ad Judith N. Shklar -  Hannes Bajohr,  Rieke Trimçev

ad Judith N. Shklar (eBook)

Leben - Werk - Gegenwart
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
284 Seiten
CEP Europäische Verlagsanstalt
978-3-86393-591-7 (ISBN)
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Judith N. Shklar gilt als wichtigste Theoretikerin des Liberalismus im 20. Jahrhundert und steht in ihrer amerikanischen Heimat gleichberechtigt neben Größen wie Hannah Arendt oder John Rawls. Bekannt vor allem für das Konzept des 'Liberalismus der Furcht' ist ihr Werk ungleich vielfältiger, umfasst ideengeschichtliche Studien nicht weniger als Reflexionen über Ungerechtigkeit und Staatsbürgerschaft. 'ad Judith Shklar' nimmt sich der Denkerin in ihrer ganzen Komplexität und in drei Schritten an: Eine ausführliche Werkbiografie gibt einen umfassenden Überblick über ihr Leben und Schaffen; sie erzählt die Fluchtgeschichte der Emigrantin Shklar während des Zweiten Weltkriegs sowie die Schwierigkeiten, denen sie als Frau in ihrer akademischen Karriere ausgesetzt war. Unter dem Titel 'Judith Shklar heute' untersucht der zweite Teil die Aktualität ihres Denkens am Beispiel von drei drängenden Themen: • Wie können in einer liberalen Demokratie die Stimmen der Opfer ungleich verteilter Macht gehört und repräsentiert werden? • Wie muss der Begriff politischer Ungerechtigkeit im Kontext der Klimakrise neu justiert werden? • Und wie lassen sich die aktuellen Fragen nach Flucht, Migration und Integration mit Shklars politischer Theorie verstehen? Eine detaillierte Bibliografie, die für das Studium ihres Werkes unerlässlich ist, schließt den Band ab. Judith Shklar, 1928 - 1992, war eine aus Riga stammende Politologieprofessorin an der Harvard University. Sie gilt als die wichtigste Theoretikerin des Liberalismus im 20. Jahrhundert.

Hannes Bajohr, 1984 in Berlin geboren, ist Übersetzer und Herausgeber der Werke Judith N. Shklars. Er wohnt in New York und Berlin und gehört zum literarischen Experimentalkollektiv oxoa. Publikationen und Herausgeberschaften.

1. Einleitung


Das Werk der amerikanischen Politiktheoretikerin Judith Nisse Shklar erscheint heute aktueller als bei ihrem Tod vor drei Jahrzehnten. Im September 1992, als Shklar wenige Tage vor ihrem 65. Geburtstag einem Herzinfarkt erlag, war der Kalte Krieg bereits an ein Ende gekommen, die ehemals mächtige UdSSR in fünfzehn unabhängige Staaten zerfallen und die DDR in der Bundesrepublik aufgegangen. Shklar bekam es noch mit: Der westliche Liberalismus hatte ganz offensichtlich triumphiert. Der Einzug der Marktwirtschaft und demokratische Reformen in Osteuropa würden den Kontinent freier und friedlicher machen, war die Hoffnung vieler westlicher Kommentator:innen. Mit ihrer charakteristisch skeptischen Haltung und der steten Mahnung, sich weder von offenbaren Fortschritten zu hoffnungsvoll stimmen zu lassen, noch die immerwährende Gefahr von Furcht, Grausamkeit und Unterdrückung zu vergessen, schien Shklar damals wie aus der Zeit gefallen.

Heute, dreißig Jahre später, ist die Situation eine völlig andere. Statt dem endgültigen Sieg des Liberalismus sehen wir einer erneuten Systemkonkurrenz entgegen. Die Hoffnung, dass sich in Europa und der Welt nun Frieden ausbreiten würde, ist enttäuscht worden. Bewaffnete Konflikte nehmen weltweit erneut zu und in der Ukraine findet „vor unserer Haustür“ ein Angriffskrieg statt. Die Mobilisierungserfolge populistischer Parteien und Politiker:innen in den USA und Europa haben die liberale Demokratie in den letzten Jahren eher als abgewirtschaftetes Modell denn als zukunftsfähiges System abgestempelt und ihr explizit die Drohung einer „illiberalen Demokratie“ entgegengesetzt. Und auch hierzulande wächst die Zahl jener stetig, die mit autoritären, nationalistischen und rechtsextremen, mit dezidiert antiliberalen Positionen liebäugeln.

