Die wichtigste Insel der Welt -  Klaus Bardenhagen

Die wichtigste Insel der Welt (eBook)

Was Sie wissen müssen, um Taiwan zu verstehen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83292-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
15,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Mit einem ergriffenen 'Ilha Formosa!' - 'schöne Insel!' - soll ein portugiesischer Seemann einst Taiwan bezeichnet haben. Schön ist Taiwan mit seinen atemberaubenden Bergen, Schluchten und Küsten zweifelsohne. Aber der Inselstaat ist noch vieles mehr: eine Demokratie, die sich die Bewohner hart erkämpft haben. Ein Ort kultureller und sprachlicher Vielfalt. Ein Ort der Gegensätze zwischen dicht besiedelten Städten und unberührten Gebirgen. Ein Ort, der uralte Traditionen zelebriert und sich zum weltweit führenden Technologiehub entwickelt hat. Ein einzigartiger Ort, über den wir viel zu wenig wissen - dabei kann sich am Schicksal Taiwans die Zukunft der bestehenden Weltordnung entscheiden. Klaus Bardenhagen, der als deutscher Journalist seit über 15 Jahren in Taiwan lebt und viel über die Insel zu berichten weiß, führt in Geschichte und Gegenwart seiner Wahlheimat ein und lässt uns diesen außergewöhnlichen und weltpolitisch bedeutsamen Ort endlich besser verstehen.

Klaus Bardenhagen, Jg. 1976, lebt und arbeitet seit 2009 als freier Auslandskorrespondent in Taiwan. Jahrelang war er der einzige deutsche Reporter vor Ort. In Beiträgen für zahlreiche Print- und Onlinemedien sowie in Radio- und Fernsehbeiträgen und dem von ihm moderierten Podcast 'Taiwancast' berichtet er über seine zweite Heimat.

1. Wie erst Pelosi und die Ukraine den Taiwan-Konflikt zum Riesenthema machten


Der Moment, in dem eine breite Öffentlichkeit zum ersten Mal auf Taiwan aufmerksam wurde, folgte gleich auf Gong, Fanfare und »Guten Abend, meine Damen und Herren«. Es war die Tagesschau am 2. August 2022 um 20 Uhr – und an diesem Abend ging es gleich zur Sache: »Die politischen Spannungen zwischen China und den USA verschärfen sich«, verlas Jens Riewa mit verlässlich erster Miene. »Trotz aller Warnungen aus Peking ist die US-Spitzenpolitikerin ­Pelosi heute nach Taiwan gereist.«

2008 habe ich zum ersten Mal aus Taiwan als Reporter berichtet, seit 2009 lebe ich hier. Wie deutsche Medien auf meine zweite Heimat blicken, beobachte ich ziemlich aufmerksam. Taiwan als Aufmacher der »20 Uhr«, wie meine alten ARD-Kollegen die Hauptausgabe der Tagesschau nennen – das hatte es bis dahin in meiner Erinnerung noch nie gegeben. Und am nächsten Tag passierte es gleich noch einmal. Seit mehr als zehn Jahren hatte ich in meinen Berichten oft von einem latenten Konflikt gesprochen, der jederzeit ausbrechen könne. Mit der Latenz war es nun vorbei. Nancy Pelosis Besuch und Chinas Reaktion darauf katapultierten das lange vernachlässigte Taiwan ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der nicht ganz ernst gemeinte Titel, den ich 2008 meinem damals neuen Blog gegeben hatte, beschrieb nun die aktuelle und sehr ernste Lage: »Brennpunkt Taipeh«.1

Es gibt direkt neben Taipehs Innenstadtflughafen Songshan eine Gasse, die nur ein Zaun vom Beginn der Rollbahn trennt. Nirgendwo sonst haben Planespotter einen so guten Blick auf einfliegende Maschinen. An diesem Abend donnerte ein US-Regierungsflieger dicht über die Köpfe jubelnder Taiwaner hinweg. Sie freuten sich über die Landung von Nancy Pelosi, damals Sprecherin (speaker) des US-Repräsentantenhauses und die Nummer drei in der politischen Rangordnung des mächtigsten Landes der Welt. An der Glasfassade von Taiwans modernem Wahrzeichen, dem Wolkenkratzer Taipei 101, leuchteten mehrere Etagen hohe Buchstaben: »Speaker Pelosi, Welcome to Taiwan«. Und dann noch: »TW ♥ US«.

