Ideologiemaschinen -  Harry Lehmann

Ideologiemaschinen (eBook)

Wie Cancel Culture funktioniert
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
147 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8497-3 (ISBN)
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Jenseits von links/rechts Freiheitsrechte bilden den Kern liberaler Demokratien; Wissenschaftsfreiheit, Lehrfreiheit und Kunstfreiheit gelten hierzulande als Verfassungsgrundsätze. Doch seit einiger Zeit kann selbst das Grundgesetz sie nur wenig schu?tzen, weil sie von den Institutionen, die sie hochhalten sollen, freiwillig preisgegeben werden. Cancel Culture, Wokeness und Identitätspolitik sind dabei nur Oberflächenphänomene, denen ein viel gravierenderes Problem zugrunde liegt: Durch digitale Medien katalysiert, verlieren Institutionen wie Universitäten und Kunststätten die Fähigkeit, die Grenze zwischen politischer und nicht politischer Kommunikation zu ziehen. Sie machen sich die politische Kommunikation zueigen. Das kann im Extremfall dazu fu?hren, dass Institutionen - anstelle von Wissen, Bildung und Kunst - Ideologie produzieren: Sie verwandeln sich in Ideologiemaschinen. Harry Lehmann identifiziert den Mechanismus, der zu dieser Art von dysfunktionaler Politisierung fu?hrt. Davon ausgehend entwickelt er Vorschläge zur System-Therapie. Man kann nämlich Ideologieunterbrecher in die Institutionen einbauen und so die liberale Demokratie restabilisieren. Ein kluger Einwurf in eine verschwommene Debatte, der mit Nachdruck demokratische Grundwerte anmahnt: Freiheit in Kunst, Lehre und Wissenschaft. Der Autor: Harry Lehmann, Dr. phil.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg mit den Schwerpunkten Kunstphilosophie, Musikphilosophie, Ästhetik und KI-Ästhetik; freier Autor mit zahlreichen Publikationen.

Harry Lehmann, Dr. phil.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg mit den Schwerpunkten Kunstphilosophie, Musikphilosophie, Ästhetik und KI-Ästhetik; freier Autor mit zahlreichen Publikationen.

Ideologien als Sprachspiele


Die Ausgangsthese für unser Erklärungsmodell bildet eine von Michael Freeden entwickelte Ideologietheorie.1 Freeden begreift eine Ideologie als »eine Art Sprachspiel«2, dessen zentrale Elemente in politischen Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Diversität, Macht, Tradition, Autorität und Demokratie bestehen. All diese politischen Kernbegriffe sind nicht eindeutig definiert, sondern besitzen mehrere Bedeutungsdimensionen. »Gleichheit« kann im Sinne von Chancengleichheit oder von Ergebnisgleichheit verstanden werden; »Freiheit« kann das Freisein zur Selbstverwirklichung oder die Befreiung aus Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen meinen. Ideologien bringen diese politischen Kernbegriffe nun in eine je spezifische Konfiguration, in der sie ihren Bedeutungsspielraum wechselseitig limitieren. Dabei geraten die politischen Ideen in ein hierarchisches Verhältnis zueinander, so dass etwa der Freiheitsbegriff in der liberalen Parteienfamilie einen Höchstwert darstellt und Gerechtigkeitsforderungen limitiert, wohingegen in der sozialdemokratischen Parteienfamilie der Gerechtigkeitsbegriff primär ist und das Konzept der Freiheit beschränkt.

