Alles andere als strahlend weiß -  Léonora Miano

Alles andere als strahlend weiß (eBook)

Gedanken zum weißen Problem
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Verlagshaus Jacoby & Stuart
978-3-96428-239-2 (ISBN)
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Die Herrschaft der Länder des Westens über andere Völker hat sich stets auf einen Rassismus gestützt, der die Menschen nach Hautfarben sortiert. Die Bewohner Europas und die aus Europa stammenden Menschen Amerikas haben vor zwei oder drei Jahrhunderten damit begonnen, sich als »weiß« und die Bewohner des südlicheren Afrika oder die von dort stammenden Menschen als »schwarz« zu bezeichnen und die »Weißen« als den »Schwarzen« überlegen zu deklarieren. Die Vorurteile gegen Schwarze Menschen haben Herrschaft ermöglicht und sich durch diese Herrschaft weiter verstärkt. Das Weißsein wurde im Rahmen der Plantagenwirtschaft entwickelt, hat sich dann im kolonialen Raum auf allen Kontinenten ausgebreitet und sich in den multiethnischen Gesellschaften des heutigen Euramerika verfestigt. Wer sich aus reiner Konvention als Weißer bezeichnet, ohne ein Bewusstsein der Geschichte, die die Kategorie geschaffen hat, versteht nicht, dass die damit bezeichnete Beziehung zwischen Menschen auf historischen Verbrechen beruht. Léonora Miano analysiert das »weiße Problem« in den Vereinigten Staaten seit der Zeit der Sklaverei und das der Europäer seit den kolonialen Eroberungen auf eine ebenso feinsinnige wie schonungslose Weise. Ohne ein Bewusstsein dafür, was »weiß« zu sein bedeutet, wird es nicht einfach sein, ein Erbe abzuschütteln, das von Generation zu Generation, vielleicht als Familiengeheimnis, weitergegeben wird, das zwar etwas peinlich ist, aber immer noch für den symbolischen politischen und wirtschaftlichen Status von Menschen von hoher Bedeutung ist. Es wird einige Zeit vergehen, um die Vorstellung von »Rasse« ihrer Bedeutung zu berauben. Das bedeutet nicht, dass man die Hände in den Schoß legen sollte. Wenn man sich der Größe der Aufgabe bewusst ist, kann man sie auch angehen.

Léonora Miano, geboren in Kamerun, lebt und schreibt zwischen den Kontinenten: in Frankreich und in Togo. Ihre mehr als zwanzig Romane, Theaterstücke und Essays wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Goncourt, dem Prix Seligmann, dem Prix Femina sowie dem Grand Prix du roman métis.

Kürzlich ist in der Debatte über das Verhältnis der Geschlechter zueinander der Begriff des »dekonstruierten Mannes« aufgetaucht und hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Was man auch von dem Ausdruck halten mag, er legt jedenfalls nahe, dass es eine Männlichkeit geben könnte, die nicht allein unaggressiv, sondern auch bemüht ist, den Schaden wiedergutzumachen, den die Vorherrschaft der Männer angerichtet hat. Könnte nicht ähnlich auch mit dem Weißsein verfahren werden, also der Selbstdefinition, die die Westeuropäer sich ausgedacht haben, als sie mit vielen anderen Völkerschaften in Kontakt traten? Kann man sich noch einfach aufgrund einer Konvention »weiß« nennen, ohne damit auch auf die Geschichte Bezug zu nehmen, in der diese Kategorie entstanden ist? Kann man trotz dieser Geschichte einfach aufhören, weiß zu sein, und für sich in jeder Lage in Anspruch nehmen, ein einzigartiges Individuum zu sein (was anderen oft verwehrt wird)? Vor allem diese Fragen werde ich zum Abschluss meines Essays beantworten, nachdem ich untersucht habe, was »weiß« zu sein bedeutet und wie und was es bewirkt.

Was ich hier vorbringe, ist keine akademische Arbeit. Studien zum Weißsein, auch als »weiße Identität« bezeichnet, sind zuerst vor einigen Jahrzehnten in der anglophonen westlichen Welt entstanden.