Dass liberale Politik und liberales politisches Denken, sollten sie denn kein „Ende der Geschichte“ zeitigen, auch nur wünschenswert wären, ist heute umstrittener denn je. Im traditionalistischen Spektrum wird der Liberalismus eher als Dekadenzerscheinung betrachtet – sei es als angebliche Lizenz zur egozentrischen Nabelschau diverser Minderheiten oder als Mob gewordene Vollstrecker einer twitternden „Cancel Culture“. Dass sich auch Liberalkonservative dieser Kritik anschließen, zeigt zudem, wie unklar es ist, ob es den Liberalismus überhaupt gibt. Von links wird er, gern mit dem angehefteten Präfix „Neo-“, des Übels eines in die Verästelung aller Lebens-, Arbeits-, und Beziehungsbereiche vordringenden Kapitalismus bezichtigt oder als politisch zahnloser Quietismus, mitunter reine Besitzstandswahrung kritisiert. Triumphalismus sieht anders aus.

In dieser Situation wird Judith Shklar wieder neu entdeckt. Ihr Werk scheint wie geschaffen für einen Moment, in dem liberales Denken von allen Seiten unter Druck gerät. Vor allem ihr Essay „Der Liberalismus der Furcht“, veröffentlicht im Schicksalsjahr 1989, scheint als kraftvolle Artikulation eines selbstbewussten, dabei aber auf das Wesentlichste reduzierten Liberalismus geeignet, zweifelnden Liberalen Trost, Orientierung und sogar Kampfeswillen zu spenden. Dem Liberalismus der Furcht gehe es, so fasste Shklar denkwürdig und knapp diese mit Montaigne und Montesquieu beginnende Linie zusammen, nicht um positive Hoffnungen, sondern allein um die Vermeidung eines höchsten Übels: „Dieses Übel ist die Grausamkeit und die Furcht, die sie hervorruft, und schließlich die Furcht vor der Furcht selbst.“1 Das klingt nach einer zwar minimalen, aber doch eindeutig normativen Theorie, mit der Shklar Liberalen eine klare Handlungsregel an die Hand gibt. Mehr noch, diese Regel – eine Vermeidungsregel – ist durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und auch Shklars eigene Biografie unterfüttert. Geboren in eine jüdische Familie im Riga der Zwischenkriegszeit musste sie 1939 über Russland und Japan erst nach Kanada, dann in die USA flüchten. So scheint ihr eigenes Leben als Exilantin und Entkommene des Holocausts die Plausibilität ihrer liberalen Theorie zu verbürgen, die den Grausamkeiten der Gegenwart gewachsen ist.

Wenn das nicht falsch ist, so ist es doch verkürzt. Shklars Liberalismus – das ist die Annahme, die diesem Buch zugrunde liegt – formuliert weniger klare politische Handlungsanweisungen als eher eine Methode, politische Urteilskraft zu entwickeln. Mehr als einmal hat Shklar sich selbst als Skeptikerin bezeichnet: Ihre Zweifel richten sich vor allem auf die Annahme, dass man für den Bereich des Politischen überhaupt unumstößliche Regeln festlegen könne, die auf konkrete Situationen nur noch angewandt werden müssen. Ihr Buch Legalism (1964) wie auch die Studie Über Ungerechtigkeit (1992) sprechen beide von den Grenzen eines solchen regelgeleiteten Denkens: Weder das Recht noch die Ethik dürften allein nach dem Modell des Tribunals gedacht werden, vor dessen Autorität sich jeder Fall klar und für alle offensichtlich entscheiden ließe oder für dessen Entscheidungen jeweils eine Letztbegründung gegeben werden könne. Noch mehr gilt das für die Politik, die viel zu häufig in rechtlichen oder deontologischen, also in regelartigen Begriffen gedacht wird.

