Ungleich vereint -  Steffen Mau

Ungleich vereint (eBook)

Spiegel-Bestseller
Warum der Osten anders bleibt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
168 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78122-7 (ISBN)
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»Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.«

Die Diskussion über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West flammt immer wieder auf. Sei es anlässlich runder Jubiläen, sei es nach Protesten. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte. Sie dreht sich im Kreis, auf Vorwürfe folgen Gegenvorwürfe: »Ihr seid diktatursozialisiert!« - »Ihr habt uns ökonomisch und symbolisch kleingemacht!«

Im November jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Bereits zuvor könnte die AfD aus drei Landtagswahlen als stärkste Partei hervorgehen. In dieser Lage meldet sich der »gefragteste Gesellschaftsdeuter im Land« (FAS) mit einer differenzierten Intervention zu Wort. Steffen Mau setzt sich mit prominenten Beiträgen auseinander und widerspricht der Angleichungsthese, laut der Ostdeutschland im Lauf der Zeit so sein werde wie der Westen. Aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren wird der Osten anders bleiben - ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betrifft. Angesichts der schwachen Verwurzelung der Parteien plädiert Steffen Mau dafür, alternative Formen der Demokratie zu erproben und die Menschen etwa über Bürgerräte stärker zu beteiligen.

Ein Buch, das aus Sackgassen herausführt - und für Gesprächsstoff sorgen wird.

Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (st 5092) stand auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Zeit und Deutschlandfunk Kultur. 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

151. Ossifikation statt Angleichung


Die Bundesregierung veröffentlicht in schöner Regelmäßigkeit Berichte zum Stand der Deutschen Einheit, in denen sich allerlei interessante Informationen zur »Angleichung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebensbedingungen der Menschen im vereinten Deutschland« finden.1 Die Politik hat seit der Wiedervereinigung die Überwindung von Unterschieden und das Aufschließen des Ostens zum zentralen Ziel gemacht, über dessen Erreichung in diesen Dokumenten Rechenschaft abgelegt wird. Im letzten Report ist allerdings schon in der Präambel zu lesen, dass die ganze Sache nicht so einfach ist:

Auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Spuren der Teilung Deutschlands noch sichtbar. Gewiss: Strukturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland konnten abgebaut werden, teilweise sind sie verschwunden. Dennoch bewerten viele Ost- und Westdeutsche die Lage des Landes unterschiedlich. Das zeigen auch immer wieder aufflammende Debatten um den Osten und seinen Platz im vereinten Deutschland. Die Folgen der Wiedervereinigung beschäftigen viele Menschen noch immer in besonderer Weise.2

Das Zusammenwachsen schreitet voran, aber – so lässt sich dieses Zitat jedenfalls verstehen – der »Platz des Ostens« ist immer noch umstritten.

Die nicht nur in den Sozialwissenschaften wirkmächtige Modernisierungstheorie3 sagte in den 1990er Jahren voraus, dass es mittelfristig zu einem Aufschließen oder einer Angleichung Ostdeutschlands an Westdeutschland kommen 16und dass der Osten nach einer Übergangsphase dem Westen ähnlicher werden würde. So werde auch sein »Modernisierungsdefizit« überwunden. Auf der Ebene der Ökonomie sprach man gern von »Aufholjagd« und »Aufbau Ost«. Ähnliches galt im Hinblick auf Institutionen, aber auch auf Sozialstruktur, Mentalitäten und kulturelle Orientierungen. Ja, die Aufholprozesse der Transformationsgesellschaft seien von Reibungen begleitet, aber letzten Endes würden viele Entwicklungen auf die Übernahme westlicher (oder besser: westdeutscher) Muster hinauslaufen. Ein Überdauern sozialstruktureller oder kultureller Eigenheiten schien unwahrscheinlich.

Diese Logik der Modernisierung und Angleichung leitete auch die Politik. Zwar ersetzte man die ursprüngliche Vorgabe der »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« 1994 im Grundgesetz durch die weichere Formulierung der »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse«, Richtschnur blieb aber der Abbau innerdeutscher Disparitäten. Wie genau man eine solche Verfassungsnorm ausbuchstabieren kann und soll, ist eine Angelegenheit für Juristen, gesellschaftspolitisch wird darunter aber oft ebenfalls eine Annäherung des Ostens an den Westen verstanden. Im Lichte dieser Zielprojektion wurden weiterhin bestehende Unterschiede als Übergangs- oder Anpassungsprobleme des Ostens interpretiert, welche es zu lösen gelte.

Blickt man nur auf einige wenige statistische Kennzahlen, hat sich der Osten in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht gar nicht so schlecht entwickelt. Seit 2017 ist das demografische Ausbluten gestoppt, es ziehen etwas mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Die große Kluft in der Arbeitslosenquote hat sich verringert, die subjektive Lebenszufriedenheit hat sich angenähert, in den vergangenen zwei Jahren fiel das Wirtschaftswachstum in Ostdeutsch17land sogar höher aus als in Gesamtdeutschland. Nachrichten zu umfangreichen privaten wie öffentlichen Investitionen und zur Ansiedlung technologieintensiver Industrien – von der Batterieherstellung über die Chipproduktion bis hin zu E-Mobilität – machen Hoffnung, dass sich mittelfristig auch die Produktivitätslücke schließen könnte. Der Umstand, dass sich prestigeträchtige globale Unternehmen nun Ostdeutschland als Standort aussuchen, lässt viele bereits von einem Wirtschaftsboom träumen. Industrieparks, Fertigungshallen und Breitbandausbau wären dann die neuen blühenden Landschaften. Der Ostbeauftragte Carsten Schneider spricht von einer »Chancenregion«, um Aufbruchsstimmung zu vermitteln.

