Die Zähmung des Zufalls (eBook)
240 Seiten
Edition Patrick Frey (Verlag)
978-3-907236-65-9 (ISBN)
Kapitel 1 Das Argument
Der Determinismus wurde im 19. Jahrhundert ausgehöhlt, und es wurde ein Raum für autonome Gesetze des Zufalls geschaffen. Die Idee der menschlichen Natur wurde durch ein Modell normaler Menschen mit Gesetzen der Zerstreuung ersetzt. Diese beiden Transformationen verliefen parallel und bedingen sich gegenseitig. Der Zufall liess die Welt weniger kapriziös erscheinen: Er wurde legitimiert, weil er Ordnung aus dem Chaos brachte. Je grösser der Grad der Unbestimmtheit in unserer Vorstellung von der Welt und den Menschen ist, desto höher ist der erwartete Grad der Kontrolle.
Diese Ereignisse begannen mit einer Lawine von gedruckten Zahlen am Ende der napoleonischen Ära. Viele Arten menschlichen Verhaltens, insbesondere Fehlverhalten wie Verbrechen und Selbstmord, wurden gezählt. Sie erschienen von Jahr zu Jahr mit erstaunlicher Regelmässigkeit. Statistische Gesetze der Gesellschaft schienen den offiziellen Tabellen der Devianz zu entspringen. Daten über Durchschnittswerte und Streuungen liessen die Vorstellung von normalen Menschen entstehen und führten zu neuen Arten der Sozialtechnik, zu neuen Möglichkeiten, unerwünschte Klassen zu verändern.
In den ersten Jahren des Jahrhunderts ging man davon aus, dass statistische Gesetze auf zugrundeliegende deterministische Ereignisse zurückgeführt werden konnten, aber das offensichtliche Vorhandensein solcher Gesetze untergrub langsam und unregelmässig den Determinismus. Statistische Gesetze wurden als eigenständige Gesetze betrachtet, und ihr Einfluss wurde auf natürliche Phänomene ausgedehnt. Es entstand eine neue Art von «objektivem Wissen», das Produkt neuer Technologien zur Gewinnung von Informationen über natürliche und soziale Prozesse. Es entstanden neue Kriterien dafür, was als Beweis für diese Art von Wissen galt. Die statistischen Gesetze, die auf diese Weise gerechtfertigt werden konnten, wurden nicht nur zur Beschreibung, sondern auch zur Erklärung und zum Verständnis des Ablaufs von Ereignissen verwendet. Der Zufall wurde gezähmt, und zwar in dem Sinne, dass er zum Stoff wurde, aus dem die grundlegenden Prozesse der Natur und der Gesellschaft sind.
Kapitel 2 Die Doktrin der Notwendigkeit
Im Jahr 1800 hiess es, «Zufall» sei ein blosses Wort, das nichts bedeute – oder es sei ein Begriff der vulgären Leute, der Glück oder sogar Gesetzlosigkeit bedeute und daher aus dem Denken der aufgeklärten Menschen ausgeschlossen werden müsse. Jedes Ereignis folgte notwendigerweise, zumindest in der physischen Welt, aus einer Reihe von vorausgehenden Bedingungen. Selbst Studenten der Vitalmedizin, die universelle Gesetze in ihrem Feld ablehnten, hielten an partikulären und individuellen Zügen notwendiger Verursachung fest und würden einen grundlegenden Zufall nicht zulassen.
Kapitel 3 Öffentliche Amateure, geheime Bürokraten
Im 18. Jahrhundert sammelten Beamte statistische Daten für die Besteuerung, die Rekrutierung und zur Bestimmung der Macht des Staates. Ihre Informationen waren für die Regierung bestimmt. Amateure und Akademiker betrieben einen florierenden Handel mit numerischen Fakten, die zwar weithin veröffentlicht, aber nie systematisch gesammelt wurden. Preussen wird als Beispiel genommen.
Kapitel 4 Büros
In der Friedenszeit nach Napoleon richteten die europäischen Staaten Ämter ein, um Statistiken über alle möglichen Bereiche des Lebens und der Verwaltung zu sammeln und zu veröffentlichen. Sie schufen neue Institutionen, um diese Informationen zu sammeln und zu verbreiten. Diese ermöglichten die Lawine von gedruckten Zahlen zwischen 1820 und 1840. Das preussische Beispiel setzte sich fort.
Kapitel 5 Die süsse Tyrannei der Vernunft
Aber die Zahlen waren nicht genug. Die Preussen haben die Idee des statistischen Gesetzes nicht entwickelt. Das geschah im Westen, vor allem in Frankreich und England. Im vorrevolutionären Frankreich hatte es eine Tradition der rationalen Moralwissenschaft gegeben. Später wurde sie durch die Lawine der Zahlen zu einer empirischen Moralwissenschaft, behielt aber die aufgeklärte Vision von Regulierung und Gesetz bei. Das Beispiel von Condorcet, dem Theoretiker der vernunftgeleiteten Wahl, und der Bürokraten, die ihn ablösten und statistisches Denken hervorbrachten.