Regeln haben ihren Platz im normalen Gefüge moderner Gesellschaften, aber sie sind nicht alles, was es gibt – die grundsätzliche Ausrichtung eines Rechtssystems kann nur außerhalb seiner selbst gewährleistet werden und jede Ethik muss offen sein für Fälle, die nicht in ihr Raster passen. Statt auf Regeln zu setzen und ideale Systeme zu konstruieren, geht es vielmehr darum zu zeigen, dass niemand an der Politik vorbeikommt. Ihre hitzige Sprache besteht aus Aushandlungen, Machtentscheidungen, Kompromissen, Debatten und Protesten, nicht aus dem kalten, automatischen Kalkül eines Rechtsoder Moralformalismus, in dessen Rigidität die Welt ein für alle Mal verstanden, aufgeteilt und verarbeitet worden ist.

Dieses Buch behauptet, dass Shklars Projekt eher eine ausdauernde Übung in politischer Urteilskraft ist. Natürlich hat auch der Liberalismus der Furcht Maximen und Hoffnungen, die aber nur als Leitlinien für eine unendlich komplexe Wirklichkeit dienen. Politisches Denken ist für Shklar stets ein Denken im Bewusstsein der Bodenlosigkeit von Politik. In Abwesenheit von festen Regeln und letzten Sicherheiten zu handeln erfordert Urteilskraft, und um liberal zu handeln ist eine liberale Urteilskraft vonnöten, die nicht zuletzt die Verletzlichkeit von Personen und die Fragilität von Institutionen im Bewusstsein hält, auch wenn es gerade einmal aufwärts gehen sollte. Daher darf als Antwort auf die Frage „Was würde der Liberalismus der Furcht zu diesem Phänomen sagen?“ nicht mit Praxisrezepten gerechnet werden, sondern eher mit einer verfeinerten Beschreibung und einer Ein- und Abgrenzung von besseren und schlechteren Handlungsoptionen. Shklars Skeptizismus, an festen Regeln zweifelnd, zielt auf die genaue Beobachtung, die begriffliche Nuancierung und das politische Urteil, das immer wieder revidiert und angepasst werden muss, wenn neue Fakten aufzunehmen und vor allem neue, vorher ungehörte Stimmen zu hören sind.

Diese Abwesenheit von festen Handlungsregeln sollte aber kein Grund zur Enttäuschung sein. Im Gegenteil verleiht diese Perspektive Shklar eine Flexibilität, die sie zu einer dringend nötigen Vermittlungsfigur macht. Sie lässt sich weder einem auf die Bewahrung des Status quo ausgerichteten Liberalismus zuordnen, der liberale Politik auf die institutionelle Sphäre und die Gewährung von Rechtssicherheit beschränkt, noch zur identitätspolitisch-emanzipatorischen Linken. Was sie aber attraktiv macht, glauben wir, ist die Tatsache, dass sie auf eine produktive Weise zwischen den Stühlen sitzt und zwischen diesen Positionen vermitteln kann. Anders als der klassische Liberalismus ist Shklar hellhörig für die Artikulation von Ungerechtigkeiten durch Marginalisierte; und anders als die eher kommunitaristische Linke misstraut sie Gemeinschaften und hält am Individuum als Nullpunkt politischer Entscheidungen fest. Ihr Liberalismus ist gerade nicht minimalistisch oder konventionell, wie man nach der Lektüre ihres „Liberalismus der Furcht“ meinen könnte, sondern hat eine progressive, auf politische Gestaltung setzende Komponente, ohne utopisch zu werden.

Das zeigt sich exemplarisch an ihren Antworten auf drei Grundfragen des liberalen Denkens: Welche Rolle spielt der Staat in einem liberalen Gemeinwesen, und wie tief darf er in die gesellschaftliche Sphäre eingreifen? Wer ist ein:e Staatsbürger:in, und welche Anforderungen stellt ein liberales Gemeinwesen an diese Rolle? Und schließlich: Wie genau bewahrt liberales Denken in seinen Antworten auf diese Fragen den für es konstitutiven individualistischen Kern?

Für Shklar besitzt zwar der Staat das größte Potenzial zur Unterdrückung, doch muss heute Ähnliches zum Beispiel auch von mächtigen Konzernen befürchtet werden. Deswegen verteidigt Shklar staatliche Eingriffe in den Markt und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung als effektive Möglichkeit, solche...

Erscheint lt. Verlag 12.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-86393-591-8 / 3863935918
ISBN-13 978-3-86393-591-7 / 9783863935917
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