Wenn derartige Untersuchungen in den französischsprachigen westlichen Ländern auch mit einer gewissen Vorsicht betrachtet worden sind, werden sie jedoch auch hier betrieben. Ich werde empirisch vorgehen. Auch wenn der Bezug auf verschiedene Lektüren naheliegt, werde ich lieber amerikanische oder französische Filme anführen, die für das Kino, öfter aber für das Fernsehen entstanden sind. Diese populären Fiktionen sind ohne größere Kosten zugänglich, denn die meisten Haushalte verfügen über einen Fernseher. Die Dinge ändern sich derzeit, doch lange Zeit hatte das Fernsehen großen Einfluss auf die Vorstellungswelt der Menschen. Ich kann mich daran erinnern, in meinen jungen Jahren eine ungewöhnliche Zahl an Fernsehfilmen oder Features gesehen zu haben, die sich mit der Geschichte der Vereinigten Staaten befassten. Ohne dass ich vorher daran gedacht hätte, werden Szenen aus diesen Produktionen meinen Text illustrieren. Aber ich fand es wichtig, auch französische Filme hinzuzuziehen, um meine Argumentation weniger einseitig zu machen. Man muss sie übrigens gar nicht alle gesehen haben; sie steuern nur den ethnographischen Stoff bei. Diese fiktiven Erzählungen erweisen sich als eine reiche Quelle von Informationen, die jemand Einzelnes nicht ohne Weiteres preisgegeben hätte. Im Übrigen zeigen diese Produktionen, die von unterschiedlichen Epochen erzählen, auch – ohne dass dies unbedingt ihr Ziel gewesen wäre –, wie das Konzept des Weißseins funktioniert.

Mein Interesse an dem weißen Problem stammt nicht erst von heute.1 Es ist die Folge dessen, dass mir die politische Dimension des Rassenproblems bewusst geworden ist, aus einer Fragestellung heraus, die unvermeidlich ist, wenn man zu der am meisten durch eine Rassenzuschreibung benachteiligten Menschengruppe gehört. Wenn man schwarz ist, wird, gleich auf welche Weise einem das bewusst gemacht wird, Rasse sehr schnell zum Thema. Nicht so sehr wegen einer Hautfarbe, der man selbst keinerlei Bedeutung zumessen würde, sondern weil man von der Geschichte überwältigt wird. Schon bald drängen sich Begriffe wie »Negersklaven« oder »Sklavenhandel mit Schwarzen« auf, gefolgt von anderen wie dem »Code Noir«, in dem Ludwig XIV. regelte, wie mit schwarzen Sklaven umzugehen war, oder der südafrikanischen Apartheid – alles Vokabeln, die verständlich machen, was es seit dem Anfang der Neuzeit bedeutet, Schwarz zu sein. Bis zu dieser Epoche, als die Europäer in Amerika eindrangen und Subsahara-Bewohner über den Atlantik verfrachteten, kann man die Rede von einer »schwarzen Rasse«, so wie sie heute verstanden wird, zurückverfolgen. In dieser Geschichte dient die Hautfarbe nur als Hilfsmittel. Sie ist bloß der Sockel, auf dem ein kompliziertes Gedankengebäude ruht, das erdacht wurde, um eine ontologische, politische und schließlich soziale Hierarchie zu errichten. Biologie und Kultur wurden dabei gleichermaßen bemüht, um Theorien jeder Art hervorzubringen, die diese Hierarchien rechtfertigten. Im Laufe der Zeit wurde die Farbe derer, die zu Schwarzen gemacht wurden, zum Symbol nicht so sehr einer ethnischen Herkunft als solcher, sondern eines besonderen Status – dessen der Personen, von denen oft in Zweifel gezogen wurde, dass sie überhaupt Menschen seien.

