Geile Zeit -  Niclas Seydack

Geile Zeit (eBook)

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2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12352-4 (ISBN)
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»Wichtig, witzig, wehmütig. Gut.«Ronja von Rönne Kindheit in den 90ern. Lego, Nutellabrote und Samstagabend mit der Familie Wetten, dass..? Eine Idylle. Bis zum 11. September 2001. Dann Schweigeminuten in der Schule und die erste Liebe auf ICQ. Verkürztes Studium, unbezahlte Praktika, Berufsstart im Lockdown. Erst eine neue Rechte. Dann ein neuer Krieg. Zwischendurch Trichtersaufen. Es gilt: Je düsterer die Zukunft, desto knalliger die Klamotten. Willkommen im Leben der Millennials. Was für eine geile Zeit! Niclas Seydack, selbst Millennial, erzählt warmherzig von einer kalten Zeit, einer Jugend ohne Helden. Kaum eine Generation musste so früh trotz aller Widrigkeiten Wege finden, das Leben zu feiern. Ecstasy als Erziehung der Gefühle und Trichtersauefen auf Festivals, um mal alles zu vergessen. Zweimal leuchtet der Stern der Millennials hell auf: Lena gewinnt den Eurovision Song Contest. Mario Götze schießt Deutschland zum WM-Titel. Doch das Licht dieser Held:innen verglüht schnell. Nach unzähligen Praktika endlich die erste Festanstellung. Und dann Lockdown. Statt zusammen mit neuen Kollegen sitzt man allein in winzigen Wohnungen oder WGs, die Mietpreise sind astronomisch. Klug und humorvoll fängt Niclas Seydack das Lebensgefühl einer Generation zwischen Dauerkrise, digitalem Aufbruch und einer neuen Sensibilität ein. Während die Millennials erwachsen werden, ist die Welt mehrmals eine andere geworden. Nur Wetten, dass..? feiert noch ein drittes Comeback. »Seydack schreibt so unmittelbar, ehrlich und poetisch, dass man sich fühlt wie auf einer atemlosen Zeitreise von den 90ern bis in die Gegenwart.« Caroline Wahl »Ein Buch wie eine Flaschenpost aus einer anderen, schmerzhaft naiven Zeit. Ein bisschen unheimlich. Aber auch unheimlich gut.« Friedemann Karig

Niclas Seydack, geboren 1990 an der Ostsee, arbeitet als freier Reporter in München, vor allem für Die Zeit, den Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Er ist Mitautor des Bestsellers Corona - Geschichte eines angekündigten Sterbens (2020) und Teil des Rechercheteams, mit dem Dirk Rossmann seine Klima-Thriller schreibt. Er lebt in München.

Auf dem pfirsichfarbenen Teppich in meinem Kinderzimmer beschossen sich die Piraten aus dem Lego-Set Insulaner Tropenlagune und die Astronauten vom Raumgleiter Centurion. Pewpewpew. Natürlich triumphierten die Laser über die Musketen.

Darüber bekam ich gar nicht mit, wie sich meine Eltern drüben im Wohnzimmer Sorgen machten. Deutschland, der kranke Mann Europas. Statt der Wirtschaft wuchs die Zahl der Arbeitslosen. Es gebe »kein Recht auf Faulheit«, sagte der Kanzler. Basta.

Das kleine Dorf, in dem ich aufwuchs, liegt unweit der Ostsee. Ein paar Hundert Erwachsene, die wie überall in Deutschland in Doppelhaushälften wohnten, mit einem Garten davor oder dahinter, dessen Rasen permanent gemäht werden musste. Die meisten Familien hatten zwei Kinder, manche drei oder noch mehr. Jedenfalls war immer jemand zum Spielen da.

Mein Kreis, das waren Malte, Yannick, Marius und ich. Mädchen gab es, soweit ich wusste, auch im Dorf. Die interessierten sich aber vor allem für den Reiterhof mit den Islandpferden.

Meist ging einer von uns zum anderen und klingelte.

»Kann Malte rauskommen?«

Konnte er immer. Zu zweit ging es zum Nächsten. Und wenn wir vollzählig waren, merkten wir, dass wir überhaupt nicht wussten, was wir jetzt eigentlich machen sollten.

Vorbei an der einzigen Bushaltestelle, besorgten wir uns beim Dorfbäcker eine Tüte saure Schnüre. Im Wald dahinter suchte ich nach einem Stock, der sich als Schwert eignete, und prügelte damit den Bäumen die Rinde weg. Malte pinkelte auf Ameisenhaufen und lachte über das panische Ausschwärmen der Krabbelarbeiter, die versuchten, ihre Königin vor dem goldenen Regen zu schützen. Ich schubste Yannick in die Brennnesseln. Yannick schubste Marius in den Dorftümpel, wir lachten. Es war nicht schlimm, weil in unseren Hosentaschen weder Geldbeutel noch Handys waren. Nichts von Wert. Nichts, was hätte kaputtgehen können.

