Medientheorien: Grundwissen und Geschichte (eBook)
284 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-6174-0 (ISBN)
Dr. Andreas Ströhl, Medientheoretiker, leitete das Filmfest München. Promotion über Flusser. Regionalleiter Subsahara-Afrika des Goethe-Instituts.
Vorwort
Einführung
Wozu braucht man Medientheorie?
Seit wann gibt es Medientheorien?
Was sind Medien?
Verwirrende Disziplinen
Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie
Das vedische Konzept von Maja
Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis
Immanuel Kants Erkenntnistheorie
Hegel und die Dialektik
Metaphern prägen unser Mediendenken
Anatomie und Blutkreislauf
Friedrich List und Adam Heinrich Müller
Die Zweite Industrialisierung und das Riepl’sche Gesetz
Medientheorien im 20. Jahrhundert
Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen
Von der Aura zum Chock: Walter Benjamin – die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik
Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien
Kommunikationsmodelle: Karl Bühler, Claude Shannon, Warren Weaver und Roman Jakobson – und die Lasswell-Formel
Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter
Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie: Adorno und Horkheimer, Enzensberger und Habermas als Medientheoretiker
Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag
Der Konstruktivismus
Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien
Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten
Vom Dialog, von Kanälen und Codes: Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation
Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20. Jahrhundert
Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart
Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard
Rasender Stillstand: Paul Virilio – der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden
Der Geist singt nicht mehr im Signifikantenstadel: Friedrich Kittler und das technische Apriori
… und jetzt?
Das Erbe der Gründerväter und der Versuch, Abschied zu nehmen
Nach dem Abschied vom Abschied von den Medientheorien
Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien
Was also sind Medien?
Literaturverzeichnis
Index
Personenindex
Abbildungsverzeichnis
Was sind Medien?
Schon an der Frage, was überhaupt ein Medium sei, zerschellt der Traum von einer einheitlichen Wissenschaft oder Theorie von den Medien. Wie das Aristoteles-Zitat oben zeigt, stellte man sich in der Antike und in der Folge der aristotelisch und platonisch beeinflussten Lehren in Europa (einschließlich des Katholizismus) unter »Medien« zunächst physische Stoffe wie Luft oder Wasser vor. 1675 ging Isaac Newton noch von einem ätherischen Stoff aus, der die Bewegung des Lichts und damit das Sehen ermögliche. Dieser Stoff galt ihm als Medium.
Parallel dazu waren Medien aber immer auch Sendboten des göttlichen Willens. Der Götterbote Hermes ebenso wie der Erzengel Gabriel, der Prophet Mohammed oder Jesus Christus: Sie alle überbringen göttliche Nachrichten. Für Katholiken übernimmt die Jungfrau Maria allerlei Fürbitten, die offenbar einer medialen Vermittlung bedürfen. Von Anbeginn an hat unsere Vorstellung vom Medium also auch religiöse Züge: Das Heilige, die Wahrheit selbst zu sehen, ist uns unmöglich oder verboten. Mittler sind nötig. Das können Engel, Propheten oder Priester sein – oder eben Schriften oder andere Datenspeicher.
Dieser Tradition entstammt auch der Sprachgebrauch vom Medium als dem besonders begabten Empfänger übersinnlicher Information. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wird unter einem Medium vor allem ein Mensch verstanden, der dank besonderer Begabung, durch Trance, Hypnose, Drogen, Nahtoderfahrungen, Hysterie oder andere ekstatische Begleitumstände in der Lage ist, mitzuteilen, was anderen Menschen nicht offenbar wird: verborgenes, geheimes Wissen, die Zukunft etc. Als Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts diese Formen von Volksglauben, gestützt durch die gleichzeitige Erforschung der Elektrizität und die Entdeckung der »tierischen Elektrizität« durch Luigi Galvani, vorgeblich naturwissenschaftlich fundiert, als er Formen von Hypnose als »animalischen Magnetismus« gesellschaftlich akzeptabel und salonfähig zu machen versucht, werden seine Versuchspersonen ganz selbstverständlich als »Medien« bezeichnet.
