Kursbuch 218 -

Kursbuch 218 (eBook)

Von Natur aus
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
152 Seiten
Kursbuch Kulturstiftung gGmbH (Verlag)
978-3-96196-358-4 (ISBN)
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Die Essays des aktuellen Kursbuchs 218 »Von Natur aus« variieren alle die Spannung zwischen Natur und kultureller/gesellschaftlicher Darstellungspraxis - und stoßen alle darauf, wie wenig trennscharf diese Unterscheidung ist. Natur wird einmal idyllisiert, ein anderes Mal dämonisiert. Eine große Entweder-oder-Erzählung spannt sich auf. Es fängt an beim Essen. Was ist von Natur aus gutes Essen? Der Gourmetkritiker Jürgen Dollase schaut hinter die Kulissen veganer Ernährungstrends und der Naturküche. Roman Köster wiederum erläutert in seiner kleinen Naturgeschichte des Mülls, dass wir ihn nicht mehr loswerden und die Welt vermüllen - was nicht immer so war. Die Philosophin Eva von Redecker spricht deshalb von notwendiger Regenerationsarbeit, die wir mit dem Stoffwechsel der Natur betreiben müssen. Eine besondere Perspektive ist die Abbildung von natürlicher Sprache in den Algorithmen der digitalen Welt, vor allem ihre Grenzen, wenn etwa Hass und Spott in den sozialen Medien nicht mehr herausgefiltert werden können. Überdies beschäftigt sich Wendy S. Parker mit der Frage, inwieweit digitale Simulationen das Naturgeschehen abbilden oder gar voraussagen können. Armin Nassehi thematisiert in seinem Essay das Paradoxe in der Naturbetrachtung - in fünf Naturszenen lässt er das Widersprüchliche hervorquellen. Die Intermezzi zum Heftthema stammen diesmal von Jan-Niclas Gesenhues, Christiane Grefe, Florian Heinen, Sven Murmann und Maren Urner. Sie thematisieren die Grenzen der Natur, die politischen Bedingungen fu?r den Naturschutz, menschliche Emotionen, Kindheit so wie das Pha?nomen der Landschaft, in dem sich die oben genannte Spannung besonders deutlich zeigt. Und schließlich das inzwischen elfte »Islandtief«: Berit Glanz widmet sich diesmal der isla?ndischen Esskultur - zwischen Food Halls, in denen unterschiedliche Fast-Food-Angebote unter einem Dach zusammengefu?hrt werden, und einer New Nordic Cuisine. Schließlich lässt uns der Fotograf Olaf Unverzart in seinen Resografien spüren, welche unbändige Kraft die Natur antreiben kann.

ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem »Mit dem Taxi durch die Gesellschaft«, in der kursbuch.edition erschien zuletzt »Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests«. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: »Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?« SIBYLLE ANDERL (*1981), ist Astrophysikerin und Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien 'Das Universum und ich. Die Philosophie der Astrophysik.'

Jürgen Dollase
Wann ist Essen von Natur aus gut?
Ein Diskurs über kulinarische Natürlichkeit

Der Begriff »Natürlichkeit« scheint heute, im Zeitalter von »Bio«, Slow Food und vermehrt fleischlosem Genuss, geradezu selbstverständlich zu gutem Essen und dessen Herstellung zu gehören. Er ist weitestgehend positiv gefüllt, wird oft ein wenig unterschiedlich radikal interpretiert und gerne – sowohl von bestimmten Formen der Gastronomie als auch vom Handel und der Nahrungsmittelindustrie – instrumentalisiert. Das wird vermutlich mehr oder weniger so bleiben – es sei denn, man beginnt, die Frage zu stellen, was man im kulinarischen Bereich eigentlich unter »natürlich« versteht. Dann wird es tückisch und reichlich komplex.

Beginnen möchte ich mit einem der rund um die Kochkunst am häufigsten bemühten Sätze, der von Maurice Edmond Sailland, genannt Curnonsky (1872–1956), stammt: »Um (gute) Küche handelt es sich dann, wenn die Produkte so schmecken, wie sie schmecken.« Zusammen mit Sätzen wie: »Das Produkt ist der Star« (Paul Bocuse, Eckart Witzigmann und andere) ergibt sich ein Bild wünschenswerter Qualitäten, das man angesichts der Realitäten in etwa so umschreiben kann: Es gibt sehr gute Produkte mit einer für das Endergebnis ausschlaggebenden Qualität, die ohne sie nicht erreicht werden kann. Wenn man sie einsetzt, sollte man es so tun, dass sie als solche auch erkennbar sind. Tut man dies, ergeben sich beste Voraussetzungen für eine gute Küche. Tut man dies nicht, entsteht eben keine gute Küche.

