Die Psychologie der Situation (eBook)
451 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8474-4 (ISBN)
Eberhard Stahl, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut und Co-Geschäftsführer von elbdialog GbR; als Dozent, Mediator und Teamentwickler für Unternehmen und öffentliche Institutionen tätig.
Einleitung
Manni Öttersfeld ist einer der Helden meiner Kindheit.1 Als ich im Alter von zehn Jahren die erste Klasse eines autoritär geleiteten Jungengymnasiums besuchte, war er Schüler der Oberstufe. Um ihn rankte sich die folgende Legende:
Beispiel 1: Angenehm – Öttersfeld!
Der für seine cholerischen Ausbrüche bekannte Mathelehrer »Kimme« Kimmenberg inszeniert in der Obersekunda (Klasse 11) eine seiner gefürchteten Klausurrückgaben. Dazu schreitet er durch die Stuhlreihen und trägt dabei den Stapel mit Klassenarbeitsheften vor sich her. Obenauf liegen die Einsen, ganz unten die Sechsen. Er hält jeweils am Pult des Eigentümers des oben liegenden Heftes an und legt das Heft mit einem verbalen (»Mehr Glück als Verstand!«) oder nonverbalen (Kopfschütteln) Kommentar auf dessen Tisch. Zum Schluss der Inszenierung hält er noch ein Heft in der Hand. Es ist das sichtlich ungepflegte und zerknitterte Heft von Manni Öttersfeld. Kimmenberg baut sich vor dessen Pult auf, knallt das Arbeitsheft vor ihn auf den Tisch und brüllt mit rotem Kopf: »Faulpelz!« Es ist totenstill. Manni Öttersfeld erhebt sich mit auf den Tisch gestützten Händen, neigt den Kopf zur Seite, lächelt freundlich und sagt: »Angenehm, Öttersfeld!« Dann setzte er sich wieder hin. Es ist wiederum totenstill. »Kimme« Kimmenberg erbleicht und dreht ab.
Die Gewitztheit des Manni Öttersfeld erschien mir damals als mindestens ebenso bewundernswert wie seine Kaltblütigkeit. Dass er sich traute, die Attacke des gefürchteten Lehrers zu parieren, war das eine. Das andere war, dass er wusste, wie. Mit ein paar Worten verwandelte er die Demütigung in eine Selbstbehauptung, das Drama in eine Farce. Das erschien mir als ein großartiger und unbegreiflicher Zaubertrick.
Seitdem sind fünfzig Jahre vergangen. In der Zwischenzeit habe ich Psychologie studiert und anschließend als Psychotherapeut, Eheberater, Konfliktmoderator, Teamentwickler und Psychologielehrer Erfahrungen gesammelt. Wenn ich heute auf diese Situation blicke, habe ich das Gefühl, den Zaubertrick zu verstehen: Manni Öttersfeld manipulierte das Situationsverständnis der Beteiligten und veränderte dadurch die Gesprächsgrundlage. Wie ein raffinierter Kulissenschieber im Theater veränderte er durch eine »rückwirkende Umdeutung des Interaktionsformats« das Bühnenbild derart, dass ein ganz anderes Stück zur Aufführung gelangte, als sein Gegner beabsichtigte. Plötzlich und allein durch die Entgegnung »Angenehm, Öttersfeld!« erschien der Angreifer mit seiner Attacke nicht länger, wie von ihm geplant, als tobender Racheengel im Rahmen einer »einseitigen Zurechtweisung«, sondern – zack! – gegen seinen Willen als sich selbst bezichtigender Trottel im Rahmen einer »wechselseitigen Vorstellung«. Durch die kunstvolle Verdrehung des Situationsverständnisses mittels zweier Worte wurde der Kimmenberg’sche Speer zum Bumerang.
Die zentrale Bedeutung unseres meist unbewussten Situationsverständnisses für den Verlauf und das Erleben unserer Gespräche, für das Gelingen, Schlingern, Kippen, Scheitern und Wiederaufleben von Kommunikation, hat mich über die Jahre beruflich und privat fortlaufend fasziniert. Wir alle erleben unsere alltäglichen Gespräche ja stets eingebettet in einen situativen Rahmen. Wir begegnen einander nicht im luftleeren Raum, sondern an konkreten Orten, bei konkreten Anlässen, mit konkreten Beteiligten, die über konkrete Themen sprechen. Wie selbstverständlich gehen wir meistens davon aus, dass sich diese konkreten Situationen allen Beteiligten genauso darstellen wie uns. Wir halten es für ausgemacht, dass unsere situationsbezogenen Vorannahmen hinsichtlich des Orts, des Anlasses, der Besetzung und des Themas des Miteinanders alternativlos sind und deshalb von allen vernünftigen Menschen geteilt werden müssen. Aus diesem vermeintlich »selbstverständlichen« Situationsverständnis leiten wir Vorschriften für angemessenes Denken, Sprechen und Verhalten ab, die uns ihrerseits wiederum als gegeben, »natürlich« und »normal« erscheinen. Indem wir ihnen folgen, werden wir selbst zu Kulissenschieber:innen, denn durch unser Verhalten lassen wir genau jene Situationen lebendig werden, in denen wir uns zu befinden glauben: Wer über eine Bemerkung lacht, lässt sie als Witz erscheinen und wer sich über sie empört, inszeniert sie als Beleidigung. Wir erwarten, dass auch unsere Gegenüber sich an die für »natürlich« und »allgemeingültig« gehaltenen Normen halten. Tun sie das nicht, erklären wir sie schnell für dumm, gestört oder böswillig und behandeln sie entsprechend. Dadurch werden Beziehungen vergiftet. Dass andere vielleicht von anderen situationsbezogenen Vorannahmen ausgehen, dadurch ein anderes Situationsverständnis entwickeln, deshalb anderen Normen folgen und schließlich anderes für angemessen halten, kommt uns selten in den Sinn. Und selbst wenn wir diese Möglichkeit einmal einräumen, fällt es uns häufig schwer, die unserem Befremden zugrunde liegenden Unterschiede im Situationsverständnis sichtbar, unsere Vorannahmen besprechbar und unterschiedliche Sichtweisen überbrückbar zu machen.