Ein Indiz dafür, dass der Begriff des Mediums im Sinne von Durchlässigkeit für etwas verwendet worden ist, findet sich in Georg W. F. Hegels Wissenschaft der Logik von 1812 – fast beiläufig wird da erwähnt, dass so, wie das Wasser im Körperlichen die vermittelnde Funktion eines Mediums hat, im Bereich des Geistigen die Zeichen bzw. die Sprache diese mediale Funktion übernehmen […]. Das Medium ist ein Tor zur Welt des Symbolischen (Hartmann 2010, 273).
Ab 1870 fotografiert der Arzt Jean Martin Charcot in der berühmten Nervenheilanstalt Salpêtrière in Paris Hysterikerinnen. Seine Modelle, wie die durch die Sessions und Fotos berühmt gewordene Augustine, waren Patientinnen und Darstellerinnen zugleich. Vor allem aber verkörperten sie etwas Unheimliches, anscheinend ihnen selbst Unzugängliches: Sie sind Medien, die etwas transportieren und vermitteln. Die Fotografie selbst als »Medium« zu bezeichnen, wäre damals aber noch niemandem eingefallen. Und noch als der Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing 1929 Fotos von »Materialisationsphänomenen« (z. T. in Anwesenheit von Thomas Mann) macht und ausstellt, wird keineswegs die Fotografie selbst als »Medium« bezeichnet, sondern vielmehr immer noch die fotografierten Personen, die diese Phänomene des sogenannten »physikalischen Medionismus« hervorbringen.
Doch dann, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, setzt sich allmählich die Bedeutung von »Medium« durch, die wir heute zuallererst mit dem Begriff verbinden: ein technisches Kommunikationsmittel, stets im Zusammenhang mit seinen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingtheiten und Bedingungen gedacht.
Die Wiederbelebung und Umprägung des alten Begriffs vom »Medium« haben wir dann, es muss gesagt werden, der Werbewirtschaft zu verdanken:
»Medien«, »media« – das ist, streng diskurshistorisch betrachtet, ein Konzept aus der amerikanischen Mikroökonomie der Werbewirkungsforschung und nicht etwa aus soziologischen Diskursen. Die Werbewirtschaft und niemand sonst musste in dem Begriff »Medien« den Epochenübergang markieren, der sich mit den Überlagerungen von Print, Plakat, Leuchtschrifttechniken, Film und Radio in den 1920ern ereignete. […] Kurzum: Nicht eine Wissenschaft, sondern die Medien selbst, nämlich der mikroökonomische Diskurs ihrer Werbeagenturen, haben das Pluraletantum der Medien in die Welt gesetzt. (Hagen 2011, 89–92)
Ein Medium nach unserem heutigen Sprachgebrauch ist zunächst einmal eine Instanz, die Kommunikation ermöglicht. Nie jedoch sollte vergessen werden, dass die religiösen (Zugang zu geheimem Wissen) und naturwissenschaftlichen (Trägersubstanz für chemische oder physikalische Reaktionen) Bedeutungen auch im aktuellen Gebrauch des Begriffs immer noch mitschwingen, wenn auch meist unbewusst.
Medien im heutigen Sinne sind unverzichtbar in der Kommunikation mit anderen Menschen. Doch welche Funktion genau nehmen sie in diesem Prozess ein? In den klassischen Kommunikationstheorien werden verschiedene Funktionen voneinander abgegrenzt. Die meisten dieser Theorien sehen folgende Instanzen vor: einen Sender, einen Empfänger, einen Code, einen Kanal, eine Umwelt, Geräusche – und eben ein Medium. So weit herrscht weitgehende Übereinstimmung. Doch Kommunikations- und Medientheorien sind immer Ausdruck einer hinter ihnen stehenden, umfassenderen Grund- und Geisteshaltung, einer bestimmten Philosophie oder Ideologie. Deshalb ist bei jeder Beschäftigung mit Medientheorien ein Blick auf Philosophie und Ideengeschichte unumgänglich. Auch diese Einführung in die Medientheorien wird deshalb einige wichtige philosophische und vor allem erkenntnistheoretische Positionen und Entwicklungen kurz rekapitulieren, als deren Ausdruck oder Neuformulierung auch die zeitgenössischen Medientheorien verstanden werden müssen.
