Hochschulentwicklung und Akademisierung in der Sozialen Arbeit 1960-1980 (eBook)
155 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8264-7 (ISBN)
II.Von der höheren Fachschule zur evangelischen Fachhochschule Bochum – Akademisierung (auch) aus der Perspektive ehemaliger Student*innen
Carola Kuhlmann
1Vorgeschichte: von den Sozialen Frauenschulen zu den Wohlfahrtspflegeschulen 1908-1960
Die heutigen Fachhochschulen haben ihre Vorläufer mehrheitlich in den Sozialen Frauenschulen (die erste 1908 gegründet), die vor und während des 1. Weltkriegs eine starke Ausbreitung und 1918 eine erste staatliche Anerkennung erhielten. Ihre Entstehung war eng verbunden mit der ersten deutschen Frauenbewegung. Aber auch Frauen, die wenig mit dieser Bewegung zu tun gehabt hatten, engagierten sich – insbesondere im 1. Weltkrieg im Bereich der “Kriegsfürsorge”. Auf diese Weise kam auch die spätere langjährige Leiterin der 1927 gegründeten Wohlfahrtsschule der westfälischen Frauenhilfe in Gelsenkirchen (später Bochum), Margarete Cordemann, zu ihrem Tätigkeitsfeld (Cordemann 1963).
In der Weimarer Republik entwickelte sich aus der Armen- eine Wohlfahrtspflege, die sich auch der verarmten Mittelschicht annahm und zunehmend ihren Wohltätigkeitscharakter verlor. In der Zeit des Nationalsozialismus setzte sich eine rassistische Interpretation sozialer Notlagen auch im Feld der Ausbildungsstätten durch. Aus den Wohlfahrts- wurden ’Volkspflegerinnen‘, die ihren Teil an der Verantwortung für die Verfolgung sogenannt ‚rassisch minderwertigen‘ Klient*innen trugen (Kuhlmann 2017).
1945 gab es im Deutschen Reich 73 Volkspflegeschulen, davon auch einige in Trägerschaft der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) (vgl. Reinicke 2012). Die meisten Schulen waren allerdings in konfessioneller oder städtischer Trägerschaft verblieben – so auch die Gelsenkirchener Wohlfahrtsschule. Aber auch an dieser Schule, wie an allen anderen Volkspflegeschulen wurden sozialrassistische Konzepte gelehrt und leider geschah dies auch nach 1945 noch einige Jahre. In den 1950er bis 1960er Jahren dominierten weiter autoritäre Konzepte der Fürsorge und auch autoritäre Lehrverhältnisse in den Ausbildungsstätten. Es gab jedoch an einigen Schulen Versuche an die Tradition vor 1933 anzuknüpfen, was mit Hilfe von Remigrant*innen wie Herta Kraus, Gisela Konopka oder Louis Lowy auf lange Sicht gelang und schließlich zu den Reformen der 1960er Jahre führte (Amthor/Bender-Junker/Kuhlmann 2022).
2Von den Höheren Fachschulen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu den Fachhochschulen im Sozialwesen (1960-1971)
Die Höheren Fachschulen für Sozialarbeit entstanden 1960 durch eine Ausbildungsreform in der Wohlfahrtspflege. Zur zweijährigen Ausbildung an den Schulen für Wohlfahrtspflege wurden seit den 1920er Jahren nur Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen oder kaufmännische Angestellte zugelassen, die dann je nach Erstberuf Gesundheits-, Jugend- oder Wirtschaftsfürsorgerinnen (bei gleichem Lehrplan) wurden. Männer hatten zuvor meist einen handwerklichen Beruf erlernt und waren hauptsächlich in der Jugendfürsorge tätig gewesen z.B. im Rauhen Haus in Hamburg.
1960 wurde die Ausbildung um ein Jahr verlängert und auch die staatliche Anerkennung wurde nun erst nach einem einjährigen Berufspraktikum verliehen. Entscheidender war aber, dass die Aufteilung in die drei Fachrichtungen entfiel und mit ihr auch die Notwendigkeit zu einer Erstausbildung. Zugangsvoraussetzung war nun die mittlere Reife und ein Vorpraktikum. Damit verlor die Soziale Arbeit aber auch den Charakter als hochwertige Zusatzausbildung für gesundheitliche, pädagogische und kaufmännische Frauenberufe, bzw. handwerkliche Männerberufe.
