Akademisierung der Pflege (eBook)
278 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8042-1 (ISBN)
Tobias Sander, Prof. Dr., hat seit 2023 eine Professur für Sozialwissenschaften, insb. Soziologie an der HAWK Hildesheim inne. Von 2016-2023 war er Professor an der International University of Cooperative Education, Darmstadt. Nebenberuflich berät er Länder und Kommunen in verschiedenen Feldern der Sozialplanung. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Ungleichheits-, Bildungs- und Professionssoziologie, soziologische Theorien, qualitative und quantitative Methoden empirischer Sozialforschung, Soziale Arbeit und Organisationsentwicklung im Gesundheitswesen.
Teilakademisierung der Pflege?
Berufliche Platzierungen und Professionalisierungsbedingungen
Tobias Sander
Seit etwa drei Jahrzehnten wird unter diversen gesellschaftlichen Interessengruppen verhandelt, ob und welches Maß akademisch begründeter Kompetenzen die professionelle, im Sinne von berufsrechtlich sanktionierte, Pflege hierzulande erfordert (vgl. Bollinger/Gerlach 2015; Kälble 2013). Im Zuge der seit Mitte der 1990er Jahre eingeführten Fallpauschalisierung in der Krankenversorgung sowie der Pflegesatzbasierung in der Altenpflege gerieten im Sinne der Umsetzung von Kostenzielen dabei zunächst Funktionen im Pflegemanagement in den Blick – also 1) querfunktionale und Leitungspositionen im Bereich der in praxi zunehmend betriebswirtschaftlich aufgefassten Leistungsplanung und -abrechnung in größeren, vor allem klinischen Einrichtungen sowie 2) Leitungspositionen in der stationären und ambulanten Pflege – sprich Stationsleitungen, aber vor allem Pflegedienstleitung und Pflegevorstände (vgl. Kälble 2005; Kühn/Simon 2001; Bode 2019).
Gegenüber der generell konstatierten Verbesserung der medizinischen Versorgung im engeren Sinne, welche zuerst dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt (Großgerätemedizin) zugeschrieben wurde, gerieten auch die explizit pflegerischen Versorgungsbedarfe und -bedürfnisse in die Diskussion – und zwar gerade im Angesicht des gewachsenen Kostendrucks (vgl. Schaeffer 2011; Faltermaier 2016; Sander 2022). Diese Debatte führte schließlich zu der einschlägigen Stellungnahme des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2012 (85–87): Für die Gesundheitsfachberufe insgesamt wurde hier eine akademische Qualifizierung von zehn bis 20 Prozent der Fachkräfte empfohlen – und zwar bezüglich der „Tätigkeit am Patienten“ (ebd., 8).
Bezüglich Pflegemanagement und Pflegeunterricht/Pflegepädagogik, aber vor allem hinsichtlich dieser komplexer gewordenen ‚Pflege am Bett‘ existieren seit Jahrzehnten allerdings recht hochschwellige Fachweiterbildungen, von denen die PflegepraktikerInnen in ihrem Berufsleben zumeist zwei bis drei durchlaufen. Diese ausgeprägte schulische Weiterqualifizierungskultur wird durch das informelle, „erfahrungsgeleitete“ (Porschen/Bolte 2004) Lernen im Rahmen der beruflichen Praxis in bewährtem Maße ergänzt. Ein solches learning on the job ist im Feld der Gesundheitsfachberufe traditionell besonders ausgeprägt; explizites und implizites Wissen verschränken sich in diesem beruflichen Feld also hochgradig (vgl. Dunkel 2005; Pfadenhauer 2008; Sander 2016). Dies wirft für den Bereich der unmittelbaren Pflege eine grundsätzliche Frage auf: Kann Akademisierung in diesem Fall mehr sein als die Zertifizierung des ohnehin komplexen berufspraktischen Wissens? Oder anders: ‚Pflegt‘, im Sinne von fördert, die Akademisierung also tatsächlich die Professionalisierung?
Es wird sich in den nächsten gut zehn Jahren schließlich ausmendeln, ob die nun gut drei Jahrzehnte währende Akademisierung der Pflegeausbildung in Deutschland ‚am Markt vorbei‘ geht – sie also ein Qualifikationsprofil bedient, für das formal, in Form von Beschäftigungsverhältnissen, kaum eine entsprechende Nachfrage besteht. Markt bedeutet hier die Definition und Regulierung von Bedarfen und entsprechenden Beruflichkeiten durch das gesundheitliche Versorgungswesen. Schließlich deutet gegenwärtig wenig darauf hin, dass die Pflege am/an der PatientIn sich zu einem beruflichen Feld entwickelt, das zumindest in nennenswerten Teilen Beschäftigungsverhältnisse vorsieht, die ausschließlich über eine akademische Ausbildung zugänglich sind und dies unter anderem durch eine entsprechend herausgehobene Vergütung abgebildet ist.
