Eine Sozialpädagogik der Pflege -  Julia Schröder

Eine Sozialpädagogik der Pflege (eBook)

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2024 | 1. Auflage
128 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8388-0 (ISBN)
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In den aktuellen Diskursen Sozialer Arbeit erweist sich Pflege tendenziell als eine Leerstelle. Dies überrascht insofern, als dass sich aus historischer Perspektive sowie auf professioneller, konzeptioneller sowie Handlungsebene vielfältige Verwurzelungen und Bezüge von Pflege und Sozialer Arbeit aufzeigen und entfalten lassen. Die vorliegende Analyse greift diese Bezüge auf und entwickelt im Ergebnis eine Sozialpädagogik der Pflege, die zur Lebensspanne quer liegt und drei Ankerpunkte fachlichen Handelns rekonstruieren und systematisieren lässt - Protection, Participation und Provision.

Julia Schröder, Jg. 1981, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind metaphorische Kommunikation, Gender Studies, Beratungs- und Gewaltforschung, Frühe Hilfen.

2.Care/Sorge vs. Pflege – erste Schritte zur Systematisierung eines sozialpädagogischen Pflegebegriffs


2.1Einleitung2


Wie in Kapitel 1 angekündigt, soll in diesem Kapitel die Frage bearbeitet werden, inwiefern Pflege an bisherige Diskurse der Sozialpädagogik anschlussfähig ist, insbesondere an die Debatte um Care/Sorge. Diese Zielformulierung ist durchaus ambitioniert, denn erstens scheint der Care- bzw. Sorgebegriff für die Sozialpädagogik zwar einerseits zentral zu sein, andererseits bleibt jedoch diffus, was Care/Sorge im Kontext Sozialer Arbeit eigentlich bedeutet. Zweitens wurde bereits in der Einführung aufgezeigt, dass sich zumeist ein Verständnis von Sozialer Arbeit beschreiben lässt, welches weitgehend als frei von Pflege oder gar in Abgrenzung zum Pflegebegriff konstruiert wird. Das heißt, eine erste Annäherung der Sozialpädagogik an den Care- bzw. Sorgebegriff findet in Form einer Negation statt, mit der Pflege weitgehend ausgeklammert wird.

Diese (mitunter auch als disziplinär gerahmte) Trennung von Care/Sorge sowohl von Sozialer Arbeit als auch von Pflege hat Mennemann zufolge eine lange Tradition (vgl. Mennemann 2005). Gleichsam kann die Differenzierung irritieren. So wird Care im deutschen Sprachraum explizit mit Hilfe, Betreuung, Sorge oder Pflege übersetzt, wobei bereits an dieser Begriffsvielfalt erkennbar wird, dass es sich hier nicht um ein klar umrissenes bzw. einziges Aufgabenfeld handelt – weder im Hinblick auf die Zielgruppen noch hinsichtlich der Aufgaben oder der Verhältnisbestimmung zwischen den Menschen, die zueinander in einer Sorgebeziehung stehen. Auch im englischen Sprachraum deckt der Begriff Care ein ausgesprochen breites Spektrum informeller Hilfen und professioneller sozialer Dienstleistungen ab und beschreibt ein Kontinuum pflegerischer, fürsorgerischer und pädagogischer Tätigkeiten.

Nichtsdestotrotz werden in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit die multiplen Dimensionen von Care/Sorge, Pflege und pädagogischem Handeln kaum zusammengeführt und mitunter sogar ausgeblendet. Insgesamt fällt im Hinblick auf den Stand der (deutschsprachigen) Diskussionen um Care/Sorge auf, dass zwar die Debatten um Care und um Pflege vielfältig sind, bis dato aber im Allgemeinen wenig aufeinander bezogen und kaum als Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit konkretisiert werden. Zugleich scheint jedoch eine Zusammenführung von Care, Pflege und Sozialer Arbeit unumgänglich, denn es lässt sich konstatieren, dass diese Begriffskonstruktionen das Feld Sozialer Arbeit deutlich strukturieren und gestalten, und zwar auf der Gesellschafts-, der Organisations- und der Handlungsebene.

Vor diesem Hintergrund soll das folgende Kapitel als erste begrifflich-theoretische Suchbewegung verstanden werden. In einem ersten Schritt werden die verschiedenen Diskussionslinien um Pflege und Care/Sorge dargelegt (2.2-2.3). Dabei wird insbesondere danach gefragt, inwiefern die in den Diskussionslinien rekonstruierten Verständnisse von Pflege und Care/Sorge für die Soziale Arbeit anschlussfähig sind. In einem zweiten Schritt wird versucht, die wissenschaftlichen Debatten um Pflege und Care/Sorge zusammenzudenken und aufzuzeigen, weshalb Care/Sorge Pflege braucht und Pflege Care/Sorge (2.4).