Je nach übergeordnetem Weltbild verschieben sich die Schwerpunkte in der ihm zuzuordnenden Medientheorie. Dies zeigt sich besonders deutlich anhand des jeweils verwendeten Begriffs vom Medium: Was in der einen Theorie als »Kanal« gilt, wird in der anderen als »Medium« bezeichnet. Zur Erläuterung hier nochmals das Beispiel von Moses und den zehn Geboten: Eine intuitive Zuordnung der Begriffe (noch vor dem Versuch, diese zu definieren) ergäbe etwa folgendes Bild:
Kommunikationstheoretischer Begriff | Sender | Code | Medium | Kanal | Empfänger | Message |
Beispiel zehn Gebote | Gott | Schrift | Steintafel | Moses | Israeliten | Gebote |
Abbildung 1: Der Kommunikationsakt »Moses bringt den Israeliten die zehn Gebote«
Doch ganz offensichtlich ist schon diese einfache Aufstellung unbefriedigend. In welcher Sprache sind die Gesetze verfasst? Ist sie Teil des Codes, des Mediums, des kulturellen Wissens oder der Umwelt? Welche Rolle kommt den Kulturtechniken des Schreibens und des Lesens zu? Macht es einen Unterschied, ob Gott den Text selbst schreibt oder Moses ihn nach Diktat anfertigt? Welche Rolle spielen die Wege und Steige, die Moses geht, um den Berg herab zu gelangen? Sind sie Teil des Kanals? Welche Position nimmt der Griffel oder der Meißel ein, mit dem Moses den Text eingraviert? Besteht der Text aus den Buchstaben auf den Tafeln oder gehört zu ihm die gesamte Erzählung von der Entstehungsgeschichte der Gebote und ihrer Übermittlung? Gehören dazu auch die Vorgeschichte, das kulturelle Umfeld und die historische Situation (d. h. der Kampf gegen den Götzendienst und der Pakt zwischen Gott und den Israeliten)? Welchen Unterschied würde es machen, wenn der Text seine Empfänger nie erreicht hätte (weil z. B. auch die zweite Tafel zerbrochen oder Moses beim Abstieg verunglückt wäre)? Wäre das Medium dann trotzdem noch ein Medium? Und für wen?
Spätestens hier wird deutlich, wie komplex die Angelegenheit wirklich ist. Verschiedene Interpreten würden den Kommunikationsvorgang »zehn Gebote« ganz unterschiedlich analysieren und kategorisieren. Als Sender ließe sich neben Gott auch Moses verstehen, denn schließlich war er es ja, der den Text geschrieben hat. Der Code kann die Schrift sein, die hebräische Sprache, die Textsorte des Gebots etc. Am umfassendsten jedoch ist der Begriff »Medium«: Im Gegensatz zu unserer vereinfachenden Darstellung gibt es ganz unterschiedliche medientheoretische Positionen, die hier jeweils das Folgende zum Medium zählen würden:
Moses
die Steintafeln
den Meißel
die Schrift
die hebräische Sprache
die Gebote
die Religion
den Weg, den Moses geht
Moses’ Füße
Das heißt, nahezu alle Instanzen des Kommunikationsprozesses lassen sich aus dem einen oder anderen Blickwinkel als Medium verstehen, als dasjenige, was vermittelt.
Es ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall medialer Kommunikation, dass dabei mehrere Medien wie russische Matrjoschka-Puppen ineinander enthalten sind. Der...
Erscheint lt. Verlag | 29.4.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Kommunikation / Medien ► Medienwissenschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aura • Bertolt Brecht • Einführung • Fragen mit Musterlösungen • Frankfurter Schule • Friedrich Kittler • Hans Magnus Enzensberger • Höhlengleichnis • Ideengeschichte • Jean Baudrillard • Jürgen Habermas • Konstruktivismus • Kritische Theorie • Kultur • Kulturgeschichte • Lehrbuch • Marshall McLuhan • Medien • medientheoretiker • Medienwissenschaft • Medienwissenschaft studieren • Neil Postman • Niklas Luhmann • Paul Virilio • Platon • Prüfungsvorbereitung • Radiotheorie • Reproduzierbarkeit • Roland Barthes • semiotic • Semiotik • Simulakra • Susan Sontag • Theodor W. Adorno • Theorien der Medien • Turn ZKM • vedisches Konzept • Vilém Flusser • Walter Benjamin • Zusammenfassungen |
ISBN-10 | 3-8463-6174-7 / 3846361747 |
ISBN-13 | 978-3-8463-6174-0 / 9783846361740 |
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