Die Entwicklung unseres Situationsverständnisses in Gesprächen ist das Thema dieses Buches. Es will Antworten auf die folgenden Fragen geben:
- Wie entstehen unsere persönlichen Vorannahmen zum situativen Kontext unserer Gespräche? (Kap. 1–3)
- Wie fügen sich diese Einzelteile zu einem zusammenhängenden Situationsverständnis? (Kap. 4–7)
- Wie lenkt unser Situationsverständnis unser Verhalten und unsere Erwartungen an das Verhalten anderer im Gespräch? (Kap. 8–9)
- Wie lassen wir im Gespräch unser eigenes Situationsverständnis wirksam werden und wie beeinflusst uns das der anderen? (Kap. 10)
- Wie stimmen wir unser Situationsverständnis mit dem unserer Gesprächspartner:innen so ab, dass ein »gemeinsamer Nenner« entsteht? (Kap. 11)
- Wie können wir die Beteiligten unterstützen, wenn sie allein nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen bzw. in Sackgassen feststecken? (Kap. 12).
Die Antworten auf diese Fragen beschreiben den Prozess des Kontextualisierens von Kommunikation. In diesem Prozess geben wir unseren Gesprächen ihren Rahmen, auch wenn es uns häufig so vorkommt, als würden wir diesen Rahmen »schlüsselfertig« vorfinden. Vom Gelingen dieses Prozesses hängt das Gelingen unserer Gespräche wesentlich ab. In diesem Prozess spielen kognitive und kommunikative Aspekte eine Rolle: Im Rahmen der »Kontextermittlung« entwickeln wir als Einzelne unser Situationsverständnis, indem wir unsere kontextbezogenen Wahrnehmungen ordnen und zusammenfügen. Im Rahmen der »Kontextvermittlung« lassen wir einander wissen, von welchem Situationsverständnis wir jeweils ausgehen. Im Verlauf der »Kontextverhandlung« arbeiten wir an einem gemeinsamen Situationsverständnis. Der Begriff »Kontextualisierung« umfasst alle drei Aspekte und ihr Wechselspiel.2
Natürlich bin ich nicht der Erste, der sich Fragen zum Verhältnis von Kommunikation und Situationsverständnis stellt. Viele, viele Kolleg:innen aus (mindestens) Philosophie, Linguistik, Soziologie, Ethnologie und Psychologie haben darüber nachgedacht, geforscht und geschrieben.3 Ich versuche in diesem Buch, den mir bekannten Teil des vorliegenden Wissens zum Prozess des Kontextualisierens so zu ordnen und zu ergänzen, dass sich ein übersichtliches Gesamtkonzept und ein praxistauglicher Handwerkskoffer für jene ergeben, die alltäglich an der Gestaltung dieses Prozesses beteiligt sind. Mein Konzept stelle ich der Einfachheit halber wie ein Geschichtenerzähler vor – Schritt für Schritt, als wäre es »aus einem Guss«, »auf meinem Mist gewachsen« und »das einzig wahre«. Ich verbanne den Großteil der Hinweise auf die Vordenker:innen und die zugrunde liegenden Studien, Theorien und Fachdiskussionen in die Anmerkungen und damit ans Ende des Buches, um nicht von vornherein mit zu vielen Details zu verwirren. Sie können das Buch dementsprechend mindestens auf zwei verschiedene Weisen lesen: »naiv«, d. h. als »Konzept an sich«, ohne Berücksichtigung der Anmerkungen und damit des fachlichen Diskurses, oder »kritisch«, d. h. als »ein mögliches Konzept unter vielen anderen denkbaren«, unter Berücksichtigung der Anmerkungen.
Ich stelle mir vor, dass die folgenden Seiten für Sie als Leser:in interessant und nützlich sein könnten, wenn Sie …
- als professionelle:r Berater:in in den Bereichen Psychotherapie, Coaching, Mediation,...
Erscheint lt. Verlag | 3.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-8497-8474-6 / 3849784746 |
ISBN-13 | 978-3-8497-8474-4 / 9783849784744 |
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