Das Scheitern von pädagogischen Projekten - zudem eine etwas andere Geschichte der Sozialpädagogik -  Mathias Schwabe

Das Scheitern von pädagogischen Projekten - zudem eine etwas andere Geschichte der Sozialpädagogik (eBook)

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2024 | 1. Auflage
773 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8265-4 (ISBN)
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In seinem neuen Buch analysiert der Autor verschiedene Misserfolgsdynamiken, die zum Scheitern von pädagogischen Projekten geführt haben. Im ersten Teil stehen dabei neun Projekte aus der Zeit von 1760 bis 2006 im Mittelpunkt, die teils von bekannten Pädagog:innen wie Pestalozzi, Tolstoi, Bernfeld oder Makarenko auf den Weg gebracht wurden, teils aber auch von Unbekannten oder auf Drängen der Politik. Diese Projekt-Portraits sind spannend, weil sie Sachberichte mit Kulturgeschichte und den Biographien der Protagonisten verknüpfen und so interessante Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Sozialpädagogik und ihrer Institutionen ermöglichen. Im zweiten Teil systematisiert Schwabe die jeweiligen Gründe für Abbrüche und Misslingen und stellt sechs Theoriekonzepte vor, die beanspruchen, das Phänomen des Scheiterns jeweils auf eigenständige Weise zu durchdringen. So gelingt es dem Buch, einen genuin erziehungswissenschaftlichen Beitrag zum häufig verdrängten Thema »Scheitern« bzw. »Misslingen« zu formulieren. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, ob und was man aus Scheitern lernen kann.

Prof. Dr. Mathias Schwabe ist Professor für Methoden an der Evangelischen Hochschule Berlin, Systemischer Berater (SIT & IGST) und Supervisor und Denkzeit-Trainer.

1.Einführung ins Thema nebst Hinweisen zur Etymologie


Zunächst möchte ich erläutern, was ich unter einem pädagogischen Projekt verstehe und wie die Auswahl der neun Projekte zustande gekommen ist, deren Misserfolgsdynamiken in diesem Buch untersucht werden (1.1). Danach begründe ich, warum die Planung, Durchführung und Auswertung von pädagogischen Projekten durchaus als eine Kernaufgabe von (Sozial-)Pädagog:innen angesehen werden kann, aber auch andere Professionen zu Recht beanspruchen, dabei maßgeblich mitzuwirken: Bildungsplaner:innen, Politiker:innen, Fachleute aus der öffentlichen Verwaltung, Psycholog:innen, Lehrer:innen, Soziolog:innen etc. (1.2). Daraus folgt, dass sich mein Buch an zwei Zielgruppen wendet: an (Sozial-)Pädagog:innen, aber zumindest mit Teil B auch an Projektentwickler:innen anderer Professionen (selbst an Fachkräfte, die überwiegend mit technischen Projekten zu tun haben, weil auch diese häufig in ganz ähnliche Misserfolgsdynamiken geraten wie das bei sozialen Projekten der Fall sein kann).

Anschließend stelle ich den Aufbau des Buches vor (1.3) und begründe, weshalb es einen Beitrag zur Korrektur und Bereicherung des immer noch dominierenden ideengeschichtlichen Zuschnitts der Geschichte der Pädagogik leisten möchte, aber auch wo die Grenzen dieser „etwas anderen Geschichtsschreibung“ liegen (1.4). Damit ist die dritte Zielgruppe für mein Buch angesprochen (überwiegend für Teil A): Studierende der (Sozial-)Pädagogik und Sozialen Arbeit, aber auch Berufstätige mit diesen Abschlüssen, die sich vergewissern wollen, wo die Wurzeln unserer Profession liegen und wie lange wir uns schon mit einigen, anscheinend unlösbaren Problemen herumschlagen. Erst gegen Ende der Einführung wende ich mich dem Phänomen des Scheiterns an sich (1.5) und einigen diesbezüglichen Forschungsschwerpunkten zu, die in den letzten zehn Jahren rund um dieses Thema entstanden sind. An den Schluss stelle ich die Etymologie und das Begriffsumfeld von Scheitern (1.6) und den Dank an meine Unterstützer:innen (1.7).

Mit den drei genannten Zielgruppen ist klar, dass das Buch unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen ansprechen möchte. Nicht alle Kapitel sind für sie gleichermaßen interessant und zudem mit Blick auf unterschiedliche Fragestellungen relevant. Jede der drei Zielgruppen darf und soll selektiv lesen. Redundanzen lassen sich vor allem in Teil B nicht vermeiden, weil ich dort bei der Entfaltung der Theorie-relevanten Querschnittsfragen immer wieder Beispiele aus den neun Projektkapiteln (Teil A) heranziehe, mehrfach die gleichen, aber jeweils unter anderen Gesichtspunkten.

Der Haupttitel des Buches spricht von pädagogischen Projekten, erst im Untertitel wird klar, dass es sich dabei um sozialpädagogische Projekte handelt. Damit fallen viele andere, insbesondere schulpädagogische Projekte aus dem Fokus der Betrachtung (siehe Liedtke et al. 2004, insbesondere 51 ff., 53 ff., 111 ff.). Noch dazu spielen sich sieben von neun untersuchten Prozessen des Scheiterns in einem spezifischen sozialpädagogischen Kernbereich ab, dem der Heimerziehung; oder – wie man heute formuliert – den stationären Erziehungshilfen. Nur zwei Projekte tanzen aus der Reihe. Aber nur vermeintlich. Denn auch wenn Tolstoi ein Beschulungs- und Bildungsprojekt angeht, zieht er dieses doch sehr sozialpädagogisch auf (Kap. 4) und übernachten einige seiner Schüler:innen regelmäßig in den Räumen der Schule (Tolstoi 1907/1994, 317 und ders. 1980, 21). Auch Keralio, der Erzieher des Infanten von Parma, lebt mit seinem Zögling in einer jahrlangen Wohn- und Lebensgemeinschaft, wenn auch eingebunden in den Sozialraum des herzoglichen Palastes in Parma (Kap. 2). So laufen beinahe alle Projekte auf Formen der „Erziehung über Tag und Nacht“ hinaus (vgl. § 34 SGB VIII).

