Behindertenrechte in die Verfassung! -  H.-Günter Heiden

Behindertenrechte in die Verfassung! (eBook)

Der Kampf um die Grundgesetzergänzung 1990-1994
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
222 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8546-4 (ISBN)
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Die Ergänzung des Grundgesetzes in Artikel 3 um den Satz »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« war Anfang der 1990er Jahre hart umstritten. Mit dem Argument, das Grundgesetz dürfe nicht zum »Warenhauskatalog« verkommen, wurde die Forderung der Behindertenbewegung von der Regierung abgelehnt. Erst im Wahlkampf 1994 kam der Umschwung: Mit überwältigender Mehrheit beschloss der Bundestag am 30. Juni 1994 die neue Verfassung. Der vorliegende Band zeichnet den erfolgreichen Kampf der Behindertenbewegung aus der Perspektive eines damaligen Aktivisten und Zeitzeugen nach.

H.-Günter Heiden (M.A.) ist sozialwissenschaftlicher Mitarbeiter bei BODYS im Projekt AKTIF. Seine Schwerpunkte sind Menschenrechte, Gleichstellung und Barrierefreiheit. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er als Publizist tätig und engagiert sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Zeitzeuge, Aktivist und Chronist – Zur Aneignung der eigenen Geschichte 


„Ich möchte das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben. Es wurden 629 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 622 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein drei, enthalten haben sich vier. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.“1

So fasst Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD) um 18:17 Uhr das Ergebnis der Abstimmung zusammen. Es ist Donnerstag, der 30. Juni 1994. In seiner 238. Sitzung tagt der Deutsche Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude und fasst einen Beschluss über ein Gesetz, das das deutsche Grundgesetz an mehreren Stellen ändern wird. Aus Sicht behinderter Menschen besonders wichtig: Dem Artikel 3, Absatz 3 wird ein zweiter Satz hinzugefügt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.

Damit sind vier Jahre Kampf der Behindertenbewegung erfolgreich gewesen und diesem neuen Satz im Grundgesetz wird in den folgenden Jahren eine zentrale Bedeutung für die rechtliche Gleichstellung behinderter Menschen zukommen. Dabei stand dieser Kampf um die Verfassung zunächst überhaupt nicht auf der Agenda der Behindertenbewegung. Erst durch das historische Fenster, das sich mit der Vereinigung der beiden Deutschlands aufgetan hatte, konnte die Bewegung für die rechtliche Gleichstellung ein neues und wichtiges Element, die verfassungsmäßige Verankerung der Grundrechte behinderter Menschen, ihrem Kampf hinzufügen.

Objekt oder Subjekt der eigenen Geschichte?


Ich habe, zusammen mit anderen Aktivist*innen, die in und vor dem Reichstagsgebäude die Sitzung hautnah miterleben, am Zustandekommen dieser Grundgesetzergänzung mitgewirkt. Wenn ich nun selber über diesen Kampf schreibe, so ist zur Transparenz deshalb einleitend ein Wort zu meiner Person und meiner Mehrfachperspektive erforderlich: Ich war und bin selber Akteur mit (inzwischen) eigener Beeinträchtigung in der Behindertenbewegung, habe an zentraler Stelle die Verfassungsergänzung mit koordiniert und so mancher Aspekt kann natürlich durch diese persönliche Perspektive beeinflusst sein. Ich habe als Publizist politische Prozesse und Kampagnen der Behindertenbewegung mit initiiert, habe darüber auch geschrieben und Filme für den MDR, für das ZDF und 3sat realisiert. So gesehen bin ich gleichzeitig Zeitzeuge, Aktivist und Chronist, eine etwas ungewöhnliche, doch auch reizvolle Ausgangssituation.

In diesem Buch finden deshalb sowohl autobiografische als auch geschichtswissenschaftliche Perspektiven ihren Platz, jedoch immer deutlich gekennzeichnet und mit Quellenhinweisen versehen. Dabei stütze ich mich neben der Fachliteratur in großen Teilen auf das Archiv des NETZWERK ARTIKEL 3 e.V., inklusive der Sitzungsprotokolle des „Initiativkreises Gleichstellung Behinderter“, der Ausgaben von „LEBEN UND WEG“ von 1986 bis 1994, auf den Infodienst „BEHINDERTE IN ACTION“ von 1991 bis 1996, auf das „Archiv Behindertenbewegung“, auf die Protokolle der Gemeinsamen Verfassungskommission sowie auf diverse Bundestags-, Bundesrats- und Landtagsdrucksachen.

