen weder Farbbezeichnungen wie rot und gelb noch Zahlen, und folglich können sie auch nicht rechnen. Sie sprechen nicht über Dinge, die sie nicht selbst erlebt haben - die ferne Vergangenheit also, Fantasieereignisse oder die Zukunft. Persönlicher Besitz bedeutet ihnen nichts.

Everett verbrachte insgesamt sieben Jahre bei den Pirahã, fasziniert von ihrer Sprache, ihrer Sicht auf die Welt und ihrer Lebensweise. Sein Buch ist eine gelungene Mischung aus Abenteuererzählung und der Schilderung spannender anthropologischer und linguistischer Erkenntnisse. Und das Zeugnis einer Erfahrung, die das Leben Everetts gründlich veränderte.

Daniel Everett, geboren 1951 in Kalifornien, ist ein amerikanischer Sprachwissenschaftler. 1977 reiste er zum ersten Mal als Missionar zu den Pirahã in das brasilianische Amazonasgebiet, widmete sich jedoch bald nur noch der Erforschung ihrer Sprache und Kultur.

1Die Welt der Pirahã


Es war ein sonniger Morgen in Brasilien, dieser 10. Dezember 1977. In einem sechssitzigen Passagierflugzeug, das meine Missionsbehörde, das Summer Institute of Linguistics (SIL), zur Verfügung gestellt hatte, warteten wir auf den Start. Dwayne Neal, der Pilot, nahm vor dem Flug die üblichen Überprüfungen vor. Er ging um das Flugzeug herum und vergewisserte sich, dass die Ladung gleichmäßig verteilt war. Er suchte nach äußerlich erkennbaren Schäden. Er zog ein kleines Gefäß aus dem Kraftstofftank und sah nach, ob kein Wasser im Benzin war. Er prüfte den Propeller. Seine Routinekontrolle ist für mich heute genauso normal wie das Zähneputzen vor dem Weg zur Arbeit, aber damals war es das erste Mal.

Als wir bereit zum Abflug waren, dachte ich über die Pirahã nach, den Stamm der Amazonasindianer, bei dem ich leben würde. Was mache ich hier eigentlich?, dachte ich. Wie soll ich mich verhalten? Ich fragte mich, wie diese Menschen wohl reagieren würden, wenn sie mich zum ersten Mal sähen. Und wie würde ich auf sie reagieren? Ich würde mit Menschen zusammentreffen, die in vielerlei Hinsicht anders waren als ich – manche Unterschiede konnte ich vorhersehen, andere nicht. Nun ja, eigentlich flog ich nicht nur dorthin, um sie kennenzulernen. Ich kam als Missionar zu den Pirahã. Mein Gehalt und meine Reisekosten wurden von den evangelikalen Kirchen in den Vereinigten Staaten bezahlt, damit ich »die Herzen der Pirahã veränderte« und sie dazu brachte, den Gott anzubeten, an den ich glaubte. Sie sollten die Moral und die Kultur annehmen, die sich mit dem Glauben an den christlichen Gott verbinden. Obwohl ich die Pirahã noch nicht einmal kannte, war ich überzeugt, dass ich sie verändern kann und verändern sollte. Das ist der Hintergrund nahezu jeder Missionstätigkeit.

Dwayne nahm auf dem Pilotensitz Platz, und wir alle senkten die Köpfe, während er für einen sicheren Flug betete. Dann rief er »Livre!« (Portugiesisch für »Zurücktreten«) aus dem Pilotenfenster und ließ den Motor an. Während die Maschine warmlief, sprach er mit dem Kontrollturm von Porto Velho, und dann rollten wir zur Startbahn. Porto Velho, die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rondônia, sollte für mich zum Ausgangspunkt aller weiteren Reisen zu den Pirahã werden. Am Ende der nicht asphaltierten Piste beschrieben wir eine Kurve, und Dwayne gab Gas. Die Maschine beschleunigte, die rostrote Erde des cascalho (Schotter) verschwamm und blieb dann schnell unter uns zurück.

