Teilhabe wirksam gestalten -  Matthias Widmer

Teilhabe wirksam gestalten (eBook)

Soziale Dienstleistungen mit Wirkmodellen entwickeln und steuern
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
140 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043249-9 (ISBN)
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Dienstleistungsorganisationen der Sozialen Arbeit sind gegenüber den Leistungsträgern, politischen Trägern und Kundinnen und Kunden mit Hilfebedarf verpflichtet, die Wirksamkeit und die Qualität ihrer Leistungen auszuweisen. Für Wirkungsnachweise, aber auch für die Entwicklung wirksamer Leistungen eignen sich Wirkmodelle besonders gut. Das Buch vermittelt Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten von Wirkmodellen und führt in die zentralen Bausteine ein, die bei der Entwicklung von Wirkmodellen und dem Ableiten entsprechender Messungen eingesetzt werden. Dafür bietet das Buch auch übersichtliche grafische Darstellungen, mithilfe derer Wirkmodelle im Team entwickelt werden können. Anhand von Praxisbeispielen wird deren Anwendung illustriert, zudem werden Messinstrumente und Auswertungsmöglichkeiten vorgestellt. Das Buch bietet so einen praktischen Einstieg in die Arbeit mit Wirkmodellen.

Matthias Widmer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Er lehrt und forscht zu Normalisierung, Inklusion, Teilhabe, Mitwirkung und Selbstbestimmung.

1 Wer seine Wirkungsziele und deren Entstehungsbedingungen kennt, ist im Vorteil


T Überblick

In diesem Kapitel wird darauf eingegangen, wie das Verhältnis zwischen Personen mit Behinderungen und Organisationen mit Leistungen für Personen mit Behinderungen im Zuge neuerer Gesetzgebungen spürbaren Veränderungen unterworfen ist. Der verstärkte Fokus auf Aspekte wie Selbstbestimmung und Wahlfreiheit führt dazu, dass das plausible Herausstellen der Wirkung der eigenen Angebote und Leistungen immer mehr Bedeutung erhält. Das hat Folgen für die Positionierung von Dienstleistungsorganisationen im Markt der Nachteilsausgleiche, in dem sich Personen mit Behinderungen immer eigenständiger bewegen.

1.1 Normative Wirkungsziele für Personen mit Behinderungen


Dienstleistungsorganisationen für Personen mit Behinderungen haben zum Ziel, die behinderungsbezogenen Nachteile der Leistungsnutzenden zu reduzieren. Die Antwort auf die Frage, welches die auszugleichenden Nachteile sind, ist nicht beliebig. Diese werden aus normativen Zielvorgaben abgeleitet. Wenn beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BrK) das Recht auf die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Einbeziehung in die Gesellschaft vorgibt (Art. 3c BGBl. II 2008, S. 1424), wird die Lebenssituation der Person mit Behinderungen mit vergleichbaren Personengruppen ohne Behinderungen verglichen. Die festgestellte Differenz stellt den eigentlichen Nachteil dar. So ist beispielsweise die berufliche Teilhabesituation einer Person mit Behinderungen in einer herkömmlichen Werkstätte für Menschen mit Behinderungen per Definition ein Nachteil, der an der separierten Belegschaft der Werkstätte abgelesen werden kann. Die Abweichung aus dem Vergleich lässt noch nicht abschließend darauf schließen, dass eine Werkstätte für Menschen mit Behinderungen als Nachteilsausgleich ungeeignet ist, dafür müssen zusätzliche Alternativbetrachtungen vorgenommen werden. Beispielsweise, ob die Differenz ohne das Vorhandensein einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen größer oder kleiner wäre, oder wie das Kompetenzerleben der Person ausfallen würde, wenn sie in einem Sozialbetrieb nahe am allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten würde. Erst wenn die Abwägung aller möglichen Alternativen zur Einsicht führt, dass die Werkstätte die bestmögliche Annäherung an die Setzung der UN-BrK ist, kann der Nachteil als vorläufig optimal akzeptiert werden. Das Akzeptieren entbindet jedoch nicht von der Pflicht nach der andauernden Suche nach weiteren Annäherungsmöglichkeiten.

Mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Deutschland erhält die Evaluation von Dienstleistungen für Personen mit Behinderungen einen bedeutenden Stellenwert. Das BTHG markiert einen Paradigmenwechsel, weil es den Blick auf die tatsächliche Wirkung von nachteilsausgleichenden Dienstleistungen richtet, anstatt sich ausschließlich auf die Bereitstellung von Ressourcen zu konzentrieren. Diese Neuausrichtung unterstreicht die Wichtigkeit von Wirkungsanalysen, die zentral sind, um die Effektivität und Effizienz von Maßnahmen zu beurteilen und sicherzustellen, dass sie den Bedürfnissen der Personen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen optimal entsprechen. Doch bevor diese angegangen werden können, muss die komplexe Bestimmung der Wirkungs- und Qualitätsziele vorgenommen werden, die nicht – wie die Ausführungen oben zeigen – mit der Feststellung des Inklusionsgrades abgehandelt werden kann. Vielmehr sind vielfältige Zielgrößen gegeneinander abzuwägen, die sich teilweise auch widersprechen (zu den Begriffen Wirkung, Wirksamkeit und Qualität ▸ Kap. 3).

Beeinträchtigung, Behinderung oder Handicap?