Mit geht es in diesem Buch darum, die Geschichte der Verfassungsergänzung als einem zentralen Aspekt des Kampfes um rechtliche Gleichstellung behinderter Menschen in die eigene Hand zu nehmen, selbst zu schreiben. Es geht mir um einen Prozess von Aneignung und Sichtbarmachung oder wie es bei Lingelbach/Schlund (2014) heißt: „Ein größeres Ausmaß an Multiperspektivität ließe sich auch erreichen, wenn man die Forderung der Disability History umsetzen würde, Menschen mit Behinderung nicht nur als Objekte, sondern als Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu begreifen. Denn bisher legte die Forschung ihr Augenmerk vor allen Dingen auf das staatliche Handeln gegenüber Menschen mit Behinderung oder generell auf das Handeln von nichtbehinderten Menschen gegenüber behinderten Menschen. Diese Top-down-Perspektive ist bereits vielfach kritisiert worden, dennoch besteht weiterhin ein Nachholbedarf in Bezug auf Arbeiten, die dezidiert die Perspektive von Menschen mit Behinderung einnehmen.2

Nun denn, hier ist diese Perspektive von Menschen mit Behinderung3. Für meine beschriebene Mehrfachperspektive besteht die Herausforderung, das „Verhältnis zwischen Wissenschaftsorientierung und Aktivismus auszuloten“ (Barsch 2020, S. 28). Barsch beschreibt dieses Verhältnis wie folgt: „Unter Berücksichtigung fachlicher Standards ist es daher problematisch, wenn Historiker*innen sich als Aktivist*innen verstehen – wie dies teils von Disability Historians getan wird“ (ebd., S. 33).

Als Ausweg schlägt er das Modell einer „Shared Authority“ vor, eine Rollenaufteilung in einem multiprofessionellen Team, in dem Historiker*innen, Aktivist*innen, diverse Nutzer*innen und Geschichtsdidaktiker*innen zusammenarbeiten (ebd. S. 39). Gleichzeitig stellt er selbstkritisch fest: „In der Realität werden die Rollen nicht immer trennscharf voneinander zu trennen sein. Die Historikerin mit einer Behinderung kann gleichsam im privaten Leben Aktivistin sein. Im professionellen Diskurs jedoch gilt es vor allem, die Rollenklarheit zu bewahren, wozu auch gehört, Interessenskonflikte zu benennen und gegebenenfalls weitere Kontrollinstanzen einzubeziehen“ (ebd. S. 40).

Für mich heißt das im Umkehrschluss, dass Aktivist*innen mit Behinderung auch Geschichte schreiben können, sollen und müssen, wenn die entsprechende Rollenklarheit gewahrt ist. Zu einer solchen Klarheit will ich deshalb noch hinzufügen, dass ich mich einer menschenrechtsbasierten Geschichtsschreibung verpflichtet fühle (vgl. dazu Arstein-Kerslake et al. 2020) und dabei in meiner Schreibweise Wert auf „Verständlichkeit“ lege, ohne auf eine differenzierte Darstellung zu verzichten.

Zum Aufbau dieses Buches


Nach dieser Einleitung werde ich mich im ersten Teil auf eine Spurensuche in Sachen Verfassungen begeben: Wo gibt es Lücken in der Geschichtsschreibung und auch in Verfassungstexten? Ferner skizziere ich die Beratungen zur Entstehung des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 und gehe auf die Frage ein, ob das Merkmal „Behinderung“ seinerzeit einfach nur „vergessen“ wurde. Im zweiten Teil beschreibe ich die Anfänge der (west-)deutschen Behindertenrechtsbewegung sowie die wichtige Rolle der „Arbeitsgruppe Verfassung“ beim Zentralen Runden Tisch der DDR.

Die Teile drei bis sieben, gegliedert nach den Jahren 1990 bis 1994, gehen ausführlich auf die Kämpfe zur Verfassungsergänzung und die Argumentationen der politisch Verantwortlichen ein. In diesen fünf Teilen wird auch meine Position als Aktivist in diesen Kämpfen deutlich werden.

Der achte und letzte Teil umreißt das Nachziehen der Verfassungen der deutschen Bundesländer, die Nachfolgediskussionen zur Grundgesetzergänzung und die weitere Entwicklung der Gesetzgebung hin zu einem Gleichstellungsgesetz. Kurz gehe ich auch auf die rechtliche Bedeutung des neuen Grundgesetzsatzes ein und analysiere die Erfolgsfaktoren aber auch die Probleme der Bewegung.

Eine kleine Dokumentation wichtiger Materialien des Kampfes um die Grundgesetzergänzung sowie eine Zeittafel wichtiger Wegmarken bis zum Inkrafttreten des geänderten Grundgesetzes am 15. November 1994 schließen den Band ab.

Ganz besonders freue ich mich über zwei Gastbeiträge zu diesem Buch. Das ist zum einen das Vorwort der Juristin Theresia Degener zu Fragen des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 und zum anderen das Nachwort von Sigrid Arnade aus der Perspektive einer Aktivistin...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8546-2 / 3779985462
ISBN-13 978-3-7799-8546-4 / 9783779985464
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