Israel: Hamas - Gaza - Palästina -  Wolfgang Kraushaar

Israel: Hamas - Gaza - Palästina (eBook)

Über einen scheinbar unlösbaren Konflikt
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
218 Seiten
CEP Europäische Verlagsanstalt
978-3-86393-656-3 (ISBN)
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Als die Hamas am 7. Oktober 2023 über 1200 Israeli ermordete, war auf einen Schlag der von den Nazis verübte eliminatorische Antisemitismus zurückgekehrt. Und das ausgerechnet auf dem Boden jenes Staates, der seiner Bevölkerung eine existentielle Sicherheitsgarantie gegeben hatte. Als Reaktion auf den Überfall ordnete die Regierung Netanyahu an, den Aggressor auszuschalten. Da sich dieser aber im Gaza-Streifen versteckt hielt, kam es dabei zu einer enorm hohen Zahl an Opfern unter den palästinensischen Zivilisten. Die Bilder, die seitdem um die Welt gehen, führten zu einem Aufflammen des Antisemitismus in einem kaum noch für möglich gehaltenen Ausmaß. Begleitet werden diese Reaktionen von uferlosen Debatten, die häufig affektbesetzt und von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gezeichnet sind. Wolfgang Kraushaar unternimmt es, die altbekannten, häufig antisemitismusverdächtigen Stereotypen von triftigen Argumenten zu trennen. Dabei geht es ihm nicht - jedenfalls nicht primär - um historische Rekonstruktionen, sondern darum, das diskursive Feld von Topoi, Narrativen und Metadebatten nach Maßgabe einer Unterscheidung zwischen den zivilisatorischen Minimalbedingungen auf der einen und der Präzisierung und Ausdifferenzierung der Problem- und Grenzfälle auf der anderen Seite zu ordnen.

Wolfgang Kraushaar, geb. 1948, promovierter Politikwissenschaftler, arbeitete von 1987 bis 2014 am Hamburger Institut für Sozialforschung und von 2014 bis 2023 an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Protestbewegungen und der linke Terrorismus. Zu seinen Standardwerken zählen 'Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus' (2005), 'Die RAF und der linke Terrorismus' (2006) sowie 'Die 68er-Bewegung International' (2018). Zuletzt erschien: 'Keine falsche Toleranz!' (2022) in der Europäischen Verlagsanstalt.

3.Wie wurde darauf reagiert?


Am Tag darauf, am Sonntag, wurde in Israel zum ersten Mal nach einem halben Jahrhundert erneut der Kriegszustand ausgerufen. Einen weiteren Tag später ordnete Verteidigungsminister Yoav Gallant die komplette Belagerung des Gaza-Streifens an. Zugleich gab er bekannt: „Kein Strom, kein Essen, kein Sprit, alles ist abgeriegelt.“ Das klang ganz so, als sollten die dort lebenden Menschen unterschiedslos von allem abgeschnitten werden, was sie zum Leben benötigten. Und dann spitzte er seine Aussage noch einmal weiter zu, indem er voller Verachtung ausrief: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“1 Und das alles pauschal gegenüber den palästinensischen Bewohnern insgesamt, ohne irgendeine Begrenzung auf die Hamas. Das war ein Akt der rhetorischen Dehumanisierung.

Der Haaretz-Kolumnist Gideon Levy kommentierte das mit den Worten: „Wenn ganz Gaza Hamas ist, wenn alle Terroristen sind, und keiner von ihnen als Mensch betrachtet wird, ist das immer der erste Schritt, um das Gewissen auszuschalten.“2 Es war jedenfalls ein fatales Signal. Die anschließend mehrfach zu hörende Berufung auf „das humanitäre Völkerrecht“ beim militärischen Vordringen klang in einem solchen Zusammenhang nur noch wie blanker Hohn. Auf Gallants Worte ließe sich erwidern, was das Gerede von der Humanität überhaupt noch solle, wenn man „gegen menschliche Tiere“ kämpfe.