De facto und mit der Rezeptionsgeschichte solcher Aussagen im Hinterkopf (also der Verknüpfung bestimmter Kochstile/Köche mit diesem Satz) geht es etwa um ein Bresse-Huhn, das man mit Salz und Pfeffer würzt, in Butter (oder Olivenöl) anbrät und anschließend im Ofen und unter mehrfachem Überglänzen – zuerst mit dem Bratensaft, später vielleicht auch noch mit frischer Butter – zu einem wunderbar schmeckenden Huhn mit einer leicht knusprigen Kruste vollendet. Solche Manipulationen stehen der Forderung nach einem ursprünglichen Geschmack offensichtlich nicht entgegen. Man könnte sagen: Wenn auch nach solchen Manipulationen das Produkt im Sinne des Curnonsky-Satzes so schmeckt, wie es schmeckt, scheint es bei diesem Huhn einen natürlich gegebenen Geschmack nicht zu geben, sondern nur ein Artefakt, einen Zustand, den man gleichwohl als naturnah im Gegensatz zu einem unerwünschten, umfassend manipulierten Geschmack definiert.

Jetzt stellt sich allerdings die Frage, ob ausgerechnet die Kochkunst am Ende eher nicht im engeren Sinne »natürlich«, sondern – logisch folgernd – eher unnatürlich ist? Redet man deshalb von »Produkten«, womit man in der Kochkunst üblicherweise sowohl rohe, natürlich vorkommende Objekte als auch solche meint, die erst nach umfangreichen Bemühungen entstehen? Also sowohl wild gesammelte Muscheln an einer felsigen Küste als auch ein sorgsam und mit einem bestimmten Futter »erzeugtes« Eichelmastschwein? Ist vielleicht nur »roh« natürlich, und wenn dem so ist, gilt das ohne Einschränkungen?

Was ist auf der Produktseite »natürlich«? Suche nach objektiven Aspekten

Zu ermitteln, was als »natürlich« gelten kann, und wie »natürliche Gerichte« aussähen, führt schnell in einen Bereich, der vielen Menschen kaum bewusst sein dürfte. »Natürlich« im Sinne von »ohne Eingriff des Menschen« sind nicht mehr viele potenziell kulinarisch nutzbare Objekte. Das sorgsam gezüchtete Fleisch wird so, wie es dann ist, weil man von der Auswahl der Tiere über deren Futter bis zu einer bestimmten Schlachtvorbereitung und -prozedur und einer bestimmten Reifung für das Fleisch an vielen Stellen steuernd eingreift. Bei den Fischen scheint es offensichtlicher zu sein, weil der Fang mit der Leine vom kleinen Kutter den Zugriff auf ein Tier sichert, das in freier Wildbahn und ohne steuernde Einflüsse aufwächst (wenn man von der »Natürlichkeit« des Wassers absieht, in dem der Fisch gelebt hat). Das Reh aus normaler Jagd im Elsass gilt als besonders gut, weil es sich in großen Wäldern mit vielfältigen Gewächsen gut ernähren kann und deshalb eine besonders traditionelle, natürliche Qualität erreicht – im Gegensatz zu Wild, das wie andere Nutztiere in Gehegen mit kontrolliertem Futter gehalten wird. Beim Angebot in Geschäften und Supermärkten kann man weitestgehend von »Produkten« im engeren Sinn ausgehen, also einer zweckmäßig manipulierten Aufzucht, deren Natürlichkeit – etwa bei der industriellen Erzeugung von Schwein und Geflügel – bisweilen nahe null liegt.

Wer aber denkt schon daran, dass – sagen wir – die Karotten oder Kartoffeln fast keinen »Nullpunkt« mehr haben, bei dem man von Natürlichkeit sprechen kann, sondern weitestgehend hochtechnisch entwickelte Sorten sind, die zwar noch bestimmte gustatorische Qualitäten haben sollen, vor allem aber ertragreich, möglichst unempfindlich gegen Witterungseinflüsse und nach der Ernte möglichst lange haltbar sein müssen? Oder dass es beim Wein nicht einfach »die« Riesling- oder Chardonnay-Rebe gibt, sondern eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Klone, die oft so präzise eingestellt sind, dass sie dem Winzer je nach Boden und Klima das bestmögliche (oder gewünschte) Resultat bringen? Übertragen auf die Weiterverwendung solcher Produkte in Gastronomie und Nahrungsmittelindustrie kann man von Produktseite davon ausgehen, dass es heute nicht nur Fertiggerichte, sondern auch viele Gerichte in allen möglichen Restaurants von Fast Food bis zur Gourmetküche gibt, die keine Naturprodukte in diesem eigentlichen, analytischen Verständnis sind.