Für die einen war es ein Liebesbeweis, als die Maschine, deren Ziel Washington bis zur Landung geheim gehalten hatte, in Taipeh landete. Pelosi hätte es gern als Selbstverständlichkeit dargestellt. 1997 hatte mit Newt Gingrich schon einmal ein amtierender Sprecher des Repräsentantenhauses Taiwan besucht. Gruppen amerikanischer Abgeordneter reisen gefühlt alle paar Wochen an, ab und zu auch Minister. Kein Grund zur Aufregung also. Oder doch – wenn man in Peking sitzt und glaubt, Taiwan stehe einem zu.

Sobald Pelosi nach nicht einmal 24 Stunden wieder abgeflogen war, begann Chinas Militär groß angelegte Manöver. Sperrzonen im Meer rund um Taiwan markierten, wo Geschosse einschlagen konnten. Kriegsschiffe gingen in Position, noch mehr Kampfflugzeuge als sonst üblich stiegen auf. Fünf Tage lang herrschte rund um Taiwan Ausnahmezustand. Containerschiffe zögerten, Häfen anzulaufen, oder machten auf ihrem Weg zu anderen Zielen einen großen Bogen um die Insel. China feuerte ballistische Raketen ins Meer ab. Mehrere flogen sogar in hohem Bogen über Taiwan hinweg und landeten auf der Ostseite in pazifischen Gewässern, die schon zu Japans ausschließlicher Wirtschaftszone gehören.2 Es waren aggressive Drohgebärden, wie man sie seit der Taiwanstraßenkrise 1995/96 nicht mehr gesehen hatte. Damals hatte China Raketen abgefeuert, um gegen einen US-Besuch von Taiwans Präsident zu demonstrieren und um die Menschen vor den ersten freien Präsidentenwahlen einzuschüchtern. Nicht wenige verließen damals sogar das Land. Das passierte 2022 nicht. In Taiwan ging für uns das Leben ganz normal weiter, niemand geriet in Panik.

Chinas Generalprobe einer Blockade – denn um nichts anderes handelte es sich – versetzte allerdings die Medien weltweit in Alarmbereitschaft. Kein halbes Jahr nachdem Russlands Invasion der Ukraine sie kalt erwischt hatte, wollten sie sich nicht schon wieder überrumpeln lassen. »So etwas habe ich noch nicht erlebt«, sagte mir ein öffentlich-rechtlicher Korrespondent über den Bedarf deutscher Redaktionen an ständigem Informationsnachschub. Und ich auch nicht. Zum ersten Mal war ich im Krisenberichterstattungsmodus. Dreharbeiten fürs Fernsehen, Onlineartikel und Podcastgespräche füllten meine Tage.3

Es war ein krasser Unterschied zu meinen Erfahrungen in den Jahren zuvor. Dass sich in Taiwan eher als irgendwo sonst der große geostrategische Konflikt zwischen China und den USA entzünden könnte und dass Peking diese Demokratie zerstören will, das war ja schon früher klar – wenn man sich dafür interessierte. Das taten die meisten Medien aber kaum.

Ich realisierte bald nach meinem Umzug 2009, wie es um die Aufmerksamkeit für Taiwan bestellt war. Anfang Juni jährte sich Chinas Niederschlagung der Tian’anmen-Studentenproteste zum 20. Mal. Der Jahrestag war eine prima Gelegenheit, auf Taiwan zu blicken, dachte ich mir. Schließlich fanden in Taipeh Gedenkveranstaltungen statt, ehemalige Regimegegner lebten hier im Exil, und viele Taiwaner sahen die Ereignisse von 1989 als Menetekel für ihre Freiheit, sollte Peking hier jemals das Sagen haben.

Doch mein Vorschlag stieß in keiner Redaktion auf Interesse. Neben kurzen Berichten aus China war kein Platz, nach Taiwan zu blicken. Für mich war das ein Aha-Erlebnis: Taiwan war journalistisch kein Selbstläufer. Im folgenden Jahrzehnt stand es medial fast permanent im Schatten der Volksrepublik und kam so selten vor, dass Verwandte in Deutschland mir jeden noch so kleinen Schnipsel über Taiwan aus der Zeitung ausschnitten.

