ADHS: Medizin als Erziehungshilfe -  Roland Schleiffer

ADHS: Medizin als Erziehungshilfe (eBook)

Eine systemtheoretische Begründung der Popularität dieser Diagnose
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2024 | 1. Auflage
134 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8341-5 (ISBN)
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Es geht um den Versuch einer Erklärung für den 'Erfolg' der Krankheit ADHS. Demnach gerät bei manchen Kindern die Transition von der Familie hin zur Schule zum Problem, wird doch nun eine ungewohnte Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine explizit vorgenommene Wissensvermittlung verlangt. Die Komplexität dieses angesichts der enormen Bedeutung der Schule für den Lebenslauf brisanten psychosozialen Problems wird erfolgreich reduziert durch eine Medikalisierung, zumal diese auch eine handhabbare Problemlösung durch die psychopharmakologische Intervention mit Stimulantien verspricht.

Roland Schleiffer, Prof. Dr. med., Jg. 1947, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Psychotherapeutische Medizin und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie in der Heilpädagogik der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemische Entwicklungspsychopathologie, Bindungstheorie und Fremdunterbringung.

1ADHS – die Kontroverse


Der Freiburger Medizinhistoriker Eduard Seidler (2004, S. 239) beginnt seinen im Deutschen Ärzteblatt, dem offiziellen Standesorgan der deutschen Ärzteschaft, erschienenen Aufsatz „Von der Unart zur Krankheit“ mit den Sätzen: „Man muss in der Medizingeschichte weit zurückgehen, um eine vergleichbar heftige Kontroverse wie die um Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) zu finden. Parallelen gibt es im 19. Jahrhundert bei den Auseinandersetzungen um die Impfprophylaxe oder bei den Schlachten um Nutzen und Nachteil der Homöopathie.“

Die Formulierung des Aufsatztitels könnte suggerieren, dass die inzwischen Jahrzehnte währende Kontroverse, ob es sich bei den Kindern, denen eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (im Folgenden abgekürzt mit ADHS) attestiert wird, um kranke Kinder handelt oder doch eher um unartige Kinder, wie sie Heinrich Hoffmann (1809–1894) in seinem berühmten „Struwwelpeter“-Buch so anschaulich beschrieben und gezeichnet hat, inzwischen ausgestanden sei zugunsten der Option für „krank“. Dem ist allerdings keineswegs so. Nach wie vor gibt es Streit darüber, ob das unstrittig vorhandene Erziehungsproblem organischer Natur und somit letztlich auf eine suboptimale neurophysiologische Ausstattung des betreffenden Kindes zurückzuführen sei oder ob die kindlichen Verhaltensauffälligkeiten doch eher als Folge eines problembehafteten Erziehungsprozesses und somit als psychogen zu verstehen seien. Die Fragen scheinen ungelöst, ob es sich bei diesen Kindern um schwierige oder um kranke Kinder handelt (vgl. etwa Becker 2014) und ob es sich bei der ADHS „wirklich“ um eine Krankheit handelt (etwa Quinn/Lynch 2016).

Nach der Diagnose „Störung des Sozialverhaltens“ dürfte es sich bei der ADHS um die weltweit am häufigsten gestellte kinderpsychiatrische Diagnose handeln. Die volkswirtschaftlichen Kosten dieser Störung bzw. des Umgangs mit ihr sind jedenfalls enorm hoch (Schlander al. 2010; Cortese et al. 2023). Auch soll die ADHS das am intensivsten beforschte Störungsbild der Kinder- und Jugendpsychiatrie sein. Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema ist kaum noch zu überschauen. Allerdings wird auch kaum eine andere psychische Störung des Kindes- und Jugendalters so kontrovers selbst in der Öffentlichkeit diskutiert wie die ADHS. Der Kinderpsychiater Peter Riedesser (2014) sprach im Zusammenhang mit der ADHS von „einer der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie“.

So sorgte im Jahre 2012 ein im Der Spiegel1 erschienener Artikel für Aufsehen. In diesem Artikel, in dem es um den geradezu dramatischen Anstieg einiger psychiatrischer Diagnosen ging, zitierte der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech aus einem Interview, das der renommierte amerikanische Kinderpsychiater Leon Eisenberg im Jahre 2009 kurz vor seinem Tod gegeben habe. In diesem Interview habe dieser ADHS als „ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“ („fictitious disease“) bezeichnet.