Zwei Tage später bildete Ministerpräsident Netanyahu sein Kriegskabinett, in dem Gallant zusammen mit Benny Gantz, Ron Dermer und Gadi Eizenkot vertreten war. Als seine beiden Hauptziele deklarierte der Regierungschef die Auslöschung der terroristischen Hamas und die Befreiung der von ihr verschleppten Opfer. Wie es allerdings gelingen sollte, Geiseln freizubekommen und die Geiselnehmer gleichzeitig zu eliminieren, blieb sein Geheimnis.

Als erstes wurde der Gaza-Streifen vollständig abgeriegelt. Nicht nur, dass sämtliche Grenzübergänge geschlossen wurden und damit auf einen Schlag jene Palästinenserinnen und Palästinenser, die sich in Israel als Arbeitskräfte verdingt hatten, ausgesperrt waren. Weder kamen diejenigen, die tags hinüberwollten, hinaus, noch diejenigen, die wieder zu ihren Familien wollten, zurück. Sehr viel dramatischer entwickelte sich jedoch, was Gallant angekündigt hatte – ganz Gaza von der Wasser- und Stromversorgung sowie der Belieferung mit Lebensmitteln und Medikamenten abzuschneiden. Die 2,3 Millionen Bewohner wurden endgültig zu Gefangenen, die sich ihrem Schicksal ergeben mussten. Stimmen wurden laut, dass die israelische Regierung, die für sich ja in Anspruch nahm, ihre eigenen Geiseln unbedingt retten zu wollen, nun umgekehrt die gesamte, ohnehin in einer Enklave lebende palästinensische Bevölkerung als Geisel nehme.

Klar war, dass nun ein asymmetrischer Krieg von außerordentlicher Intensität beginnen würde, um die Hamas auszuschalten – mit zahllosen Bombardierungen des Gaza-Streifens aus der Luft und darauffolgenden Bodenoperationen der Armee. Dass es dabei zu hohen Opferzahlen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung kommen würde, schien unvermeidlich zu sein. Schließlich musste man davon ausgehen, dass sich die Hamas nicht nur in ihrem Tunnelsystem verbergen, sondern auch in öffentlichen Einrichtungen wie Kliniken, Schulen und anderem mehr verstecken würde. Doch die israelische Regierung, die nicht müde wurde zu beteuern, dass sie unnötige Opfer vermeiden wolle, bestand von Anfang an auf ihrem uneingeschränkten „Recht auf Selbstverteidigung“.

Für die israelische Gesellschaft ist seit dem 7. Oktober nichts mehr wie zuvor. Sie ist bis ins Mark erschüttert. Das zeigte sich auch an den Reaktionen von Holocaust-Überlebenden. Der 92-jährige Zvi Cohen etwa, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte, beklagte, dass der sonst in Israel zu hörende Schwur „Nie wieder“ nun seinen Sinn verloren habe. Viele von ihnen verglichen die von der Hamas verübten Massaker mit Pogromen, wie sie früher im zaristischen Russland und in der Ukraine verübt worden waren. „Die Überlebenden“, so der Psychiater Martin Auerbach, klinischer Direktor der Hilfsorganisation Amcha, in einem Interview, „haben jetzt mehr Albträume – vor allem von Dingen, die vor 80 Jahren passiert sind. Einige trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Viele horten Lebensmittel und sagen ihren Kindern und Enkelkindern: Bleibt nicht hier, sucht euch ein anderes Land.“3 Das alles beherrschende Thema war jedoch die Frage, wie man die Geiseln retten könne.

Immer wieder versammelten sich die Angehörigen der in den Händen der Hamas befindlichen Geiseln, um Druck auf ihre Regierung auszuüben. Demgegenüber spielte die sich schon bald abzeichnende humanitäre Katastrophe unter der Bevölkerung des Gaza-Streifens kaum eine bzw. gar keine Rolle. Weder in den Medien noch in der Öffentlichkeit insgesamt. Wer einen der Fernsehkanäle einschaltete, der befand sich wie in einer Endlosschleife über das Geiseldrama, erfuhr aber so gut wie nichts, was einigermaßen über die Ereignisse im Gaza-Streifen hätte informieren können. Die dort angerichteten Zerstörungen und das Leiden der Zivilbevölkerung wurden so weit als möglich ausgeblendet. Diese Fixierung auf die Lösung der Geiselfrage hat sich als ein ebenso tief- wie weitreichendes Problem erwiesen.