Eigentlich handelt es sich bei politischen Kernbegriffen aber um gleichrangige Begriffe; es gibt keine Letztbegründung dafür, dass Gerechtigkeit wichtiger als Freiheit oder Freiheit wichtiger als Demokratie oder Demokratie wichtiger als Gleichheit ist. Zumindest gilt diese Gleichrangigkeit in liberalen Demokratien, weil sich in dieser Gesellschaftsformation der Vorrang einer politischen Idee vor einer anderen jederzeit bestreiten lässt und von Parteien, die öffentlich miteinander konkurrieren, auch permanent lautstark bestritten wird. Es sind also erst Ideologien, die eine spezifische Hierarchie in den politischen Ideenhimmel bringen und den Bedeutungsspielraum politischer Kernbegriffe so stark begrenzen, dass sich feste Denk- und Argumentationsmuster ausbilden. Entsprechend besteht eine wesentliche Funktion von Ideologien darin, bestimmte politische Ideen aufzuwerten und zu legitimieren und andere abzuwerten und zu delegitimieren. Das heißt aber, dass sich aus dem gleichen Set von politischen Ideen verschiedenartige Ideologien zusammenbauen lassen. Freeden veranschaulicht diesen zentralen Gedanken seiner Theorie mit einer eingängigen Metapher:

»Eine Ideologie ist wie ein Set von Möbelmodulen, die auf viele Weisen zusammengestellt werden können […]. Durch verschiedene Arrangements der Möbel können wir sehr unterschiedliche Räume schaffen, selbst wenn wir die gleichen Einheiten verwenden. Aus diesem Grund können identische politische Begriffe als Bausteine für eine Vielzahl unterschiedlicher Ideologien dienen, weil ein und dasselbe Modul (Begriff) in zwei unterschiedlichen Räumen (oder Ideologien) eine unterschiedliche Rolle spielen kann (oder eine unterschiedliche Bedeutung haben kann).«3

Zu den Konsequenzen dieser Ideologietheorie gehört, dass Volksparteien (wie etwa die CDU und die SPD in Deutschland) das Standardmodell für Ideologien abgeben, denn nur die Parteien der politischen Mitte greifen bei ihrer Ideologiebildung tatsächlich auf das ganze Repertoire politischer Kernbegriffe zurück und bringen es in ein je eigenes Arrangement. Freeden spricht hier von Mainstream-Ideologien und grenzt sie von »dünnen Ideologien« (»thin ideologies«) wie etwa dem »Nationalismus« und dem »Feminismus« ab.4 Protestbewegungen, Ein-Themen-Parteien, aber auch alle Spielarten des Populismus folgen solchen dünnen Ideologien, indem sie eine einzige politische Idee sehr stark präferieren. Insofern das Absolutsetzen eines politischen Wertes es leicht macht, auf andere politische Werte keine Rücksicht zu nehmen, haben diese Ideologien auch einen intrinsischen Hang zur Radikalität. Würde man solche einwertigen Programme tatsächlich umsetzen, käme man sehr schnell in Bereiche, in denen die Politik eine autokratische, illiberale oder antidemokratische Schlagseite bekommt.

In der parlamentarischen Auseinandersetzung haben solche dünnen Ideologien aber kaum eine Chance, weil ihre Vertreter ständig herausgefordert werden, sich öffentlich zu Konflikten zu äußern, in denen auch die von ihnen marginalisierten politischen Begriffe relevant sind. Radikale Parteien werden auf der Bühne des Parlaments performativ dazu gezwungen, ihr beschränktes Set an politischen Begriffen zu komplettieren, die sich aber, sobald sie in einen Argumentationszusammenhang gebracht werden, wechselseitig zu relativieren beginnen. Dass radikale Parteien sich selbst entzaubern, liegt unter anderem daran, dass mit zunehmendem Erfolg ihr ideologisches Sprachspiel mehrwertig wird (also zumindest neben Gerechtigkeitswerten auch Freiheitswerte vice versa berücksichtigt). Insofern besitzt der Disput im Parlament eine zivilisierende Wirkung auf politische Ideologien.