Ich sah zu, wie das gerodete Land rund um die Stadt dem Dschungel wich. Je zahlreicher die Bäume wurden, desto mehr schrumpften die freien Flächen. Wir flogen quer über den gewaltigen Fluss Madeira (Holz), und nun war der Wandel vollkommen: Ein Meer aus grünen, brokkoliförmigen Bäumen erstreckte sich in allen Richtungen bis zum Horizont. Mir fiel ein, wie viele Tiere da unten sein mussten, genau unter uns. Angenommen, wir stürzten ab und überlebten – würde ich dann von einem Jaguar gefressen? Es gibt viele Geschichten über Absturzopfer, die nicht durch den Unfall selbst, sondern von wilden Tieren getötet wurden.

Mein Ziel war eine der am wenigsten erforschten Bevölkerungsgruppen der Welt, die eine der ungewöhnlichsten Sprachen spricht – jedenfalls wenn man nach den Spuren urteilt, die enttäuschte Linguisten, Anthropologen und Missionare hinterlassen haben. Soweit man weiß, ist Pirahã mit keiner anderen lebenden Sprache verwandt. Ich wusste eigentlich nur, wie sie sich auf Tonband anhört und dass frühere Linguisten und Missionare, die sich mit dieser Sprache beschäftigt hatten, irgendwann zu anderen Forschungsgebieten übergegangen waren. Sie klingt ganz anders als alles, was ich jemals gehört hatte. Es schien, als sei diese Sprache völlig unzugänglich.

Je mehr wir an Höhe gewannen, desto kühler wurde die Luft, die aus der kleinen Düse über meinem Sitz kam. Ich versuchte es mir bequem zu machen. Während ich mich zurücklehnte, dachte ich darüber nach, was ich vorhatte und dass die Reise für mich eine ganz andere Bedeutung hatte als für die übrigen Passagiere. Der Pilot ging seiner täglichen Arbeit nach und würde zum Abendessen wieder zu Hause sein. Sein Vater war als Tourist mitgekommen. Mein Begleiter, der Missionar und Mechaniker Don Patton, machte einen Kurzurlaub von der anstrengenden Aufgabe, das Anwesen der Mission instand zu halten. Ich dagegen war auf dem Weg zu meiner Lebensaufgabe. Zum ersten Mal würde ich den Menschen begegnen, mit denen ich den Rest meines Daseins teilen wollte, Menschen, die ich hoffentlich mit in den Himmel nehmen würde. Dazu musste ich lernen, ihre Sprache fließend zu sprechen.

Als das Flugzeug von den Aufwinden des späten Vormittags – die für das Amazonasgebiet in der Regenzeit typisch sind – durchgerüttelt wurde, unterbrach eine akute Sorge unsanft meine Träumereien. Ich wurde reisekrank. Während wir in den nächsten 105 Minuten bei starkem Wind über den Regenwald flogen, war mir entsetzlich übel. Gerade als mein Magen sich wieder ein wenig beruhigt hatte, reichte Dwayne ein Thunfischsandwich voller Zwiebeln nach hinten. »Hat einer von euch Hunger?«, fragte er hilfsbereit. »Nein, danke.« Ich hatte noch den Geschmack von Magensaft im Mund.

Schließlich kreisten wir über der Landepiste nicht weit von dem Pirahã-Dorf Posto Novo. Der Pilot wollte sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Durch das Flugmanöver verstärkte sich die Zentrifugalkraft in meinem Magen, und ich musste meine ganze Willenskraft aufwenden, um mich nicht zu übergeben. Während einiger düsterer Augenblicke vor der Landung ging mir der Gedanke durch den Kopf, ein Absturz mit nachfolgender Explosion sei immer noch besser als diese ständige Übelkeit. Zugegeben: Es war ein recht kurzsichtiger Gedanke, aber er war einfach da.

Die Landepiste im Dschungel war erst zwei Jahre zuvor von Steve Sheldon, Don Patton und einer Gruppe junger Leute aus US-amerikanischen Kirchen gerodet worden. Um eine solche Urwaldpiste zu bauen, muss man zuerst einmal über tausend Bäume fällen. Anschließend müssen die Stümpfe entfernt werden, denn sonst verrottet das Holz im Boden, die Erde über dem Stumpf gibt nach, und ein Flugzeug verliert das Fahrwerk und vielleicht auch alle Passagiere. Wenn man die rund tausend Baumstümpfe – manche davon mit einem Durchmesser von einem Meter oder mehr – aus dem Boden geholt hat, füllt man die Löcher auf. Dann muss man dafür sorgen, dass die Landepiste so eben ist, wie man es ohne schweres Gerät bewerkstelligen kann. Wenn alles klappt, ist am Ende eine zwanzig Meter breite und 600 bis 700 Meter lange Piste fertig. Ungefähr diese Ausmaße hatte auch die Landebahn bei den Pirahã, auf der wir jetzt aufsetzten.