Was die »innere Einheit« anbelangt, ist ebenfalls viel Positives zu berichten. So finden wir im Ost-West-Verhältnis ein gelebtes und zur Selbstverständlichkeit gewordenes Zusammenwachsen. Es gibt mannigfache Sozial- und Solidarformen (Familien, Freundschaftsnetzwerke, Vereine), in denen die Zugehörigkeit zu einem Landesteil fast vollständig in den Hintergrund tritt. Mobilität sowie innerdeutsche Wanderung haben zu unzähligen Durchmischungen geführt, so dass Ost und West wie das verrührte Ei nicht mehr in die Ausgangsbestandteile – Eiweiß und Dotter – zurückentzweit werden können (im Amerikanischen sagt man so schön: »You cant't unscramble scrambled eggs«). Der soziale Beziehungsstatus ist gar nicht so schlecht, an Scheidung denkt niemand auch nur im Entferntesten.

Doch dies ist nur eine Seite der Medaille, die fortbestehende, zum Teil sehr hartnäckige Unterschiede verdeckt. Wer sich eine Vielzahl unterschiedlichster Indikatoren anschaut – Ausstattung der Haushalte, Erwerbsquoten, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiografie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, 18Exportorientierung der Wirtschaft, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Hauptsitze großer Firmen, Produktivität, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, Anteil junger Menschen, Moscheendichte, die Lebenserwartung von Männern, die durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, Parteimitgliedschaft, Kaufkraft, Wert des Immobilieneigentums, Größe des Niedriglohnsektors –, der kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Eine Phantomgrenze durchzieht das geeinte Land. Färbt man die 294 Landkreise und 106 kreisfreien Städte in Deutschland anhand dieser Indikatoren ein, zeichnen sich die Umrisse der alten Bundesrepublik und Ostdeutschlands klar voneinander ab. Wie beim Tiefdruckverfahren tritt die Silhouette der DDR in diesen Karten noch mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung überraschend deutlich hervor.

Bei vielen dieser Aspekte ist ein Ausmendeln von Unterschieden jedenfalls nicht erkennbar, was zumindest einige Prämissen des Angleichungsdiskurses irritieren sollte. Der allfällige Hinweis darauf, dass sich Ostdeutschland zunehmend diversifiziert und daher kaum als einheitlich zu begreifen ist, hat seine Berechtigung (ebenso wie das Argument, dass es auch in Westdeutschland strukturschwache Gegenden gibt, die in mancher Hinsicht das Schicksal abgehängter ostdeutscher Regionen teilen). Aber dennoch stoßen wir – in der Gesamtheit betrachtet – auf übergreifende Muster, die die Analyseebene Ost und West weiterhin sinnvoll erscheinen lassen. Mehr noch: Wir können feststellen, dass sich manche Unterschiede trotz anderer Erwartungen aushärten und reproduzieren – kulturelle, sozioökonomische und politische.

Es scheint sich eine bleibende Unterschiedlichkeit festzusetzen, und man fragt sich, was die Politik genau meint, 19wenn sie an dem Ziel festhält, »die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden« (so steht es etwa im letzten Koalitionsvertrag, meine Hervorhebung).4 Zwar operieren wir bis heute mit der Angleichungslogik, doch ihre Hintergrundannahmen werden brüchiger. Natürlich, wenn es um die Angleichung ökonomischer Lebensbedingungen geht, kann man sich über dieses Ziel schnell einig werden. Bei vielen anderen Aspekten sieht es komplizierter aus. Wo wünschen wir uns denn wirklich ein Verschwinden von Unterschieden und ein Aufschließen des Ostens zum Westen? Bei der Rente und den Einkommen ja, aber bei den Mieten, der Schulqualität oder dem Gender-Pay-Gap bitte nicht. Bei der Produktivität, den Spitzenjobs und den Vermögen ja, aber nicht bei der Beschäftigungsquote von Frauen, der Kita-Abdeckung, dem Anschluss von Wohnungen an Fernwärmenetze oder der Theaterdichte, die im Osten höher sind. Die Egalisierungshoffnung (oder Unterschiedsbeseitigungserwartung) lässt sich als normativer Maßstab kaum aufrechterhalten, wenn man sie nicht hinreichend konkretisiert. Wir erwarten von Bayern oder dem Saarland ja auch keine Angleichung an den Rest der Republik. Dazu kommt, dass die Bundesrepublik-West selbst ein »moving target« ist und sich fortwährend verändert.

Angebrachter, als auf eine Angleichung zu hoffen, wäre es aus meiner Sicht, von der Verstetigung ostdeutscher...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-518-78122-7 / 3518781227
ISBN-13 978-3-518-78122-7 / 9783518781227
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