Die Tatsache, dass die überaus quälende Geiselfrage so gut wie die gesamte israelische Gesellschaft in Beschlag zu nehmen vermochte, ist zunächst einmal verständlich. Für die Angehörigen der in die nur schwer zu durchdringenden Tunnelanlagen Verschleppten, deren Familien, Verwandte und Freunde sowieso. Das Gefühl mehr noch als das bloße Wissen, dass sich eine Mutter, ein Vater, eine Tochter, ein Sohn, gar ein Kleinkind in den Händen einer Mörderbande befindet und es um eine Frage auf Leben und Tod in einem begrenzten Zeitfenster geht, dessen Ablaufdatum niemand kennt, ist einfach unerträglich. Ein solcher Zustand kann die Betreffenden bis an ihr Lebensende traumatisieren. Auch die Selbstvorwürfe, die sich diejenigen machen, die vielleicht nicht alles unternommen haben, was zur Rettung ihrer Liebsten nötig gewesen wäre, liegen auf der Hand.

Anders sieht es jedoch mit den nicht unmittelbar, sondern „nur“ mittelbar Betroffenen aus. Deren vorrangiges Problem besteht, wie für alle anderen in Israel lebenden Menschen natürlich auch, darin, dass das staatlich gegebene, politisch garantierte und militärisch umgesetzte Sicherheitsversprechen am 7. Oktober schlicht geplatzt ist. Für sie scheint die Geiselfrage, ohne ihnen damit in irgendeiner Form das gleichzeitig vorhandene Mitgefühl absprechen zu wollen, ein Projektionsschirm zu sein. Die von den Medien beleuchteten, landauf landab weitererzählten und häufig bis in ihre Details kommentierten Einzelschicksale halten die individuellen Dramen gegenwärtig und erlauben die auf die Zukunft gerichteten Befürchtungen aller zu artikulieren. In diesem Verarbeitungsprozess entsteht eine nach innen gerichtete, auf sich selbst zurückverweisende Sicht, in der der Holocaust als das Verbrechen schlechthin ständig präsent ist. Sie führt in ihrer Konsequenz offenbar dazu, dass es für die Opfer des eigenen Militärs, für die Abertausenden an Toten unter der palästinensischen Zivilbevölkerung keine oder aber nur eine untergeordnete Form der Aufmerksamkeit gibt. Das kann an der Sogwirkung dieses kognitiven Prozesses, aber auch an der emotionalen Überforderung und der damit verbundenen Erschöpfung liegen.

Es dauerte eine ganze Zeit lang, bis man bereit war, Zweifel am Vorgehen von Premierminister Netanyahu auch öffentlich auszusprechen. Es war schließlich ausgerechnet der inzwischen außer Dienst befindliche Mossad-Agent David Meidan, der die Aporie in der Gleichzeitigkeit von Auslöschungs- und Rettungsmaßnahmen ohne Umschweife direkt ansprach. Der 68-Jährige hatte es im Oktober 2011 geschafft, den sechs Jahre zuvor in den Gaza-Streifen verschleppten israelischen Soldaten Gilad Shalit endlich freizubekommen. Den Auftrag dazu hatte niemand anders als Premierminister Netanyahu erteilt. Doch der Preis für den von der gesamten Nation herbeigesehnten Schritt war hoch. Denn im Gegenzug mussten 1027 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freigelassen werden. Und unter ihnen befand sich ausgerechnet der spätere Hamas-Anführer Yahya Sinwar, der inzwischen als Chefplaner des martialischen Hamas-Überfalls vom 7. Oktober gilt. Im Blick auf die jetzige Situation stellte Meidan apodiktisch fest: „Wir können nicht die Hamas zerstören und gleichzeitig die Geiseln retten.“4 Außerdem sei es eine Illusion zu glauben, dass es möglich sei, die Hamas vollständig auszulöschen. Es wäre realistischer davon auszugehen, sie im Hinblick auf ihre militärischen Fähigkeiten um achtzig Prozent zu schwächen. Die Hamas selbst sei schließlich mehr als bloß eine...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-86393-656-6 / 3863936566
ISBN-13 978-3-86393-656-3 / 9783863936563
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