Für diejenigen, denen dieser Status zugeschrieben wurde, die mit ihm leben mussten, weil die Hautfarbe nicht verschwindet, erzählt eben diese Hautfarbe sowohl die Geschichte des Ausgestoßenseins aus der Menschheit als auch die einer dauernden Zurückweisung dieser Entmenschlichung. Auch wenn man Rassismus bekämpft und die rassistische Kategorie »schwarz« als Produkt eines Willens zur Ausgrenzung begreift, kann man sich nicht so leicht aus ihr befreien. »Schwarz« ist ebenso das Wort, dessentwegen man aus dem Licht, dem Hellen, verjagt wurde, als auch das für den Kampf um die eigene Würde, für die Gleichheit der Menschen. In den durch eine starke Präsenz von Menschen afrikanischer Herkunft geprägten Weltgegenden ist »schwarz« zu einem Wort für die Spiritualität, die Lebensart oder die Ästhetik geworden, die von der Gegnerschaft zum rassistischen Unsinn zeugen. Das Problem, das diese Bezeichnung schafft – und das nicht mehr das eines äußeren Aussehens, sondern des aus ihm resultierenden Erlebens ist –, besteht darin, dass sie das Ergebnis eines abschätzigen Blicks von außen ist. Daher ist es nicht leicht, angesichts einer von anderen formulierten abschätzigen Definition seine eigene Identität herauszubilden. Folglich ist, sich als schwarz zu erfahren und als schwarze Person in der Welt zu bestehen, noch nicht in seiner ganzen Tragweite verstanden worden. Der intellektuelle Einfluss der von diesem Erleben geprägten Gruppen ist schwach, fast unmerklich. Und im Übrigen ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, den Sinn eines Wortes zu ändern, das für die Kulturen der Welt stets mit etwas gänzlich Negativem verbunden war, überall und seit je. Wir könnten jetzt noch tiefer auf die Bedeutungen dessen eingehen, was keine Farbe ist, doch das, was uns beschäftigen sollte, liegt anderswo.

Die Erfahrung der Subsahara-Bewohner und ihrer Nachkommen anderenorts, als minderwertig angesehen zu werden, seit sie als Schwarze definiert wurden, wird uns zu einer anderen Erfahrung führen, die exakt am anderen Ende der Achse aller Verhältnisse zwischen Menschengruppen angesiedelt ist. Damit – grob gerechnet – mehr als anderthalb Milliarden Menschen sich noch heute in einer symbolpolitischen Lage gefangen sehen, die auf die negative Rassialisierung zurückgeht, die ihre Vorfahren schon vor Jahrhunderten betroffen hat, muss ein ganz besonderes System installiert worden sein.

Menschen müssen mehr oder weniger bewusst darauf achten, dass dieses System aufrechterhalten wird. Die Frage, die sich daher stellt, betrifft nicht die zu ihrem Nachteil einer Rasse zugeordneten Menschen, deren Leid und deren Proteste bekannt sind. Wenn wir das Problem »Rasse« verstehen und nach Möglichkeit lösen möchten, sollten wir uns mit der zu ihrem Vorteil rassialisierten Kategorie befassen.

Doch sobald man die Sache auf diese Weise angeht und auf verständliche Weise die »weiße Frage« formuliert, werden die Visiere heruntergelassen. Diejenigen, die einen jahrhundertealten rassischen Vorteil genießen, versuchen zu verhindern, dass das Thema untersucht wird, und erklären sich zu Opfern eines umgekehrten Rassismus. Auch wenn ihre eigenen Vorfahren es waren, die darauf verfielen, die Menschheit nach »Rasse«-kriterien einzuteilen, wollen die Bürger des Westens, die rein europäischer Herkunft sind, sich nicht länger als Weiße bezeichnen lassen. Während sie es als selbstverständlich erachten, wie ihre Vorfahren die Welt eingeteilt haben – die Länder, die Völker und sogar die Botanik –, ertragen sie es nicht, selbst definiert zu werden und einen präzisen Ort in der Geschichte der zwischenmenschlichen Beziehungen zugewiesen zu bekommen. Diese Zuweisung ist der Ausdruck konkreter Handlungen, deren Folgen den Alltag sehr vieler Menschen überall auf der Welt bestimmen. Sie wissen nämlich, dass definiert zu werden einem die Möglichkeit nimmt, etwas Universelles zu verkörpern beziehungsweise ein einzigartiges Individuum zu sein. Sie wissen, dass sie dadurch Attribute zugewiesen bekommen, die sie nicht selbst gewählt haben und die oft eine bedrückende Bedeutung haben. Was sie ebenfalls wissen – die meisten freilich nur nebelhaft –, ist, dass es eigentlich nicht um die Hautfarbe geht, die dafür instrumentalisiert worden ist, »Rassen« zu erfinden. Sondern um eine symbolpolitische Asymmetrie, die regelmäßig die egalitären Projekte sich als progressiv verstehender Gesellschaften...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-96428-239-1 / 3964282391
ISBN-13 978-3-96428-239-2 / 9783964282392
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