Was ist kulinarisch-gastronomisch gesehen »natürlich«? Suche und Diskussion von Beispielen

Wie aber sähe unter diesen Voraussetzungen ein Gericht aus, das man zumindest einigermaßen als »natürlich« bezeichnen könnte? Vielleicht ein Austerngericht mit besten Fines de Claires der Größe 2 aus Cancale in der Bretagne, einer Beurre blanc mit bester französischer Butter plus einer Kräuteremulsion? Nicht wirklich, weil die Austern, die in Klärbecken gezüchtet werden, nicht wilde Austern, sondern sehr präzise gezüchtete sind, die Butter vielleicht nicht Rohmilchbutter, sondern pasteurisierte Butter aus industrieller Fertigung ist, einen standardisierten Geschmack hat und weit entfernt von einer Art »Lagenbutter« ist, die von Kühen stammt, die auf einem bestimmten Terroir leben (so etwas gibt es zum Beispiel bei Camembert), und weil die Kräuter aus einer systematischen Erzeugung großer Betriebe stammen, also keine Wildkräuter sind.

Wären wilde Austern mit einer Beurre blanc auf der Basis von Rohmilchbutter aus absolut ländlicher Erzeugung, von Kühen, die auf Wildwiesen mit Wildkräutern grasen, mit einer Emulsion von Kräutern, wie sie wild auf Salzwiesen am Meer wachsen, natürlicher? Schon eher oder sogar weitestgehend. Aber in welcher Menge könnte so etwas erzeugt und genutzt werden, um »Natürliches« wirklich nennenswert zu verbreiten? Im Handel oder bei Fertiggerichten würde man das sicher nicht finden, sondern höchstens bei einigen wenigen spezialisierten Gastronomiebetrieben, die ihre eigenen Gärten und handverlesene, adäquat arbeitende Erzeuger im Hintergrund haben (was es bisweilen gibt, etwa »La Chassagnette« südlich von Arles in der Provence). Oder wie sieht es mit den Fetischgerichten vieler vegetarisch-veganer Konsumenten aus, also den diversen Bowls mit ihrem Mix aus Grünzeug und Körnern aller Art? Auch hier hält sich die Natürlichkeit in der Regel weitestgehend in Grenzen, weil die Gerichte längst in Mode sind und massenhaft angeboten werden, wo immer auf billigste Rohstoffe geachtet wird, die häufig aus den großen Gemüse-etc.-Farmen der Welt stammen, wo »gedopte« Pflanzen statt auf natürlichem Boden mit Nährstofflösungen, verkürzten Tagen durch Lichtmanipulationen und natürlich künstlicher Bewässerung zur Optimierung des schnellen Wachstums erzeugt werden.

Will man also wenigstens einigermaßen objektivieren, was kulinarisch als »natürlich« gelten kann, reduziert man das, was als Ernährung infrage kommt – zumindest für die Verhältnisse in den »zivilisierten« Ländern –, auf ein Minimum. Das gilt gleichermaßen für Omnivore (also Menschen, die im Prinzip alles essen) wie auch für Vegetarier (die ja noch die Fische hätten) und Veganer.

Wenn die Kochkunst nur begrenzt »natürlich« ist, was ist sie dann?

Die Kochkunst im klassischen Verständnis sollte man vor diesem Hintergrund in erster Linie als ein elaboriertes und elaborierendes System verstehen, das in seinen besten Ausprägungen darauf achtet, dass die Natur so gut und »natürlich« manipuliert wird, dass das Ergebnis im kulturellen Wechselspiel entstandenen Qualitätskriterien und einem Geschmacksbild entspricht, das nahe an den Möglichkeiten der Ausgangsprodukte entwickelt beziehungsweise – subjektiv – optimiert wird.

Gute Beispiele in diesem Zusammenhang finden sich in einer optimierten, meist eher kleinformatigen Zucht zum Beispiel von Fleisch, bei der dann prächtig fettmarmoriertes Fleisch entsteht, das ein ganz spezifisches Geschmacksbild ergibt und sich im Laufe der Geschichte als optimiert und erstrebenswert entwickelt hat. Dies in handwerklicher Präzision in der Küche zu realisieren, macht – nach durchaus weithin gültigen Maßstäben der Professionals in diesem System – große Kochkunst aus.

Eher angreifbare Aspekte finden sich zum Beispiel bei der Foie gras/Stopfleber. Dass die überfettete Leber von Gänsen oder Enten ebenfalls in einem natürlichen Prozess entsteht, in dem sich die Tiere »Substanz« anfressen, ist teilweise bekannt. Dass man diesen Prozess...

Erscheint lt. Verlag 6.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-96196-358-4 / 3961963584
ISBN-13 978-3-96196-358-4 / 9783961963584
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