Manchmal konnte keiner. Manchmal durfte selbst Malte nicht raus und ich saß zu Hause.

So wie an diesem Nachmittag im September.

Unser Familiencomputer war von Medion – eigentlich Aldi, aber das zu sagen, galt noch als peinlich: Wir sind ja nicht bei armen Leuten. Dieser Computer war jedenfalls in eine ausziehbare Schrankwand integriert. Darin verfügte jedes Gerät über ein eigenes Fach: die Maus, die Tastatur, der Drucker. Und das Gamepad, auf das ich lange gespart hatte.

Microsoft SideWinder Freestyle Pro. Den Namen sagte ich oft vor mich hin. Ich hatte mir das von den Erwachsenen abgeguckt, die zärtlich Namen von Autos, Schuhen oder Uhren heraufbeschworen: Ferrari. Louboutin. Omega Seamaster 600.

Bevor ich den Tower-PC lässig mit dem großen Zeh einschaltete, rotzte ich die Hausaufgaben hin: Zeichne das Netz eines Quaders mit folgenden Maßen. Die Buchstaben der Ägypter heißen: Hieroglyphen. My name is Niclas, I am eleven years old.

Bei FIFA übte ich Fallrückzieher mit Márcio Amoroso, meinem Lieblingsspieler. Ich spielte, bis meine Schwester endlich mit ihren Talkshows durch war. Bis ich vor den Fernseher durfte. Bis Pokémon losging. Das Intro sang ich immer mit.

Ich will der Allerbeste sein / Wie keiner vor mir war

Meine Schwester verdrehte die Augen, aber die hatte ja auch keinen Plan, wie geil das war: Pokémon gucken. Dazu eine Schale Cini Minis mit warmer Milch aus der Mikrowelle.

Ganz allein fang ich sie mir / Ich kenne die Gefahr!

Ich kenne die Gefahr. Von wegen.

An diesem Tag saß meine Schwester nicht vor ihren Talkshows. Keine Messie-Eltern bei Andreas Türck, die ihre Teenagertöchter anschrien, weil die wie »Schlampen« rumliefen. Keine Männer mit Igelfrisur bei Arabella, die jubelten, nachdem sie ein Vaterschaftstest als Erzeuger ausgeschlossen hatte. Es liefen Nachrichten. Hä, musste meine Schwester die für die Schule gucken oder was?

Ich sah, wie ein Flugzeug in ein Hochhaus flog.

Schon das zweite, sagte meine Schwester. Das zweite Flugzeug, das zweite Hochhaus. Ich sah, wie einer von ganz oben raussprang, aus dem 26. oder dem 111. Stock. Ich hatte so hohe Gebäude noch nie in echt gesehen oder gar betreten. Der Nächste sprang. Er breitete die Arme aus, als würde er einen Fallschirm tragen, aber er trug keinen.

Das war live.

Wieder sprang einer. Die Arme über Kreuz, die Hände an den Schultern. Er machte die Kerze. So wollte ich eines Tages vom Zehnmeterturm springen.

Die Körper fielen schnell. Zu schnell für die Kameras, die sie verfolgten. Wie sie aufkamen, sah ich nicht. In den Straßen flackerte Blaulicht. Die Menschen waren voller Staub und Blut.

Eines der Hochhäuser stürzte ein. Nicht krachend und in alle Richtungen wie der Jenga-Turm auf unserem Wohnzimmertisch. Das Hochhaus im Fernsehen stürzte ganz ordentlich ein. Stockwerk für Stockwerk. Bis keins mehr übrig war.

»Kannst du kurz RTL II anmachen?«

Meine Schwester schaltete um. Pikachu elektroschockte Team Rocket, sie flogen, wie in jeder Folge, in den Himmel: »Das war mal wieder ein Schuss in den Ooooofen!« Am Abend feierten die Fans von Borussia Dortmund, meinem Verein, im Kiewer Olympiastadion den späten Ausgleich von, natürlich: Márcio Amoroso.

Bei Pokémon und im Fußball drehte sich die Welt weiter. Als wäre nichts. Die Politiker in der Tagesschau sagten: »Die Welt ist nun eine andere.« Was stimmte – das eine, das andere oder sogar beides –, ich wusste es nicht. Meine Eltern brachten mich ins Bett und ich bekam einen stummen Gutenachtkuss. Auch sie wussten es nicht.