Fachpersonen der Sozialen Arbeit stehen bisweilen vor der Herausforderung, passende Begriffe zu finden, die den Kern ihrer Arbeit adäquat beschreiben. Dies zeigt sich beispielhaft in der Frage, ob Begriffe wie Beeinträchtigung, Behinderung, Handicap, Betreuer*in, Begleiter*in oder Assistent*in treffend sind, um zu beschreiben, was man für wen tut. Wichtiger als die exakte Begriffsbestimmung ist der Diskurs selbst, da die Auseinandersetzung mit den Begriffen gesellschaftliche Wertungen widerspiegelt und individuelle Einstellungen reflektiert. Da Bewertungen und Einstellungen einem stetigen Wandel unterliegen, ist die Diskussion nie abgeschlossen, und Begriffe befinden sich in einem fortwährenden Veränderungsprozess. Dennoch ist es in Publikationen wie dieser notwendig, einen Sprachgebrauch zu bestimmen. In den letzten Jahren haben sich im deutschsprachigen Raum die Begriffe Beeinträchtigung und Behinderung etabliert. Die Bedeutung hinter diesen Begriffen wird je nach Quelle sehr unterschiedlich und manchmal auch widersprüchlich ausgelegt, was zusätzlich durch Übersetzungen zwischen verschiedenen Sprachen kompliziert wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bietet eine hilfreiche Unterteilung an, bei der das Phänomen Behinderung sogar in drei Dimensionen unterschieden wird (übersetzt aus dem Englischen, vgl. WHO 2001, 3 ff):

  • Beeinträchtigung (impairment) ist eine körperliche Schädigung, die angeboren ist oder aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls erworben wurde. Die Folge ist eine dauerhafte gesundheitliche Schädigung. Diese wird mit einer medizinischen Diagnose festgestellt.

  • Behinderung (disability) bezeichnet die beeinträchtigungsbedingte Einschränkung oder das Fehlen der Fähigkeit, eine Tätigkeit so auszuüben, wie es für Menschen als normal angesehen wird.

  • Handicap bedeutet, dass die Person aufgrund der Funktionseinschränkung (Behinderung), die durch die Beeinträchtigung verursacht wird, im Vergleich zu Gleichaltrigen einen Nachteil bei der Erfüllung einer normalen Rolle im Leben erfährt. Das Handicap kann auch durch gesellschaftliche Umweltbedingungen verursacht werden.

Im deutschsprachigen Raum etablieren sich seit den 2020er Jahren unter Selbstvertreter*innen Definitionen, die die einschränkenden Umweltbedingungen mehr betonen als die individuellen Beeinträchtigungen. Die Definition der WHO liegt in dieser Hinsicht nahe beim Begriff Handicap. Jedoch bevorzugen Selbstvertreter*innen im deutschsprachigen Raum den Begriff Behinderung, um dasselbe auszudrücken, weil in der deutschen Terminologie gesellschaftliche Barrieren mit diesem Begriff besser zum Ausdruck gebracht werden. Im Verlauf dieser Publikation wird daher der Begriff Personen mit Behinderungen verwendet.

1.2 Widersprüchliche Wirkungsziele


Die oben eingeführte Zielgröße Einbeziehung in die Gesellschaft (Art. 3c BGBl. II 2008, S. 1424) kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass der Alltag in Dienstleistungsorganisationen für Personen mit Behinderungen komplex ist, denn vielfältige Wirkungsziele müssen unter einen Hut gebracht werden, die sich teilweise auch widersprechen. Das zeigt sich gut, wenn man zu der Einbeziehung in die Gesellschaft Setzungen wie die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen (Art. 3a BGBl. II 2008, S. 1424) oder das Wunsch- und Wahlrecht, wie es im BTHG (§8 SGB IX) festgeschrieben ist, hinzufügt. Wie ist die Situation zu bewerten, wenn eine Person mit Behinderungen, die frei, informiert und voller Überzeugung in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen arbeiten will, obwohl sie in einer Sozialfirma nahe am allgemeinen Arbeitsmarkt bestehen könnte? Ist nun Inklusion oder Wahlfreiheit stärker zu gewichten? Bei einem solchen Fall besteht keine Differenz zur Setzung in Art. 3a der UN-BrK, aber eine große Differenz zu Art. 3c.

1.3 Wirkungsziele und Qualitätsversprechen


Wer sich als Dienstleistungsorganisation im Markt der Nachteilsausgleiche positionieren will, ist an normative Vorgaben, wie sie im vorhergehenden Kapitel exemplarisch beschrieben wurden, gebunden. Dienstleistungsorganisationen stehen neben den Vorgaben aber auch Freiheitsgrade zu Verfügung, innerhalb derer sie sich spezifisch positionieren können. Zum Beispiel können sie sich spezialisieren und bestimmte Nachteilsausgleiche besonders betonen und Vorgaben gar übertreffen. Oder sie akzentuieren Qualitäten, die nicht zwingend sind, aber einen Marktvorteil bedeuten, weil sie für potenzielle Kund*innen besonders interessant sind. Das ist bespielweise dann der Fall, wenn sich eine Dienstleistungsorganisation darauf festlegt, besonders naturnahe und bewegungsfreundliche Arbeitsplätze in einem landwirtschaftlichen Umfeld anzubieten, oder wenn sie besonders urbane Teilhabemöglichkeiten anbietet. In diesem Fall wird von sog. Alleinstellungsmerkmalen oder Qualitätsversprechen gesprochen.

Mit Blick auf einen angestrebten Wirksamkeitsnachweis muss bei normativen Vorgaben der Erreichungsgrad der Wirkungsziele zwingend ausgewiesen werden. Bei den freiwilligen Qualitätsversprechen ist ein Wirksamkeitsnachweis nicht zwingend, führt aber zu einem Marktvorteil, weil die Wirkung der Leistungen gegenüber...

Erscheint lt. Verlag 12.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-17-043249-4 / 3170432494
ISBN-13 978-3-17-043249-9 / 9783170432499
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