Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen -  Georg Theunissen

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen (eBook)

Lehrbuch für die Heilerziehungspflege, Heilpädagogik und (Geistig-)Behindertenhilfe
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
372 Seiten
Lambertus Verlag
978-3-7841-3749-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
28,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Das Buch befasst sich mit autistischen Personen mit Lernschwierigkeiten und komplexen Beeinträchtigungen und nicht nur - wie in der Fachliteratur der letzten Jahre häufig üblich - sogenannten hochfunktionalen oder Asperger Autist*innen. So sollen alle Personen aus dem Autismus-Spektrum davon profitieren können. Das Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik ist mit kleinen, zwischengeschalteten Textblöcken zu pädagogischen Hinweisen oder Tipps sowie Beispielen aus der Praxis gestaltet. Dies lockert das Buch auf und macht es leicht zugänglich. Zugleich ist es in verständlicher Sprache verfasst, die oft bei Fachbüchern vermisst wird. Neu in der 3. Auflage ist die Berücksichtigung des Klassifikationssystems ICD-11. Außerdem wurden neuere Befunde und Erkenntnisse aus der Autismusforschung eingearbeitet.

Prof. em. Dr. Georg Theunissen, Dipl-Päd., Heil- u. Sonderpädagoge, Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gründer des ersten Lehrstuhls für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum.

KAPITEL II


Spezielle Besonderheiten und Begleiterscheinungen


Das zweite Kapitel befasst sich mit speziellen Besonderheiten und Begleiterscheinungen, denen wir in der Arbeit mit unserer Bezugsgruppe häufig begegnen oder die bisher wenig Beachtung gefunden haben.

Das betrifft insbesondere das Thema der Hyperlexie, das wir daher nicht nur theoretisch, sondern auch mit einem richtungsweisenden Programm für die Praxis der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik aufbereitet haben. Ferner sind wir auf spezielle Aspekte im Hinblick auf sensorische Besonderheiten eingegangen, die gleichfalls hohe Praxisrelevanz haben und zum Basiswissen zählen sollten.

Dies gilt ebenso für hochgradige Sinnesbehinderungen im Hören und Sehen, für Begleiterscheinungen wie ADHS, Persönlichkeits- oder psychische Störungen, Traumafolgestörungen, Krisen und schwere Verhaltensauffälligkeiten. Wie wir noch sehen werden, handelt es sich hierbei keineswegs um seltene Erscheinungen. Daher macht nicht nur mit Blick auf unsere Einleitung, sondern ebenso angesichts der hohen Prävalenz einiger Begleiterscheinungen die Bezeichnung „komplexe Beeinträchtigungen“ Sinn.

Bei psychischen Begleitstörungen kommt psychiatrisch-klinischen Erkenntnissen und Sichtweisen eine zentrale Rolle zu. So ist ein pädagogisch dimensioniertes Unterstützungssystem bei psychischen Begleitstörungen auf psychiatrische Hilfen (z. B. durch Psychopharmakotherapie) angewiesen, wenn es um geeignete Unterstützungsleistungen geht. Diese gilt es in einem multidimensionalen Konzept so zu verknüpfen und miteinander abzustimmen, dass einer autistischen Person, der neben einer kognitiven Beeinträchtigung zusätzliche Kommunikationseinschränkungen und schwere psychische Störungen nachgesagt werden, bestmögliche Unterstützung für ein „Leben mit Autismus“ geboten werden kann.

Werden bei einer solchen Komplexität an Beeinträchtigungen die psychischen Begleitstörungen von den gegebenen Lebensbedingungen losgelöst betrachtet und behandelt, haben wir es mit einem therapeutisch-konzeptionellen Kunstfehler zu tun, der in aller Regel das pädagogische Unterstützungssystem überfordert, zur Hilflosigkeit führt und zu einer restriktiven Praxis verleitet (vgl. Theunissen & Kulig 2019, 30 ff., 36 ff.; Theunissen u. a. 2018, Kap. C2 und C3; auch Theunissen 2021c, 196 f.).

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es jenseits der Besonderheiten und Begleitstörungen im Kontext von Autismus mit dem in der ICD-11 erwähnten „Verlust zuvor erworbener Fähigkeiten“ (WHO 2023a) noch ein spezielles Phänomen gibt, welches Eltern in starkem Maße verunsichert und Fachleute hilflos macht (vgl. Jack & Pelphrey 2017, 14 ff.). Eine solche „Regression“ betrifft nicht selten eine plötzlich auftretende Situation, in der ein Kind nach einer normalen (auch sprachlichen) Entwicklung vor seinem dritten Lebensjahr seine sprachliche und mitunter auch seine non-verbale Kommunikation sowie Spielfertigkeiten verliert, in seinem sozialen, adaptiven und motorischen Verhalten abbaut, sich immer mehr sozial zurückzieht, ein mangelndes soziales Interesse und kognitive Defizite entwickelt. Dieses Phänomen führt zu einer (typischen) autistischen Entwicklung und wird bei 15 % bis 40 % aller autistischen Kinder beobachtet (vgl. Baird et al. 2008, 3; Parr et al. 2011; Jack & Pelphrey 2017, 14). Die Ursachen sind bislang weit- hin unklar, diskutiert werden (neuerdings) traumatische Erfahrungen. „Weder wurden konsistente genetische noch umweltspezifische Risikofaktoren identifiziert“ (Jack & Pelphrey 2017, 14). Nach Ansicht der Autoren stellt die „autistische Regression“ eine Erscheinung dar, die bisher „mit am wenigsten im Rahmen von Autismus verstanden wird“ (ebd.). Ob sie letztlich nur eine besondere Form eines früh einsetzenden (womöglich spät erkannten) Autismus darstellt, ist eine Spekulation. Auf jeden Fall lässt sich der regressive Verlauf nicht vorausschauend verhindern oder abfangen. Da er nicht zwingend zu einer „Intelligenzminderung“ führt, möchten wir es mit dem Hinweis auf dieses Phänomen belassen.

