Spurwechsel (E-Book) (eBook)
264 Seiten
hep verlag
978-3-0355-2645-5 (ISBN)
Klaus Oehmann ist Fachleiter am Europa-Studienseminar für berufliche Schulen in Gießen. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Schul- und Unterrichtsentwicklung auf Basis der Reformpädagogik; Lernaufgaben sind der Schlüssel dazu. Er arbeitet als Lehrbeauftragter für Wirtschaftsdidaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und als Lehrkraft an der Max-Weber-Schule Gießen und ist dort verantwortlich für die Juniorenfirma Sinn & Zweck.
4 Schluss mit der Donutpädagogik – auf die Aufgaben kommt es an! Von der Buch- zur Problemschule
Im Jahre 2019 veröffentlichten wir das Buch «Schluss mit der Donutpädagogik – Lebensnahe Lernaufgaben leicht gemacht». Im Kern geht es um die Veränderung von Unterricht durch den Einsatz von Lernaufgaben. Der Donut hat in der Mitte ein Luftloch, der Kern ist somit hohl, nur an der Oberfläche sind viele bunte Zuckerblättchen – eine im Kern hohle Pädagogik wollen wir aber nicht. Im Kern müssen die Ziele und die Menschen stehen, wie wir bereits zuvor gesehen haben.
In unserer über 20-jährigen Arbeit in Schule und Hochschule ist uns aufgefallen, dass das Kerngeschäft «Unterrichten» immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. So übernehmen Lehrkräfte neben ihrem eigentlichen Unterricht noch tausende Tätigkeiten (Maag-Merki 2022). Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn für die Unterrichtsvorbereitung einer Unterrichtsstunde weniger als 5 Minuten verwendet werden (Wahl 2020, 38). Mangels Vorbereitungszeit bedienen sich Lehrkräfte gerne der Lernmaterialien von Verlagen oder gestalten den Unterricht als Vorlesung bzw. frontales Setting – was nicht immer schlecht sein muss. Insgesamt können wir feststellen, im Schulsystem dominiert weiterhin der Frontalunterricht und kooperative Lernformen stellen eine Randerscheinung dar, beliebt im Referendariat oder für Verbeamtungslehrproben. Die Folgen dieser Ich-habe-doch-keine-Zeit-Kultur sind verheerend. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, zirka 30 Prozent der Lehrkräfte weisen psychische bzw. psychosomatische Symptomatiken auf und der Zeitdruck stellt nur einen Faktor dar, neben Lärm, Klassengrößen, Schüler- und Elternverhalten (Bauer 2009, 251). Nicht nur Lehrkräfte leiden unter dieser Drucksituation, auch Lernende sind davon in erheblichem Maße betroffen. Im aktuellen Präventionsradar des IFT-Nord und DAK geben 40 Prozent der befragten Lernenden an, sich in der Schule gestresst zu fühlen. Als Ursache werden der immense Leistungs- und Notendruck angegeben (Präventionsradar 2021, 26). Die Zunahme von Gewalt an Schulen ist nicht verwunderlich. Die Schülerinnen und Schüler lassen den Druck dort ab, wo er für sie ursächlich entstanden ist. Exemplarisch dafür steht die Situation im Frühjahr 2006 an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Die Schulleitung und das Kollegium standen der entgegengebrachten Gewalt und Aggression der Schülerinnen und Schüler nahezu ratlos gegenüber. Eine Befragungsstudie der Kriminologie der Justus-Liebig-Universität aus dem Jahr 2022 belegt die enorme Gewalt, der sich Lehrkräfte in Hessen in Ihrem Beruf ausgesetzt sind (Pfeiffer, Herden, Bannenberg 2023, 16).
| Gesamtes Berufsleben [%] | Letzte 12 Monate [%] |
---|
Beschimpfung, Beleidigung, Verleumdung usw. über das Internet | 32.1 | 11.3 |
Verbale Beschimpfung oder Beleidigung | 73.9 | 39.7 |
Verbale oder körperliche Bedrohung | 44.1 | 15.9 |
Mobbing im direkten Kontakt | 29.5 | 11.0 |
Mobbing über Internet | 11.5 | 4.1 |
Anspucken | 10.3 | 1.2 |
Körperlicher Angriff | 18.6 | 4.1 |
Sexuelle Belästigung | 9.5 | 1.8 |
Beschädigung des Fahrrads oder PKWs | 16.7 | 1.8 |
Beschädigung sonstigen Eigentums | 18.0 | 7.1 |
Tötungsversuch | 0.2 | 0.2 |
Prozentualer Anteil der Befragten, die angaben, im beruflichen Kontext Gewalt- bzw. Aggressionserfahrungen gemacht zu haben.