Am Tag unserer Ankunft stand hüfthohes Gras auf der Piste. Ob sich darunter Baumstämme, Hunde, Fässer oder andere Dinge befanden, die das Flugzeug – und uns – beschädigen könnten, wussten wir nicht. Dwayne »fegte« einmal über die Piste und hoffte, dass die Pirahã verstanden, was auch Steve ihnen erklärt hatte: Sie sollten hinlaufen und die Piste nach gefährlichem Müll absuchen. (Einmal hatten die Pirahã mitten auf der Piste ein Haus gebaut. Es musste erst abgerissen werden, bevor wir landen konnten.) Tatsächlich liefen mehrere Pirahã los, und wir sahen sie mit einem kleinen Baumstamm von der Piste kommen – er war nicht groß, aber wenn das Flugzeug bei der Landung darauf gestoßen wäre, hätte es sich überschlagen. Am Ende ging alles gut, und Dwayne legte eine sichere, glatte Landung hin.

Als die kleine Maschine schließlich zum Stillstand gekommen war, trafen mich die windstille Hitze und Feuchtigkeit des Dschungels mit voller Wucht. Benommen und blinzelnd stieg ich aus. Die Pirahã umringten mich, plapperten laut, lächelten und zeigten anerkennend auf Dwayne und Don. Don versuchte den Pirahã auf Portugiesisch klarzumachen, dass ich ihre Sprache lernen wollte. Sie sprachen zwar so gut wie kein Portugiesisch, aber ein paar Männer kamen auf den Gedanken, ich sei als Ersatz für Steve Sheldon gekommen. Auch Sheldon hatte geholfen, sie auf meine Ankunft vorzubereiten: Bei seinem letzten Besuch hatte er ihnen auf Pirahã erklärt, dass ein kleiner, rothaariger Bursche kommen und bei ihnen wohnen werde. Er hatte ihnen gesagt, ich wolle lernen, so zu sprechen wie sie.

Als wir den Pfad von der Landepiste zum Dorf entlanggingen, stand mir das Sumpfwasser zu meiner Überraschung bis zu den Knien. Ich trug das Gepäck durch das warme, schlammige Wasser, ohne zu wissen, wer oder was mich in die Füße und Beine beißen würde. Zum ersten Mal erlebte ich den Wasserstand des Maici am Ende der Regenzeit.

Eines ist mir von meiner ersten Begegnung mit den Pirahã am stärksten in Erinnerung geblieben: Alle schienen glücklich zu sein. Jedes Gesicht zierte ein Lächeln. Anders als so oft bei kulturübergreifenden Begegnungen wirkte hier niemand gleichgültig oder zurückhaltend. Die Menschen zeigten auf dies und das, redeten begeistert mit mir und wollten mich auf Dinge aufmerksam machen, die ich nach ihrer Ansicht interessant finden könnte: Vögel über unseren Köpfen, Pfade für die Jäger, die Hütten im Dorf, junge Hunde. Manche Männer trugen Kappen mit den Parolen und Namen brasilianischer Politiker, bunte Hemden und kurze Sporthosen, die sie von schwimmenden Händlern bekommen hatten. Die Frauen waren alle gleich gekleidet: kurze Ärmel, der Kleidersaum knapp über dem Knie. Ursprünglich hatten ihre Kleidungsstücke unterschiedliche, bunte Muster gehabt, aber jetzt waren die Farben vom blassen Braun des Erdbodens in ihren Hütten überdeckt. Kinder im Alter bis zu zehn Jahren...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Übersetzer Sebastian Vogel
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-641-32889-6 / 3641328896
ISBN-13 978-3-641-32889-4 / 9783641328894
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