Für meine eigenen Berichte fand ich immer wieder passende Nischenthemen, aber die Rolle Taiwans im weltpolitischen Kräftemessen spielte in Deutschland nur selten eine Rolle. Der Blick auf die Volksrepublik fiel bis weit in Xi Jinpings erste Amtszeit (2013–2018) hinein eher oberflächlich als analytisch-kritisch aus. Es waren die Jahre, in denen Chinas Wachstumsraten nach der Finanzkrise und Projekte wie die »Neue Seidenstraße« wichtiger schienen als die Unterdrückung von Dissidenten und der Zivilgesellschaft. Renommierte US-Medien waren anders sensibilisiert. Ihre Berichte bestätigten mir, dass es wichtig war, was in Sachen Taiwan und China unter der Oberfläche brodelte. Vor Ort nahmen wir es die ganze Zeit wahr wie tektonische Verschiebungen, deren Spannungen sich irgendwann entladen mussten.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 veränderte dann alles – auch die Berichte über China und Taiwan. Dem Westen wurde bewusst, dass aus dem Säbelrasseln eines autoritären Staates tatsächlich ein Krieg gegen einen kleineren, demokratischen Nachbarn werden kann. Hunde, die bellen, können eben doch beißen. Wladimir Putins Invasion hatte den Westen – mit Ausnahme der US-Geheimdienste, die gewarnt hatten – überrascht. Sofort geriet auch Taiwan ins Blickfeld. Putin und Xi hatten schließlich erst wenige Wochen zuvor, am Vorabend der Olympischen Winterspiele in Peking, ihre Einigkeit gegen die US-geführte Weltordnung demonstriert – und auch in Sachen Taiwan stellte sich Putin damals hinter seinen einflussreichen Freund.4 Durch seinen Krieg war nun der Westen abgelenkt. Würde China die Gelegenheit nutzen, auch in Taiwan kurzerhand militärisch Fakten zu schaffen? Stand der nächste Krieg vor der Tür? Plötzlich schien alles möglich.

Analytische Berichte über Taiwan blieben jedoch rar, viele kratzten nur an der Oberfläche und stellten immer wieder dieselbe Frage: Haben die Taiwaner Angst, und wenn ja, wie viel? Emotionen statt Erklärungen – mit diesem Fokus verbauten sich viele Medien selbst die Chance, ihrem Publikum wirklichen Erkenntnisgewinn zu vermitteln. Besonders im Fernsehen – meiner eigenen Domäne – geht es bei solchen Gelegenheiten leider oft eher plakativ und unterkomplex zu.

Fernsehen funktioniert nun mal am besten über Menschen, Emotionen und starke Bilder – am besten gleich in den ersten Sekunden, damit die Zuschauer nicht umschalten. 2022 und 2023 begannen viele Berichte standardmäßig mit Schießübungen (mit Softairwaffen, weil Taiwan den privaten Waffenbesitz verbietet), Katastrophenschutz­trainings oder Erste-Hilfe-Kursen. Nie fehlen dürfen die Gefühle und Sorgen von Zivilisten – zur Not auch in einer Straßenumfrage mit willkürlich herausgegriffenen Passanten.

So groß ist die Begeisterung ausländischer Sender – nicht nur deutscher – über Taiwans Zivilschutzkurse, dass die beiden wichtigsten Veranstalter schon längst ein standardisiertes Medienmanagement eingeführt haben und Journalisten strikte Vorgaben machen, wann und was genau sie drehen dürfen.

Ich habe selbst an mehreren solcher Beiträge mitgearbeitet. Sie funktionieren und berichten nichts Falsches. Aber sie konzentrieren sich auf Ausschnitte und erwecken Eindrücke, die nicht repräsentativ für Taiwan sind. Sollten Zuschauer aus solchen Stücken mitnehmen, Taiwans Alltag werde von Kriegsvorbereitungen bestimmt, wäre das ein Trugschluss.

Mediennutzern kann leicht entgehen, dass die meisten Taiwaner Peking eben nicht den Gefallen tun, Angst zu haben. Ihr Alltag verläuft nach 2022 so normal wie zuvor – aber das lässt sich schwieriger darstellen. Unbeirrt weiterzuleben und sich nicht verrückt machen zu lassen, das ist eigentlich schon ein kollektiver Akt des Widerstands gegen Pekings...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-451-83292-5 / 3451832925
ISBN-13 978-3-451-83292-5 / 9783451832925
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 14,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Mein Leben in der Politik

von Wolfgang Schäuble

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
29,99
Mit „Green Growth“ gegen den Klimawandel und für die …

von Hans-Jörg Naumer

eBook Download (2023)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
9,99