2.2Theoretische Suchbewegung I: Pflege


Zunächst lässt sich festhalten, dass es ein außerordentlich facettenreiches Vorhaben darstellt, Pflege theoretisch zu definieren, zu beschreiben und zu klassifizieren. Die ersten Pflegetheorien wurden ab den 1950er Jahren überwiegend von US-amerikanischen Pflegewissenschaftlerinnen vorgelegt. Zu den bekanntesten Ansätzen zählen dabei die „Therapeutische Beziehung“ nach Peplau (1952), der „Interaktionsprozess“ nach Orlando (1961), die „Alltagserfahrung und -theorie“ nach Wiedenbach (1964), die „Lebensaktivitäten“ nach Henderson (1966), die „Professionelle Beziehung“ nach Travelbee (1966), die „Energiefelder“ nach Rogers (1970) sowie die „Subjektive Lebenswelt“ nach Paterson und Zderad (1976). Trotz ihrer je unterschiedlichen Akzentuierungen haben diese Pflegetheorien gemein, dass sie Pflege in erster Linie als berufliche Tätigkeit denken und dabei den Anspruch verfolgen, sie von der Medizin zu emanzipieren und als eigenständige Disziplin ‚Pflegewissenschaft‘ zu etablieren.

Nach Hoops lassen sich die verschiedenen Ansätze überwiegend als bedürfnistheoretische Ansätze charakterisieren. Das heißt, sie zielen in ihren inhaltlichen Ausrichtungen im Wesentlichen a) auf die Bedürfnisse der Person ab, die gepflegt wird, und b) darauf, dass Pflegende die Tätigkeiten übernehmen, welche die zu Pflegenden im Regelfall selbst vollführen würden (vgl. Hoops 2013: 26). Basis dieser Ansätze ist demnach die Annahme von Grundbedürfnissen – nach Henderson sind es 14 an der Zahl, vom Atmen über Essen und Trinken bis hin zum Lernen (vgl. Henderson 1960: 12) –, die regulär von Menschen selbst oder aber im Fall von Selbstpflegedefiziten von einer professionellen Pflegekraft erfüllt werden. Bedürfnisorientierte Pflegetheorien können damit als strukturfunktionalistisch und universalistisch klassifiziert werden.

Hieran wird ersichtlich, dass die angeführten Theorien als „Theorien großer Reichweite“ und damit als sogenannte „Grand Theories“ angelegt waren, um, wie Moers und Schaeffer es beschreiben, „möglichst den gesamten Geltungsbereich der neuen Disziplin abdecken“ (Moers/Schaeffer 2011: 51) zu können. In der Folge sind diese US-amerikanischen Großtheorien vielfach als normativ kritisiert worden – als raum- und zeitlose, als kontextlose idealtypische Pflegewirklichkeiten, die am Ende wenig mit der vieldimensionalen Pflegepraxis gemein haben (vgl. Stemmer 2003: 52).

Aufgrund der Tatsache, dass die Ansätze damit wenig zur Lösung von Praxisproblemen beitrugen, kam es zu einer eher europäisch geprägten Neuorientierung in der Theoriebildung, die mit einer sich zunehmend etablierenden Pflegeforschung einherging (vgl. z. B. Benner/Wurbel 1997). Exemplarisch sei hier auf die britische Pflegeforschung verwiesen, die sich im Gegensatz zur US-amerikanischen vielmehr als praktische Wissenschaftsdisziplin versteht und die Entwicklung einer eigenen theoretischen Wissensbasis als sekundär erachtet (vgl. Schröck 1989). Auch für die deutsche Entwicklung der Pflegewissenschaft konstatieren Moers und Schaeffer eine Präferenz für empirisch basierte Theorien, d. h. Theorien mittlerer und kleinerer Reichweite, da diese vornehmlich auf die Probleme der Pflegepraxis Bezug nehmen (vgl. Moers/Schaeffer 2011: 56).

Trotz dieser paradigmatischen Wende – weg von einem mechanistisch-technokratischen und hin zu einem interpretativen Verständnis von Pflege (vgl. Benner 1994) – erweist sich das Verhältnis von Forschung und Theorie im Rahmen der Pflegewissenschaft nach wie vor als kompliziert. Während im Kontext der rationalistisch-deduktiven Theoriebildung der Grand Theories empirische Forschung zunächst weitgehend ausgeklammert wurde, wird aktuell, nach einer intensiven Phase der Kritik und einer, wie Moers und Schaeffer es mit Blick auf Deutschland beschreiben, „lang anhaltenden Theoriemüdigkeit“ (ebd.: 61), erneut die Notwendigkeit betont, Pflege bzw. pflegerisches Handeln theoretisch zu fassen (vgl. Stemmer 2003: 52). Nach Hülsken-Giesler (2008) oder auch Remmers (2003) wird dabei vor allem die leibliche Dimension der Pflege fokussiert. So definiert beispielsweise Remmers Pflege „als eine durch leibliche Gegenseitigkeit zu charakterisierende Beziehungsarbeit“ (Remmers 2011: 27), die sowohl professionell als auch informell erbracht werden kann. Hülsken-Giesler betont hingegen eine der Pflege inhärente widersprüchliche methodische Doppelseitigkeit. Damit meint er, dass professionelle Pflege stets durch den widersprüchlichen Zusammenhang zwischen allgemeinem Wissenschaftsbezug und personalem Handlungsbezug gekennzeichnet ist (vgl. Hülsken-Giesler 2008).

Diese ‚neuen‘ theoretischen Bestrebungen mögen...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8388-5 / 3779983885
ISBN-13 978-3-7799-8388-0 / 9783779983880
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