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser strittigen Nosologie sind die hohen Prävalenz- und Inzidenzzahlen der ADHS und deren Anstieg in den letzten Jahrzehnten doch schon bemerkenswert. Die entsprechenden Zahlen nahmen sogar ein solches Ausmaß an, dass sich die deutschen Gesundheitsbehörden im Jahre 2010 zu einem Schritt gezwungen sahen, der insofern gänzlich ungewöhnlich war, als dieser einen Eingriff in die der Ärzteschaft grundsätzlich zugestandene Therapiefreiheit bedeutete. Da die Diagnose ADHS quasi-automatisch die medikamentöse Therapie mit Methylphenidat2 impliziert, einem Wirkstoff aus der Klasse der sogenannten „Stimulanzien“, denen ein nicht unbeträchtliches Suchtpotenzial zugeschrieben wird, verfügte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie. In dem Beschluss heißt es: „Die Diagnose einer ADHS muss danach künftig noch umfassender als bisher gestellt werden und die Verordnung von Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln darf nur noch von Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgen. Zudem muss die Therapie regelmäßig unterbrochen werden, um ihre Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der behandelten Patienten beurteilen zu können.“ https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/kindergesundheit/aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.html

Im Folgenden geht es um den Versuch einer Begründung sowohl für den „Erfolg“ des diagnostischen Konstrukts „ADHS“ als auch für die Heftigkeit der Kontroverse um diese Diagnose. Dabei wäre es zu einfach, gewissermaßen verschwörungstheoretisch ausschließlich oder auch nur überwiegend die Profitinteressen einer Pharmaindustrie ins Feld zu führen, welche die Dramatisierung, wenn nicht gar die Erfindung von Krankheiten („disease mongering“) zu ihrem Geschäftsmodell erkoren habe. Schließlich müsste eine solche Begründung die Frage aufwerfen nach den Umständen, welche die Profitchancen für die Pharmaindustrie so groß haben werden lassen, dass diese sich veranlasst sah, die entsprechenden Investitionen für die Produktion dieses Pharmakons auch vorzunehmen. Es ist mithin davon auszugehen, dass sich noch weitere Nutznießer einer solchen Medikalisierung eines zuvorderst pädagogischen Problems werden auffinden lassen.

In der Tat lässt sich der „Erfolg“ der Diagnose ADHS auf unterschiedliche Faktoren zurückführen. So verweist die ADHS-Diagnose auf systemrelevante Probleme des modernen Erziehungssystems. Schließlich lässt ein Kind, das nicht aufpasst und so den Mitteilungen seiner Pädagog:innen nicht die angemessene Aufmerksamkeit schenkt, die pädagogische Kommunikation kollabieren. Sodann verspricht diese Diagnose eine Problemlösung durch das Medizinsystem, das eine effiziente, pharmazeutikalisierende Erziehungshilfe anbietet. Überhaupt lässt sich die Heftigkeit der Kontroverse auch darauf zurückführen, dass hier durchaus auch Grundfragen der (Psycho-)Pathologie thematisiert werden, etwa die Frage der Definition von (psychischer) Krankheit.

Schon von daher kann von den nachfolgenden Ausführungen auch keine Lösung solch strittiger Fragen erwartet werden. Allerdings soll ein rationalerer Umgang mit diesen vorgestellt werden. Hierzu gehört insbesondere der Verzicht auf die doch allzu simplifizierende Dichotomisierung „krank oder ungezogen“.

Zunächst (Kap. 2) geht es um die Erfolgsgeschichte des vom Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann im Jahre 1845 verfassten Bestsellers „Der Struwwelpeter“ mit seinem vielleicht berühmtesten Protagonisten, dem „Zappel-Philipp“. In diesem Büchlein wird das unartige, weil unaufmerksame und zappelige Verhalten des „Zappel-Philipps“ so anschaulich und wiedererkennbar geschildert, dass über 100 Jahre später der Volksmund dem kinderpsychiatrischen Störungsbild der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) den Namen „Zappelphilipp-Syndrom“ gab. Im nächsten Kapitel (Kap. 3) wird das „klinische“ Erscheinungsbild der ADHS knapp zusammengefasst. Die Gültigkeit dieser Diagnose wird kritisch diskutiert. Zudem wird in einem Exkurs die durchaus komplizierte Geschichte dieser Diagnose referiert. Im Weiteren wird eine funktionale Analyse der Verhaltensauffälligkeiten bzw. -störungen vorgestellt. Diese Methode, die sich an dem Schema Problem/Problemlösung orientiert, kommt in der differenztheroretischen Systemtheorie Luhmannscher Prägung ein zentraler Stellenwert zu. Diese Theorietechnik begreift ein auffälliges oder störendes Verhalten nicht in erster Linie als ein Problem, das zur Suche nach möglichen Problemlösungen auffordert, sondern als einen, wenn auch suboptimalen, Problemlösungsversuch. Nach einer Darstellung dieser Methode (Kap.4) soll die Brisanz der durch das unaufmerksame und unruhige Schulkind hervorgerufenen Probleme für die moderne Schule aufgezeigt werden (Kap. 5). Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung gerät zu einer Schulkrankheit, welche die schulische Kommunikation auf ihrer selbstreferentiellen Seite gefährdet. Es wird die These expliziert, dass die hohe Prävalenz dieser Diagnose auf Probleme verweist, zu denen es bei der Transition von der Familie hin zur (Vor)schule kommt. Manche Kinder zeigen sich auf diesen Übergang unzulänglich vorbereitet, wenn sie kaum in der Lage sind,...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8341-9 / 3779983419
ISBN-13 978-3-7799-8341-5 / 9783779983415
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