Kapitel 6 Ein Quantum an Krankheit
Vor 1815 waren statistische Verallgemeinerungen über Menschen weitgehend auf Geburten, Todesfälle und Eheschliessungen beschränkt. Eine Untersuchung britischer Parlamentarier zeigt genau, wie und wann eine neue Kategorie von «biologischen» Gesetzen entstand: statistische Gesetze über Krankheiten. Ein Sonderausschuss aus dem Jahr 1825.
Kapitel 7 Die Kornkammer der Wissenschaft
Allgemeiner ausgedrückt: Die Welt wurde numerisch. Diese Tatsache wird durch Babbages Vorschlag aus dem Jahr 1832 für eine Sammlung von Konstanten der Natur und der Kunst sehr gut veranschaulicht. Dies war eine Erklärung über eine neue und allgegenwärtige Art von Zahlen, Konstanten, die für das Wissen und die Verwaltung der Welt verwendet werden sollten.
Kapitel 8 Suizid als eine Art von Wahnsinn
Die Lawine der gedruckten Zahlen wurde vor allem in Frankreich durch die Auflistung der Zahlen von Abweichlern gekennzeichnet. Im Jahr 1815 gab es eine Kontroverse: Wer ist selbstmordgefährdeter, die Pariser oder die Londoner? Damals konnte diese Frage noch nicht geklärt werden, ein Jahrzehnt später schon, denn es wurden neue Institutionen zur Sammlung und Veröffentlichung von Daten gegründet.
Selbstmord ist ein wiederkehrendes Thema in der Statistik. In einem Fall des medizinischen Imperialismus gab es einen impliziten Syllogismus: Wahnsinn sollte von Ärzten behandelt werden, Selbstmord war eine Art von Wahnsinn, daher wurden die Selbstmordstatistiken wie andere medizinische Statistiken behandelt. Infolgedessen wurden medizinische Verursachungstheorien auf den Suizid angewandt. Diese wurden dann auf alle Statistiken über Devianz angewandt.
Kapitel 9 Die experimentelle Grundlage der Philosophie der Gesetzgebung
In den 1820er-Jahren konnten offizielle Tabellen die Anzahl und Art der Selbstmorde in einer Region angeben. Diese Daten und ähnliche Informationen über Verbrechen und les misérables sollten einen Nachfolger für Condorcets rationale Moralwissenschaft darstellen. Die neue empirische Wissenschaft der Moral würde sich mit statistischen Gesetzen des menschlichen Fehlverhaltens befassen.
Kapitel 10 Fakten ohne Authentizität, ohne Details, ohne Prüfung, ohne Wert
Die ersten Versuche, medizinische Statistiken als Beweis für die Wirksamkeit von Heilungsraten zu verwenden: Polemiken über die neue physiologische Medizin von Broussais stehen der sorgfältigen Analyse einer neuen Methode zur Behandlung von Gallensteinen gegenüber.
Kapitel 11 Mit welcher Mehrheit?
Condorcet und Laplace hatten versucht, A-priori-Lösungen für das Problem der Gestaltung des effizientesten Schwurgerichtssystems zu finden. Ihnen fehlten empirische Daten. Diese wurden durch die neue Kriminalitätsstatistik des französischen Justizministeriums geliefert. Poisson bettete diese neuen Informationen in einen statistischen Ansatz für Schwurgerichte ein.
Kapitel 12 Das Gesetz der grossen Zahlen
Im Jahr 1835 prägte Poisson im Rahmen seiner statistischen Rechtsprechung den Begriff «Gesetz der grossen Zahlen» und bewies einen wichtigen Grenzwertsatz. Dies lieferte eine weitere Begründung für die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf soziale Angelegenheiten. Es schien auch zu erklären, wie es zu statistischer Stabilität in sozialen Angelegenheiten kommen konnte.
Kapitel 13 Regimentsbrustkörbe
1844 argumentierte Quetelet, dass der Grenzfall der relativen Häufigkeiten beim Münzwurf (das Binomialgesetz, aber auch das Fehlergesetz für astronomische Messungen) eine Kurve (unsere glockenförmige oder normale Kurve) liefert, die zu den empirischen Verteilungen menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen passt. Dies schien die genaue Form der neuen statistischen Gesetze über Menschen zu liefern. Die Vorstellungen von Kausalität, einschliesslich des medizinischen Modells, wurden neu geordnet, um die statistischen Gesetze mit dem Determinismus in Einklang zu bringen.
Kapitel 14 Die Gesellschaft bereitet die Verbrechen vor
Es entstand ein Problem des statistischen Fatalismus. Wenn es ein Gesetz wäre, dass sich jedes Jahr so viele Menschen in einer bestimmten Region umbringen müssen, dann steht es der Bevölkerung offenbar nicht frei, vom Selbstmord Abstand zu nehmen. Die Debatte, die auf den ersten Blick unsinnig erscheint, spiegelt das wachsende Bewusstsein für die Möglichkeiten der sozialen Kontrolle und die Auswirkungen auf die moralische Verantwortung wider.
Kapitel...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2023 |
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Übersetzer | Dana Mahr |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-907236-65-3 / 3907236653 |
ISBN-13 | 978-3-907236-65-9 / 9783907236659 |
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