Freedens sprachphilosophische Ideologietheorie erfasst einerseits die genuine Mehrdeutigkeit und Ambivalenz politischer Ideen und zeigt andererseits auch, dass diese Ideen in der konkreten Konfiguration einer Ideologie ihre ursprüngliche Polysemie weitgehend verlieren. Der entscheidende Theoriezug besteht aber darin, dass Ideologien für diejenigen, die in sie involviert sind, selbstevident werden. Freeden spricht hier von »decontestation«, wobei es sich hier um ein politologisches Kunstwort handelt, das von »contestation« abgeleitet ist, was wiederum so viel wie »Streit« oder »Bestreiten« heißt. Ideologien besitzen also die Eigenschaft der »Unbestreitbarkeit« bzw. sie scheinen denjenigen, die dieses Sprachspiel verinnerlicht haben, unbestreitbar zu sein. Im Sinne einer Kurzdefinition heißt es:5

»Eine Ideologie ist ein weitreichendes strukturelles Arrangement, das einer Reihe von politischen Begriffen, die sich wechselseitig definieren, eine unbestreitbar gemachte Bedeutung [decontested meaning] zuschreibt.«

Darüber hinaus beschreibt Freeden einen logischen und einen kulturellen Mechanismus, über den sich die »Unbestreitbarkeit« von Ideologien jeweils herstellt. Der logische besteht darin, dass Ideologien spezifische Argumentationszusammenhänge entwickeln, in welchen ihre politischen Kernbegriffe miteinander verknüpft werden, und dass die dabei vorgebrachten Prämissen, Begründungen und Schlussfolgerungen – so wie jede schlüssige Argumentation – eine genuine Überzeugungskraft besitzen.

Die andere Evidenzquelle von Ideologien besteht in kulturellen Anlehnungskontexten, wie sie von Konventionen, Traditionen, Religionen oder wertebasierten Milieus bereitgestellt werden. Insofern diese Überzeugungssysteme für bestimmte soziale Gruppen mit einer solchen Selbstevidenz verbunden sind, dass sie nie hinterfragt werden, scheinen sie den Subjekten, welche diese Überzeugungen besitzen, auch unstrittige Tatsachen zu sein. Ideologien bauen diese Selbstverständlichkeitskontexte in ihre Sprachspiele ein, indem sie kontinuierlich auf sie verweisen. Für die Christdemokraten liegt oder lag die wichtigste Plausibilitätsressource im Christentum, für die Grünen in ihrer Verwurzlung im Naturschutz, für die Sozialdemokraten in ihrer Verbundenheit mit den Arbeitermilieus.

Wenn Ideologien die politischen Kernbegriffe in ein je spezifisches Arrangement bringen, das aufgrund seiner logischen Konsistenz und seiner kulturellen Evidenzen den Anschein der Unbestreitbarkeit erweckt, wird damit nicht nur eine feste Argumentationsstruktur geschaffen, die sich richtig oder falsch reproduzieren lässt, sondern auch ein Spielraum, innerhalb dessen man mit einer gewissen Unschärfe sprechen und »parteiintern« auch streiten kann. Vor allem dieser Aspekt, dass sich Ideologien nach außen hin unbestreitbar machen und zugleich einen Innenraum für den Streit offenhalten, lässt sich mit Wittgensteins Sprachspiel-Theorie gut erklären: Die unterschiedlichen Argumentationsstränge innerhalb einer Ideologie besitzen eine Familienähnlichkeit, so dass daraus auch die Möglichkeit zur Fraktionsbildung und zu Flügelkämpfen innerhalb politischer Organisationen entsteht. Ideologien sind also Sprachspiele mit begrenzter Rede- und Gedankenfreiheit.

So viel zu den wesentlichen Bausteinen der Freeden’schen Ideologietheorie, welche den Autor allerdings zu der Schlussfolgerung führt, dass wir alle Ideologen seien:

»Wir produzieren, verbreiten und konsumieren unser ganzes Leben lang Ideologien, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Ja, wir sind alle Ideologen, denn wir haben ein Verständnis für das politische Umfeld, dem wir angehören, und wir haben Ansichten über die Vorzüge und Schwächen dieses Umfeldes.«6

Aber wieso ist man bereits ein Ideologe, wenn man sein politisches Umfeld versteht? Man kann viele Dinge verstehen, ohne dass man sie gutheißt oder sich mit ihnen identifiziert.

Wenn das wichtigste Signum einer Ideologie ihre »Unbestreitbarkeit«...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-8497-8497-5 / 3849784975
ISBN-13 978-3-8497-8497-3 / 9783849784973
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