Nach der Reform 1960 und der Entstehung der Höheren Fachschulen hießen die Absolvent*innen nun nicht mehr Gesundheits-, Jugend- oder Wirtschaftsfürsorger*innen, sondern „Sozialarbeiter/Sozialpädagoge“, damals in der rein männlichen Form, obwohl nach wie vor die Mehrheit an diesen Schulen Frauen waren.
Mit dem Abschluss an einer Höheren Fachschule erlangten die Schüler*innen auch erstmals, wenn sie Verwaltungslehre im Stundenplan hatten, die Befähigung zum gehobenen Dienst in der öffentlichen Verwaltung in die Stufe Vb – ein wichtiger Schritt in Richtung Aufstiegschancen (Amthor 2003, S. 487 ff.). Zu diesem Zeitpunkt war der soziale Beruf schon länger kein reiner Beruf für die Töchter der oberen Mittelschicht mehr, der er zu Beginn gewesen war, weshalb diese Aussichten durchaus auch für immer mehr Männer attraktiv waren.
In einer Studie über die Evangelischen Sozialschule Bochum wurden die Karteikarten von über 2000 Schüler*innen aus den Jahrgängen 1927-1971 ausgewertet. Der Anteil der Männer, die zunächst nach 1945 noch in Sonderkursen unterrichtet wurden, hatte stetig zugenommen und war in den 1960er Jahren fast auf die Hälfte angewachsen, ebenso der Anteil der Angehörigen der „unteren Mittelschicht“ (Willemsen/Müller 1981a, S. 32)3.
Insbesondere für Männer war die Sozialarbeit auch bisher ein Auf- oder Ausstiegsberuf gewesen, im Ruhrgebiet vor allem aus dem Bergbau. Diese Effekte verstärkten sich nach der Fachschulgründung – nicht nur in Bochum.4 Auch der Trend, dass zunehmend Kinder aus nicht-akademischen Familien diese Ausbildung aufnahmen, ließ sich allgemein und lässt sich bis heute beobachten.5
Eine reine Frauenausbildung war dagegen der Beruf der Kindergärtnerin geblieben. Daher war auch die darauf aufbauende Höherqualifizierung zur Jugendleiterin für Männer nicht geöffnet. Das Berufsprofil umfasste die Leitung von Kindergärten, aber auch die von Kinderheimen und Horten sowie den Bereich der Kindergärtnerinnenausbildung. Erst als 1960 aus den Schulen für Jugendleiterinnen ebenfalls Höhere Fachschulen wurden – und zwar Fachschulen für Sozialpädagogik – wurden auch Männer zugelassen.
Es gab daneben noch einen anderen Typus der Fachschulen für Sozialpädagogik, der sich inhaltlich nicht auf Kindergärten, sondern auf die Jugendfürsorge konzentrierte und der in der Tradition reiner Männerschulen stand, wie z.B. die 1948 in Dortmund von dem Theologen Friedrich W. Siegmund-Schulze gegründete Schule, die sich 1952 in „sozialpädagogisches Seminar” umbenannt hatte und ab 1960 sozialpädagogische Fachschule wurde (Pfaffenberger 2000).
Wir sehen hier zwei verschiedene sozialpädagogische Konzepte: Erstens die aus der Schrader-Breymann-Tradition kommende sozialpädagogischen Ausbildung nach Pestalozzi-Fröbel, d.h. ein elementarpädagogisches Bildungskonzept6 und zweitens das aus der sozialpädagogischen Bewegung und der Herman-Nohl-Schule kommenden Konzept einer Jugendfürsorge, das Hilfen für Kinder und Jugendliche bereitstellen sollte, die „Probleme machen, weil sie welche haben.“ (Nohl 1927, S. 78). Diese unterschiedlichen sozialpädagogischen Selbstverständnisse zur Zeit der Zusammenlegung der Fachschulen im Zuge der Fachhochschulreform 1971 haben ihren Anteil an den jahrzehntelangen Kontroversen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
Im Hintergrund der Gründung der Fachhochschulen stand auf der Bundesebene die geplante Akademisierung der Ingenieurs- und Wirtschaftsschulen. Es war der Einsatz der Konferenz der Wohlfahrtsschulen und der Wohlfahrtsverbände auf Bundes- und Landesebene notwendig gewesen, um zu erreichen, dass die Schulen im Sozialwesen 1968 in das „Abkommen zur Vereinheitlichung des Fachhochschulwesens“ mit aufgenommen wurden. Sie wären andernfalls zu einfachen Fachschulen degradiert worden, denn die Höheren Fachschulen wurden bundesweit abgeschafft.
Nach den Fachhochschulgründungen löste sich die...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8264-1 / 3779982641 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8264-7 / 9783779982647 |
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