Auch aufseiten der Eltern existiert ein großer Leistungsdruck; so wurden laut Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung im Jahr 2015 fast 1 Milliarde für die Nachhilfe der Kinder ausgegeben, wobei die Zahlen deutlich höher sein dürften, gerade mit Blick auf den Schwarzmarkt (Klemm, Hollenbach-Biele 2006, 33). Deutlich realistischer erscheinen die Zahlen des Bildungsfinanzberichts 2022, der für Privathaushalte an Nachhilfe, Lehrmittel etc. satte 6,8 Milliarden Euro ausweist (Statistisches Bundesamt 2022, 20).
Wenn Schule nur durch Nachhilfe funktioniert, ist das nicht die Lösung, sondern das Ende.
J. Vedder
(@vedducation) twitterte am Mi., 28. April 2021, um 8.24 h
Da wir schon beim Thema «Ausgaben» sind: Bund, Länder und Gemeinden investierten in allgemeinbildende und berufliche Schulen im Jahr 2021 rund 82,8 Milliarden Euro und rechnen für 2022 mit einem Anstieg auf 85,8 Milliarden Euro (ebd., 50). Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sind dies 2,14 Prozent und international betrachtet laut OECD deutlich unter dem Durchschnitt. Die beiden Nachbarländer Schweiz und Österreich investieren erheblich mehr in die Bildung ihrer Bürger (Bundesamt für Statistik 2020). Insofern ist die Frage von V. Lange mit Blick auf das deutsche Schulsystem berechtigt: «Marode und unterfinanziert – trotz steigender Bildungsausgaben?» (Lange 2019, 59).
Werfen wir einen Blick auf die Leistungsfähigkeit der Lernenden im deutschen Bildungssystem und betrachten die Ergebnisse der PISA-Studien. Diese sind ernüchternd und zeigen im Verlauf der letzten Jahre keine deutlichen Verbesserungen. Eher im Gegenteil, laut dem IQB-Bildungsbericht von 2021 verschlechterten sich die Leistungen der Lernenden. Dies ist nicht verwunderlich – die Ausgaben für den Schulbereich sind durchschnittlich und die Performanz der Lernenden ebenso. Insofern ist das Ergebnis nicht überraschend und damit sollten die politisch Verantwortlichen nicht zufrieden sein. Ein Schulsystem, das aus Zeiten der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts stammt, ist nun mal mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts überfordert und kann den Anforderungen der heutigen Zeit schlichtweg nicht mehr gerecht werden. In der Corona-Pandemie kam dies ganz deutlich zum Vorschein. Das System «Schule» war auf Lernformen im digitalen Raum nicht vorbereitet, weder didaktisch noch technisch. Mit Blick auf die bisher durchgeführten Schulreformen, dass am Schulsystem keine grundlegenden Veränderungen vorgenommen wurden. Dies ist vergleichbar mit einer Pferdekutsche, an die jetzt noch Front- und Heckspoiler angebracht werden, um mit der Veränderungsgeschwindigkeit der heutigen Zeit standhalten zu können. Die Lösungen, welche in der Vergangenheit noch passend waren, sind es heutzutage nicht mehr und angelehnt an P. Senge werden wir heute mit den Schwächen und Problemen konfrontiert, die damals die Lösungen waren (Senge 1996). Auf den Punkt bringt dies P. Struck: «Schule muss zwar sein, aber nicht so» (Struck 1994, 3).
Eine Gesellschaft offenbart sich nirgendwo deutlicher als in der Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umgeht.
N. Mandela
Dies führt zu der Frage: Was ist heutzutage eine gute Schule, was ist guter Unterricht und für wen ist dies gut?
Eine Antwort darauf geben Maurer et. al., nämlich, so stellen sie fest, wenn «die Erwartungen der zentralen Anspruchsgruppen längerfristig» (Maurer, et. al 2018) erfüllt sind. Normativ gesehen, gibt es die gute Schule gar nicht. Es existieren lediglich Vorstellungen darüber, was und wie diese sein könnte.
Auf die Schulentwicklung bezogen, bedeutet dies, sich in der Schulgemeinde darüber zu verständigen, was eine gute Schule und guten Unterricht kennzeichnet (Hirschmann, Peters 2010, 98). Vonseiten der Bildungspolitik bestehen dazu eindeutige Vorstellungen, die in Handreichungen veröffentlicht sind. In den vergangenen Jahren wurden zur Qualitätsentwicklung und -sicherung von...
Erscheint lt. Verlag | 1.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-0355-2645-1 / 3035526451 |
ISBN-13 | 978-3-0355-2645-5 / 9783035526455 |
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