Einsamkeit und Ressentiment -  Jens Kersten,  Claudia Neu,  Berthold Vogel

Einsamkeit und Ressentiment (eBook)

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2024 | 1. Auflage
184 Seiten
Hamburger Edition HIS (Verlag)
978-3-86854-445-9 (ISBN)
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Im Dezember 2023 verabschiedete die Bundesregierung eine »Strategie gegen Einsamkeit«. Gesellschaft und Politik haben mittlerweile die Bedeutung dieser Emotion in allen sozialen Lebensbereichen erkannt. Einsamkeit ist das Gefu?hl eines Mangels an sozialen Beziehungen, das nicht nur persönliches Leid, sondern auch demokratiegefährdende Potenziale entfalten kann. Ressentiment ist ein Gefu?hl der Ohnmacht, das eine soziale Polarisierung hervorrufen kann. Dieses Buch veranschaulicht den demokratiegefährdenden Zusammenhang von Einsamkeit und Ressentiment und zeigt auf, dass nur eine Demokratie mit starken öffentlichen Institutionen dieser Radikalisierung Grenzen setzen kann.

Jens Kersten ist Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU München. Claudia Neu ist Professorin für Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel. Berthold Vogel ist Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) und unterrichtet Soziologie an den Universitäten Göttingen, Kassel und St. Gallen (CH).

I Demokratische Relevanz von Einsamkeit und Ressentiment


Einsamkeit und Ressentiment sind starke Gefühle, die unsere Gesellschaft beherrschen. Von einer ansteckenden Epidemie der Einsamkeit ist die Rede, die sich zu einer Volkskrankheit entwickelt;1 und das Ressentiment gilt als das »drängendste Problem unserer Zeit«2, als eines »der gefährlichsten Übel für die psychische Gesundheit des Subjekts und die Funktionsfähigkeit der Demokratie«.3 Selbst wenn man diese Diagnosen für überpointiert halten sollte: Einsamkeit und Ressentiments fordern uns heute individuell, sozial und politisch heraus. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn diese beiden starken Emotionen aufeinandertreffen. Kann sich Einsamkeit in Ressentiments niederschlagen? Machen Ressentiments einsam? Und welche Folgen hat dies für die Bürgerinnen und Bürger, für die Gesellschaft und für die Demokratie in der Bundesrepublik?

Wenn man nach den gesellschaftlichen und politischen Folgen des Zusammenhangs von Einsamkeit und Ressentiment fragt, muss man zunächst und vor allem festhalten: Nicht jeder einsame Mensch entwickelt Ressentiments, und umgekehrt fühlt sich nicht jede ressentimentgeladene Person einsam. Es besteht also von vornherein kein kausales Verhältnis von Einsamkeit und Ressentiment. Allerdings lässt sich eine individuelle, soziale und politische Korrelation von Einsamkeit und Ressentiment feststellen, die sich desaströs auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Ordnung auswirken kann.4 Das individuelle Gefühl von Einsamkeit entfaltet sich in einer komplexen Beziehung zu gesellschaftlichen Strukturen. Es ist oft Begleitumstand und Folge gesellschaftlicher Umstände.5 So kann langanhaltende Einsamkeit zu einem vollständigen sozialen Rückzug und zu physischen und psychischen Erkrankungen führen. Einsamkeit wirkt sich auch negativ auf das gesellschaftliche Miteinander aus. Denn einsame Menschen beteiligen sich im Vergleich zu nichteinsamen Menschen weniger am gesellschaftlichen und politischen Leben.6 Sie fühlen sich oft nicht (mehr) als Teil der Gesellschaft. Sie beginnen, ihre Mitmenschen und ihre Umwelt negativ wahrzunehmen. Deshalb verabschieden sie sich auch davon, unsere Gesellschaft demokratisch mitzugestalten. Zugleich mangelt es einsamen Menschen – wiederum im Vergleich zu ihren nichteinsamen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – oft an politischem Vertrauen in demokratische Institutionen, insbesondere in Parteien und Parlamente, aber auch in Verwaltungen und Justiz.7 Einsame Menschen sprechen Politikerinnen und Politiker ungern persönlich mit Blick auf individuelle und gesellschaftliche Probleme an.8 Sie nutzen im geringeren Maß die partizipativen Möglichkeiten, sich mit Petitionen an Parlamente und Regierungen zu wenden. Sie nehmen weniger häufig an Wahlen teil und verzichten damit auf das zentrale politische Recht und Instrument demokratischer Teilhabe, über das die Bürgerinnen und Bürger in einer parlamentarischen Demokratie verfügen. Wenn aber einsame Menschen zur Wahl gehen, entscheiden sie sich häufiger für populistische Kandidatinnen und Kandidaten und für populistische Parteien,9 während dies bei Personen, die vielfältige soziale Beziehungen unterhalten, weniger der Fall ist.10 Einsame Menschen neigen zudem eher zu Verschwörungsmythen, und sie billigen eher politische Gewalt, als dies nichteinsame Menschen tun. Doch einsame Menschen sind zugleich auch häufiger Opfer von Diskriminierung. Diskriminierung erzeugt und verstärkt Einsamkeit. Gerade in diesem Punkt zeigt sich eine erste Klammer von Einsamkeit und Ressentiment. Denn einsame Menschen werten ihrerseits andere Menschen und soziale Gruppen in weitaus stärkerem Maße ab, als nichteinsame Menschen dies tun. Die Zustimmungswerte zu Antisemitismus und Rassismus und die Ablehnung einer pluralistischen und diversen Gesellschaft sind bei einsamen Menschen besonders hoch. Einsamkeit macht somit nicht nur verletzlich, sondern kann – möglicherweise aufgrund selbst erlittener Kränkungen – dazu führen, andere Menschen und soziale Gruppen abzuwerten, um das eigene Selbst zu stabilisieren.11

Wie hoch das Gefährdungspotenzial von Einsamkeit und Ressentiment für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Ordnung der Bundesrepublik einzuschätzen ist, zeigt auch eine Studie, die sich im Jahr 2023 den politischen Folgen von Einsamkeit unter Jugendlichen gewidmet hat.12 Die Studie bringt bereits in ihrem Titel – Extrem einsam? – das sozial und politisch prekäre Verhältnis von Einsamkeit und Ressentiment zum Ausdruck. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass viele Jugendliche von dem Gefühl der Einsamkeit beherrscht werden: 55 % der Jugendlichen fehlt manchmal oder immer Gesellschaft, und 26 % der Jugendlichen haben nicht das Gefühl, anderen Menschen nahe zu sein. Viele Jugendliche entwickeln kein klares Bild von Gesellschaft und distanzieren sich von der Demokratie. Nur 57 % der Jugendlichen halten die Demokratie für die beste Staatsform. Wiederum 55 % der Jugendlichen bemängeln, die Politik greife nicht die Themen auf, die für ihre Generation relevant seien. 25 % der Jugendlichen fühlen sich politisch ohnmächtig. Darüber hinaus belegt die Studie Extrem einsam? einen Zusammenhang zwischen der persönlichen Einsamkeit und autoritären Einstellungen unter Jugendlichen, wobei Verschwörungsglaube, Billigung politisch motivierter Gewalt und Bewunderung autoritärer Führung als Indikatoren dienen. So ist der Anteil einsamer Jugendlicher – wiederum im Vergleich zu nichteinsamen Jugendlichen – signifikant höher, die an den Verschwörungsmythos glauben, die Regierung verheimliche wichtige Informationen vor der Öffentlichkeit (58 % Einsame vs. 46 % Nichteinsame), insbesondere was Terroranschläge angehe (47 % Einsame vs. 31 % Nichteinsame). Die Billigung von Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker fällt bei einsamen Jugendlichen ebenso höher aus (34 % Einsame vs. 25 % Nichteinsame) wie die Bewunderung autoritärer Führungspersönlichkeiten (46 % Einsame vs. 35 % Nichteinsame). Demgegenüber stellt die Studie Extrem einsam? aber auch fest, dass 20 % der Jugendlichen eine populistische Einstellung teilt, ohne dass diesbezüglich jedoch ein signifikanter Unterschied zwischen einsamen und nichteinsamen Jugendlichen festgestellt werden kann.

Die Verbindung von Einsamkeit und Ressentiment ist also für die Entfaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die demokratische Ordnung der Bundesrepublik von höchster Relevanz.13 Aber was kann man gegen diese Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der demokratischen Ordnung tun? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht. Gut gemeinte Vorschläge des Common Sense wirken nicht gegen Einsamkeit: »Unternimm doch mal was, und lern einfach mal ein paar nette Leute kennen.«14 Und auch gegen Ressentiments helfen gute Ratschläge wenig: »Anstatt immer wieder dein Ohnmachtsgefühl wiederzukäuen, solltest du vielleicht mal besser deinen Groll runterschlucken und dich gegenüber deiner Umwelt offen zeigen.« Sicherlich ist das individuelle Bemühen von Bürgerinnen und Bürgern ganz zentral, um Einsamkeit und Ressentiment zu begegnen, wenn nicht sogar zu überwinden. Dies gelingt aber oft weder im Fall der Einsamkeit noch im Fall des Ressentiments allein aus eigener Kraft.15 Auch die individuelle Anstrengung »zur Heilung« benötigt also vielfach mitmenschliche Hilfe sowie die Unterstützung von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, die Prävention und Intervention anbieten sowie zu einer Enttabuisierung der Themen Einsamkeit und Ressentiment beitragen: So sind Einsamkeit und Ressentiment nicht isoliert als individuelles Schicksal oder gar als Charakterschwächen zu betrachten. Vielmehr haben sie auch soziale Ursachen, und sie bergen evidente Risiken und Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Ordnung. Wenn man dies aktiv oder defensiv ignoriert, »privatisiert« man ein zentrales und zugleich risikoreiches, wenn nicht sogar gefährliches Problem unserer Gesellschaft, ohne es zu lösen.

Inzwischen haben Gesellschaft und Politik die Bedeutung von Einsamkeit in praktisch allen sozialen Lebensbereichen erkannt. In einem Aufsehen erregenden symbolischen Akt hatte die britische Premierministerin Theresa May im Jahr 2018 einen »Minister for Loneliness« in Großbritannien berufen.16 Auch in Deutschland sind – wie in anderen europäischen Ländern – die gesundheitlichen und sozialpolitischen Folgen von Einsamkeit in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt.17 Dies hat sich in der Corona-Pandemie noch einmal verstärkt.18 Gesundheits- und Familienministerien entwickeln nun Strategien gegen Einsamkeit, vor allem zur Prävention und Hilfe für die Bewältigung von Einsamkeit im Alter. Die »Strategie gegen Einsamkeit«, die von der...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-86854-445-3 / 3868544453
ISBN-13 978-3-86854-445-9 / 9783868544459
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