Am nächsten Morgen stand ich in der Schulaula, in der wir uns zuvor noch nie versammelt hatten. Die Sommerferien waren gerade erst vorbei, mein Schulwechsel von der Grundschule auf das Gymnasium war eine Woche her. Der Direktor sagte, wir würden nun eine Schweigeminute für die Opfer abhalten. Ich fühlte mich unwohl, ich wusste nicht, woran ich in der Stille denken sollte. Den Tod kannte ich nur aus König der Löwen, als Simba seinen Vater anstupste, bis er verstand, dass der nie wieder brüllen würde. Ich schaute zu Boden, auf meine Schuhe: Geox, der Schuh, der atmet. Eine Minute war mir noch nie so lange vorgekommen wie diese.

Ich sehe das Kind, das ich war. Eigentlich sollte es Animes auf RTL II gucken. Mit seinen Freunden im Wald umherstreifen, mit Stöcken Bäume entrinden und auf Ameisenhaufen pinkeln. Stattdessen gedachte es Tausender von Toten in eingestürzten Hochhäusern auf der anderen Seite des Atlantiks.

¬

In die Freundebücher, die bei uns im Dorf rumgingen, schrieben wir, was wir von der Zukunft erwarteten. Die Mädchen schrieben, dass sie mal Dressurreiterin werden wollten. Tierärztin. Kindergärtnerin. Model. So was Langweiliges halt. Malte, Yannick und Marius schrieben Feuerwehrmann, Autoschrauber und Astronaut. Wenn man nur fest dran glaubte, konnte man alles schaffen. Klappte in jedem Disneyfilm so. Die anderen träumten schon von Karriere, ich schrieb: Müllmann. Die fuhren mit Hydraulikkipplader, außerdem kloppten Müllmänner die heftigsten Sprüche.

»Regen ist doch nur flüssige Sonne.«

»Verlass dich auf andere und du bist verlassen.«

»Die ersten fünf Tage nach dem Wochenende sind die schlimmsten.«

Mit meinen Müllmannsprüchen war ich in der Schule der Größte. Ich stellte mir vor, wie gut ich erst als Erwachsener damit ankommen würde. Das geht nicht, sagten meine Eltern. Müllmann sei ein Beruf für Dumme. Passte doch zu mir.

Vor meinem Schulwechsel hatten wir einen Brief nach Hause bekommen, der für Diskussionen sorgte. Herr Holm-Reichert sprach eine Empfehlung für eine weiterführende Schule aus. Das Gymnasium traute er mir nicht zu. Ich störte oft seinen Unterricht. Zappelphilipp, Zappelphilipp. Im Brief stand: mangelnde geistige Reife. Zum Glück verschrieb der Kinderarzt, den meine Eltern ausgesucht hatten, Ritalin nicht so leichtfertig wie seine Kollegen.

Meine Eltern entschieden sich, Herrn Holm-Reichert zu überstimmen. Ich sollte, was sie gewollt, aber nie gekonnt hatten: studieren. Aus ihrem Jungen sollte etwas Anständiges werden.

¬

Es wurde Frühling, Pokémon lief wieder, VIVA, TV total und die Talkshows meiner Schwester. In den Tagen nach 9/11 hatten alle lustigen Shows ausgesetzt. Alle waren sehr ernst. Nur Márcio Amoroso schoss weiter freudig Tore.

Zusammen mit meinem Vater richtete ich mein Zimmer neu ein. Wir strichen die Wände und fuhren dann zu IKEA. Die Möbel, die ich aussuchte, kann man nur schön finden, wenn das Gehirn von den ersten Testosteronschüben vernebelt ist: Pax, Billy, Lack und Poäng, alles in Schwarz. Der pfirsichfarbene Teppich durfte bleiben. Ich hing an ihm, ich hatte ihn mir schließlich selbst ausgesucht. Damals hatte ich auf jedem Teppich im Baumarkt Probe gelegen und den kuscheligsten ausgesucht.

Mir fiel erstmals der EMP-Katalog in die Hände. Darin gab es Poster und Shirts, die exakt meinen Humor trafen. FBI – Female Body Inspector. Logos der Bands, die ich toll fand, zum Aufnähen auf meinen Eastpak-Rucksack. Internetzeugs als echte Objekte, Pikachu-Kuscheltiere und Dragonball-Kaffeetassen. Es gab darin sogar Möbel. Ich bettelte so lange um einen Minikühlschrank, bis ich ihn bekam. Hätte ich noch diesen Spiegel mit der Jack-Daniels-Prägung und würde all die leeren Axe-Deodosen aus der Sammeledition auf dem Regal anrichten, dann wäre mein Zimmer, nein, dann wäre mein ganzes Leben: perfekt.

Kurz nach den ersten Osterferien, nur ein halbes Jahr nach der Sache mit den Flugzeugen, riefen...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-608-12352-0 / 3608123520
ISBN-13 978-3-608-12352-4 / 9783608123524
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