Geht die autistische Regression mit massiven Lernschwierigkeiten und einer häufig beobachtbaren zusätzlichen Epilepsie einher, haben wir es mit komplexen Beeinträchtigungen zu tun, die den Umfang und die Intensität der assistierenden Hilfen erhöhen. Die Häufigkeitsangaben einer Epilepsie bei Kindern mit autistischer Regression reichen von 6,7 % bis 53,6 % (vgl. ebd., 38); und ebenso sind 27 % bis etwa 50 % aller Personen, denen schwerwiegende intellektuelle Entwicklungsstörungen (mit zusätzlichen Verhaltensproblemen und autistischen Verhaltensweisen) nachgesagt werden, von Epilepsie besonders stark betroffen (vgl. Lund 1985; Robertson et al. 2015; Smith & Matson 2010). Aus diesem Grund und angesichts der Komplexität der Problematik entschieden wir uns, statt der potenziellen Regression auf Auswirkungen einer Epilepsie bei Personen aus unserer Bezugsgruppe stärker einzugehen. Hierzu wurde ein eigenes Kapitel jenseits der psychischen Begleitstörungen verfasst.

Abgerundet wird der zweite Teil unserer Schrift mit Fragen zum Altern und zu schweren neurokognitiven Störungen (Demenzen) – gleichfalls ein Thema, das wir angesichts der Bedeutsamkeit und Komplexität in Bezug auf autistische Personen mit Lernschwierigkeiten explizit aufbereitet haben.

Hyperlexie13


Wahrnehmungsbezogenes Denken bei autistischen Kindern

Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen haben wir es vor allem bei Menschen, denen bisher ein „frühkindlicher Autismus“ nachgesagt wurde, mit einem wahrnehmungsbezogenen Denken zu tun, welches gegenüber dem sprachbezogenen Denken dominiert (vgl. Mottron et al. 2013). Diese Dominanz des wahrnehmungsbezogenen Denkens tritt häufig als eine gesteigerte und eine erweiterte Wahrnehmungstätigkeit in Erscheinung, indem z. B. eine erhöhte Reizaufnahme stattfindet und zunächst Details eines Objekts erfasst werden, bevor das Ganze wahrgenommen wird. Forscher wie L. Mottron (2015a, 121) gehen in dem Zusammenhang davon aus, dass „weder eine verzögerte noch ausbleibende Sprachentwicklung die Folge einer primären Dysfunktion des Sprachzentrums (…) im Gehirn ist, sondern das Ergebnis einer frühzeitigen Konkurrenz zwischen der visuellen Wahrnehmung und der Sprache“. Vor diesem Hintergrund würden verbale Informationen „zunächst im Rahmen des visuellen Wahrnehmungsmodus und innerhalb der visuellen Wahrnehmungsverarbeitungsnetzwerke bearbeitet“ (ebd.).

Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass es dem Anschein nach nicht wenige autistische Personen gibt, die schon im frühen Alter, mit 18 Monaten, zwei oder drei Jahren, eine Faszination für Buchstaben zeigen, jedoch Schwierigkeiten bei der gesprochenen Sprache besitzen. Außerdem scheinen sie an geometrischen Figuren, Muster legen oder Puzzle-Spielen besonders interessiert zu sein.

Bis heute wissen wir nicht, wie viele Personen aus dem Autismus-Spektrum davon betroffen sind. Vermutlich ist die Zahl der Betroffenen höher, als bislang angenommen wurde. Derzeit stoßen wir auf Angaben bis 20 % (vgl. Ostrolenk et al. 2017, 139, 145). Diese beziehen sich fast ausschließlich auf Kinder mit der Diagnose des „frühkindlichen Autismus“.

Wahrnehmungsbezogene Interessen und Verhaltensweisen

Das außergewöhnliche Interesse an Buchstaben und Zahlen kann so weit gehen, dass z. B. ein betroffenes Kind stundenlang Magnetbuchstaben auf einer Metalloberfläche (Kühlschrank) anordnet oder nahezu ständig Buchstaben legen oder zeichnen möchte und sich dabei nicht auf Papier beschränkt, sondern auch Wände, Böden, Bürgersteige oder Sandflächen mit einbezieht. Darüber hinaus werden Kalender, Statistiken oder Tabellen mit Daten fixiert sowie Alltagsgegenstände, Spielmaterialien oder Fundobjekte aussortiert, gereiht und angeordnet.

Merkbox

Solche Entwicklungsbesonderheiten werden oft entwertet, im Lichte eines repetitiven, stereotypen Verhaltens negativ assoziiert. Stattdessen sollten wir ihre subjektive Bedeutung erkennen. So hat das Anordnen von Dingen oftmals eine stressreduzierende, psychisch beruhigende Funktion, und das Interesse für Buchstaben und Zahlen kann nicht nur dem Bedürfnis nach Ordnung und Regelmäßigkeit, sondern zugleich der kognitiven Entwicklung sehr entgegen kommen.

Begriffsbestimmung und Verständnis von Hyperlexie

Geht mit der zuvor beschriebenen Faszination für Buchstaben, Zahlen oder Zeichen die Fähigkeit des Dekodierens von Buchstaben oder Wörtern einher, die im Zuge der frühkindlichen Entwicklung größer ist als aufgrund des Alters zu erwarten wäre, haben wir es mit einem Aspekt von Hyperlexie zu tun.

Ein weiteres Merkmal von...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7841-3749-0 / 3784137490
ISBN-13 978-3-7841-3749-0 / 9783784137490
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich