Für eine menschliche Welt (eBook)
238 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8295-1 (ISBN)
Jessé Souza, Dr. phil., ist ordentlicher Professor für Soziologie an der Universidade Federal Fluminense (Brasilien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, soziologische Theorie und Lateinamerika. Ilka Sommer, Dr. phil., ist freiberufliche Soziologin und Publizistin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kommunikation, Praxis für ein besseres, anti-kapitalistisches Zusammenleben, Soziale Ungleichheit, Migration, Bildung, Gesundheit. Christopher Wimmer, geboren 1989, ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht zu sozialer Ungleichheit, Armut sowie politischer Mobilisierung. Außerdem schreibt er regelmäßig für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen.
Die konsequente Verbindung von Philosophie und Soziologie im Denken von Boike Rehbein
Gernot Saalmann
Kennengelernt habe ich Boike bereits 1985/86 in einem soziologischen Seminar zu den Schriften von Karl Marx (bei Günter Dux in Freiburg). Schon in seinem ersten Semester fiel er mit seiner Sachkenntnis und soliden Argumentation auf. Daneben zusätzlich mit den langen Haaren, die damals nicht mehr allgemein Mode waren. Wie ich viel später erfahren habe, verdankten sie sich der Zugehörigkeit zur (Speed-)Metal-Szene – so etwa das Album „Vegetable’s Life“ seiner Band Total Mosh Project von 1991. Boike meinte einmal, er habe als Jugendlicher mit dem Kopfhörer so laut Musik gehört, dass sich die Nachbarn immer noch beschwert hätten.
Zunächst haben wir uns längere Zeit aus den Augen verloren, weil er für das weitere Studium nach Berlin, Paris, Frankfurt und Göttingen gegangen ist. Erst zu Beginn der 1990er Jahre sind wir uns zufällig im Flur des Freiburger Instituts für Soziologie wieder begegnet. Ich hatte gerade meine Magisterarbeit über den Relativismus beendet, er schrieb noch an seiner über die Entstehung wissenschaftlichen Denkens bei Bacon und Galilei (Rehbein 1998). Wie wir im weiteren Gespräch festgestellt haben, wollten wir beide über Themen zum Verstehen promovieren. Boike wollte sich zur Beantwortung der philosophischen Frage, was man genau meint, wenn man sagt, man verstünde einen anderen Menschen, erschwerten Bedingungen aussetzen, indem er sich in ein Land begab, dessen Kultur er nicht kannte. Dazu hatte er sich das vom Kolonialismus wenig berührte Laos ausgesucht und sogar in Berlin bei einem Exil-Laoten die Sprache erlernt. Einige Jahre später hat er mit diesem eine laotische Grammatik veröffentlicht (Rehbein/Sayaseng 1997). Im Vergleich zu diesem praxisorientierten Ansatz (Rehbein 1997) war meine Promotionsschrift über die erkenntnistheoretische Frage, wie man begründen könne, dass man die Äußerungen anderer Menschen aus anderen Kulturen verstehen kann, rein textbasiert, obwohl ich mittlerweile von Ethnologie zur Soziologie gewechselt hatte (Saalmann 2005).
Zu unserer Belustigung haben wir darüber hinaus festgestellt, dass wir beide am gleichen Tag Geburtstag haben. (Anlässlich meines 30. Geburtstags meinte Boike, er habe früher nie geglaubt, jemals seinen 30. Geburtstag zu erreichen.) In den nächsten Jahren haben wir zusammen mit weiteren Freunden so manchen Rotweinabend verbracht und diskutiert. Dabei entstand auch die Idee, im immer wichtiger werdenden Internet eine Diskussionsgruppe zu den Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung zu gründen. Da damals solche Gruppen noch von freiwilligen Moderatoren überwacht worden sind, wurde unser Vorschlag abgelehnt — ohne nähere Begründung.
Boike wollte eigentlich nie Professor werden, wie sein Vater, sondern eher als Übersetzer arbeiten, wie seine Mutter, während ich selbst gerne weiterhin an der Universität bleiben wollte. Zu meinem Leidwesen jedoch, brauche ich meist lange Zeit, um größere Texte zu schreiben. Boike dagegen war immer ein bemerkenswert disziplinierter Arbeiter und konnte sehr schnell Texte verfassen (Er wurde 1996 promoviert, ich selbst erst 2001).
Nach knapp zwei Jahren in Göttingen kehrte Boike jedoch wieder nach Freiburg zurück und wollte die Möglichkeit einer Hochschulkarriere eruieren. Zwei Gründe waren ausschlaggebend für seinen Wechsel zur Soziologie. Ich hatte mich 1995/96 erstmals eingehender mit Bourdieu beschäftigt und erzählte Boike von meiner Idee, dessen Theorie auf Indien anzuwenden. Das hat ihn unmittelbar angesprochen und er wollte dasselbe in Laos machen. Zudem legte ich ihm nahe, mit Hermann Schwengel zu sprechen, der sich sehr offen gezeigt und meine Dissertation zu Ende betreut hatte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb sehr gut, so dass Boike die nötige Unterstützung erfuhr. In den nächsten Jahren haben wir einige Lehrveranstaltungen zusammen durchgeführt (2002 Bourdieu, 2004/05 Globaler Kapitalismus, 2005/06 Asiatische Soziokulturen), Tagungen organisiert (2002 Bourdieu, 2008 Verstehen) und uns gegenseitig in Arbeitsgruppen eingeladen (er mich zum Orientalistentag in Freiburg und in Halle, ich ihn in die von mir ins Leben gerufene AG Musiksoziologie in der DGS auf Soziologentage. Einmal präsentierte er seine Befragung in Laos, bei der er den Menschen dort, die ein ganz anderes Tonsystem haben, seine Lieblingssinfonie (Mahlers Neunte) vorgespielt hatte, um zu prüfen, ob sie die traurige Stimmung erkennen konnten, was tatsächlich der Fall war. Ein anderes Mal hielt er einen launigen Vortrag zum sozialen Hintergrund seiner Freunde aus der Metal-Szene.
Zudem hatte ich ihn 1999 auf eine Reise nach Laos begleitet und er hat mich in den folgenden Jahren nicht nur zur Mitarbeit am Bourdieu Handbuch eingeladen, sondern auch an einem mehrbändigen Werk über große historische Persönlichkeiten, das leider nie im Druck erschienen ist, da Brockhaus vor Wikipedia kapitulieren musste.
Boike hat sich in schneller Folge habilitiert (Rehbein 2004) und weitere Aufsätze und Bücher über Laos geschrieben (Rehbein 2007), das er weiterhin oft bereist und sich schnell als einer der wenigen Spezialisten etabliert hat, sodass er ausgewählt worden ist, am Aufbau der sozialwissenschaftlichen Fakultät der National University of Laos in Vientiane mitzuwirken (zusammen mit Grant Evans).
In Freiburg übernahm Boike neben Hermann Schwengel die Leitung des Global Studies Programme aus den Händen des Ideengebers und Mitgründers Frank Welz. Unter seiner Leitung traten neben die Studienorte Freiburg, Durban (Südafrika) und Delhi (Indien) noch Bangkok (Thailand) und Buenos Aires (Argentinien) hinzu. Nachdem ich 2003 auf eigene Initiative bereits in Delhi an der Jawaharlal Nehru University gewesen war, um mein Forschungsprojekt zu besprechen, das aber mangels Finanzierung nicht zu Stande gekommen ist, konnte ich 2008 auf Vermittlung von Boike zum ersten Mal für die Lehre nach Delhi gehen. In den folgenden Jahren kamen weitere Aufenthalte in Indien hinzu.
Nachdem Boike 2009 seine Professur an der Humboldt Universität zu Berlin erhalten hatte, haben wir uns leider nur noch selten gesehen (z. B. in Indien!) und der Kontakt hat sich sehr reduziert. Leider war er auch im Ausland unterwegs, als ich im Frühjahr 2014 an seinem Institut in Berlin eine Tagung zu den Beziehungen zwischen Indien und Iran organisiert habe. Während Boike seine Anwendung der Theorie Bourdieus auf Laos ja bereits 2004 vorgelegt hatte, ist meine Anwendung auf Indien erst 2017 erschienen (s. a. Saalmann 2024).
Ein systematisch verfolgtes Werk
Boike hatte Philosophie und Soziologie stets gleichermaßen studiert. So war er im Studium Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas begegnet, während er sich gleichzeitig mit Analytischer Philosophie oder Heidegger beschäftigt hat. Seine Magisterarbeit in Philosophie könnte man durchaus als wissenschaftssoziologisch bezeichnen. In seiner Dissertation hat Boike dann Verstehen nicht auf Texte oder Sprechakte bezogen untersucht, sondern gleichsam existenziell auf die Seinsweise anderer Menschen, was es also für sie heißt, in der Welt zu sein, was wiederum einschließt, warum sie sich in welcher sozialen Lage befinden. Für den Zugang und das Verständnis war von größter Wichtigkeit, die Sprache zu können.
Vor dem Hintergrund seiner Felderfahrungen in Laos fiel es ihm auch nicht allzu schwer, mein Insistieren darauf zu bedenken, dass man als Soziologe neben dem Sozialen immer auch die Kultur, in einem weiten anthropologischen Sinne verstanden, mit untersuchen müsse. Ganz überzeugt hat ihn ein Text über das Kulturverständnis bei einigen Soziologen (Saalmann 2000), wie er mir selbst gesagt hat. In seinen späteren Untersuchungen hat er dann den Begriff Soziokulturen verwendet, um dieser Einsicht Rechnung zu tragen. Sie machte auch die Theorie von Bourdieu unmittelbar attraktiv und plausibel, weil dieser das Soziale, die Kultur und das Ökonomische als gleich wichtig erachtet hat. ...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8295-1 / 3779982951 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8295-1 / 9783779982951 |
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