Solche höher bewerteten Positionen finden sich 1) in den gemischt pflegerischen und managerialen Funktionen der Stations- und Wohnbereichsleitungen und (übergeordneten) Pflegedienstleitungen in stationären Einrichtungen, 2) in dem überwiegend managerialen Bereich der Pflegeadministration sowie 3) im Unterrichtswesen an Berufsfach- und Pflege(fach-)schulen.2 Allerdings konkurrieren die PflegeakademikerInnen hier zum einen ebenfalls mit fortgebildeten examinierten Kräften sowie zum anderen mit nicht-pflegerischen AkademikerInnen – so in den Querschnittsbereichen Case Management und Plegeberatung mit SozialarbeiterInnen sowie in überwiegend managerial geprägten Funktionen mit BetriebswirtInnen.
Womöglich stehen in diesem Segment der höher bewerteten Positionen zwar hinreichend Stellen zur Verfügung, um den mittlerweile beträchtlichen Output der pflegeakademischen Bildung zu bedienen.3 Dieser beläuft sich mit gegenwärtig auf rund 15 Tausend AbsolventInnen im erwerbsfähigen Alter und damit auf rund ein Prozent der examinierten Kräfte insgesamt – bei sinkender Tendenz in den AbsolventInnenfrequenzen auf rund 0,8 Prozent (vgl. Schaeffer 2011; Simon 2012; Stat. Bundesamt 2023).4
Die erwarteten Verdrängungprozesse im Zuge des Hinzutretens eines höheren Qualifikationsniveaus in ein bestehendes Berufsfeld halten sich gegenwärtig in Grenzen. So zeigt die Erhebung von Nina Fleischmann (2013), dass in den quantitativ bedeutsamen Funktionen der Stationsleitungen und Pflegedienstleitungen unter ein Zehntel der ausgeschriebenen Stellen einen Hochschulabschluss voraussetzen, während bei rund der Hälfte der Ausschreibungen ausschließlich eine Fachkraftausbildung nebst Weiterbildung(en) vorausgesetzt wird. Die Fachkraftqualifizierung schließt natürlich die pflegerischen Hochschulabschlüsse in Modellvorhaben ein, welche seit Anfang der 2000er Jahre eine Primärqualifizierung als Pflegefachkraft integrierten (vgl. Gerlach 2005; Kälble 2005; Bollinger/Gerlach 2015).5 Der Verweis auf die erforderlichen Weiterbildungen macht aber die grundberufliche, nicht-akademische (Aus-)Bildungskultur im Feld deutlich. Akademikerexklusive Positionen wurden hingegen teilweise in dem quantitativ wenig bedeutsamen Bereichen der Schulleitungen sowie in immerhin nennenswertem Anteilen in administrativen Querschnittsbereichen wie dem Qualitätsmanagement ausgelobt.6
Unbeeindruckt von der Aufnahme des primärqualifizierenden Pflegestudiums in das Pflegeberufegesetz (PflBG) im Jahr 2020 stagniert der hochschulische Anteil an der Pflegeausbildung – oder sinkt sogar leicht ab (vgl. Meng/Peters/Dorin 2022). Während für den Bereich der unmittelbaren Pflege nicht nur in der Alten-, sondern in abgemilderten Umfange auch der Krankenpflege eine Verlagerung auf ein Personal mit pflegerischen Hilfsqualifikationen nachgewiesen werden kann (Simon 2012), tendiert der stärker (halb-)öffentlich organisierte Bereich der Bildung und Ausbildung zu einer zunehmend meritokratischen Hierarchisierung der Beschäftigungsverhältnisse. In diesem Feld besaßen die PflegeakademikerInnen von Beginn an, also seit den 1990er Jahren, vergleichsweise gute bzw. bessere Chancen als die grundständigen Fachkräfte (vgl. Bollinger/Gerlach 2015; Kälble 2005; 2013). Mit dem Gesetzesentwurf zur Reform der Pflegeberufe werden gegenwärtig schließlich auch formal-qualifikatorische (Mindest-)Anforderungen für das Leitungs- und Lehrpersonal an Pflegeschulen definiert. So müssen die Schulleitungen generell sowie die Lehrkräfte im ‚theoretischen Unterricht‘ in einem sogenannten angemessenen Verhältnis zur Schülerzahl über eine Qualifikation auf Masterniveau verfügen; für den ‚praktischen Unterricht‘ ist eine entsprechende Relation von Lehrkräften mit einer Ausbildung auf Bachelorniveau vorgesehen (BMG 2016, § 9). Hier wurde also vielleicht sogar mehr als das in formale Formen gegossen, was in auf dem Arbeitsmarkt bereits üblich war. Der übergreifende symbolische Effekt auf eine zunehmend meritokratische Differenzierung der Bildungswege in der Pflege hält sich, wie die Studierendenfrequenzen zeigen (s. o.) aber offenbar in Grenzen.
Wovon hängt es schließlich ab, ob es der beruflichen Teilgruppe der PflegeakademikerInnen gelingt, analog zu den Forderungen des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2012, zumindest eine Teilakademisierung nicht nur des Personals, sondern...
Erscheint lt. Verlag | 7.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8042-8 / 3779980428 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8042-1 / 9783779980421 |
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