Mit dem Schwerpunkt Heimerziehung bewege ich mich in dem sozialpädagogischen Bereich, den ich am längsten und besten kenne und der mein sozialpädagogisches Denken am stärksten geprägt hat. Wer meine Bücher oder Vorträge kennt, wird entdecken, dass ich auch in diesem Buch meinen „alten“ Themen – Ambivalenzen, Gewalt, Widersprüche und blinde Flecken –, dieses Mal in historischen Zusammenhängen, nachgegangen bin (Schwabe 2022a). Wie viel ich davon in die Rekonstruktion der Projektentwicklungsprozesse hineingetragen und wie viel ich davon in ihnen erneut entdeckt habe, bleibt dem Urteil des Lesers/der Leserin überlassen.

1.1Was charakterisiert ein pädagogisches Projekt und wie kam es zu der Auswahl der neun analysierten Projekte?


Dieses Buch untersucht das Scheitern von pädagogischen Projekten. Dabei geht es um einen Komplex, den ich als durch sieben Bestimmungsstücke definiert betrachte: Erstens sind damit Unternehmungen gemeint, die von Pädagog:innen geplant werden und mit Blick auf eine definierte Zielgruppe von Kindern und/oder Jugendlichen bestimmte pädagogische Ziele verfolgen. Viele Projekte beanspruchen dabei entweder, neue Ziele in den Blick zu nehmen, oder, bei deren Realisierung neue Wege zu beschreiten, oder beides. Manche reflektieren, dass die von ihnen angewandten Konzepte und Methoden bzw. die von ihnen konstruierten Settings einen experimentellen Charakter und somit gewisse Risiken aufweisen, weswegen das Gelingen des Projektes nicht selbstverständlich ist (z. B. siehe Makarenko Kapitel 6 oder der Fortbildner aus Kapitel 10).

Projekte werden zweitens im Gegensatz zu etablierten Einrichtungen und Hilfe- oder Bildungsformen, für einen begrenzten Zeitraum eingerichet. Der Zeitraum, der dafür angesetzt wird, kann exakt vorgegeben sein oder relativ offenbleiben. Wie sich das Projekt im Lauf dieser Zeit entwickeln wird, was aus ihm werden kann, ob man dort auch in fünf Jahren noch tätig sein wird und ob es in zehn Jahren überhaupt noch jemand erinnert, ist ungewiss. Man möchte, dass sich das Projekt in seiner Entwicklungsphase, die in der Regel mindestens drei Jahre umfasst, als produktiv erweist und auf Dauer gestellt und/oder anderen zur Nachahmung empfohlen werden oder sogar in Serie gehen kann (siehe dazu 14.1). Damit verlässt es seinen Projektstatus und wird zu einer Einrichtung. Aus einzelnen Kindergartenprojekten zu Fröbels Zeit, einem hier und einem anderen dort, entwickelt sich – wenn auch nicht ohne Krisen und Rückschläge – die Kindertagesstätte als flächendeckende Institution. Einst ein Projekt, heute eine Infrastruktur (Honig 2002, 2018, 2020, Spieß u. a. 2002).

Nicht alle Projekte streben eine solche Verbreitung bzw. Institutionalisierung an. Aber pädagogische Projekte sind (drittens) mit Blick auf etablierte pädagogische Strukturen und Praxen kritisch angelegt: Sie wollen immer auch eine spezifische pädagogische Haltung überwinden und/oder einen bestimmten Typus pädagogischer Einrichtungen reformieren oder eine Hilfeform bzw. ein spezifisches Setting (wie z. B. die Erziehungsberatungsstellen in Wien und Berlin um 1910) neu begründen. Dafür müssen sie sich der Beobachtung durch Andere aussetzen und nach ein paar Jahren von den Auftraggeber:innen oder fremden Beobachter:innen, aber auch von den Projektverantwortlichen selbst, als zielführend, sinnvoll und gelungen eingeschätzt werden.

Im Begriff Pädagogisches Projekt ist viertens mitgedacht, dass dieses einer Organisation bedarf, die es trägt, finanziert, beobachtet und evaluiert. Es mögen charismatische Einzelne sein, die es konzeptionieren und mehr oder weniger alleine beginnen oder durchführen (z. B. Pestalozzi, Tolstoi, Gerd E. Schäfer); immer sind diese aber auf mehrere Andere angewiesen, die die Gründung billigen und die Realisierung unterstützen, finanziell und/oder ideell; und mit dafür sorgen, dass das Projekt ins Laufen kommt, es aber häufig gleichzeitig kritisch beobachten und bewerten. Damit ist klar, dass organisatorische Rahmenbedingungen, begünstigende und erschwerende, Einfluss auf die Projektentwicklung haben. Und zudem Themen der Organisation, die unabhängig vom Projekt existieren, diese beeinflussen können, aber auch Geschehnisse im Projekt zu Dynamiken in der Organisation führen können. Projekt...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8265-X / 377998265X
ISBN-13 978-3-7799-8265-4 / 9783779982654
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