Digitale Zukünfte -  Jakob Erichsen

Digitale Zukünfte (eBook)

Fiktionale Erwartungen in der öffentlichen Diskussion zur Digitalisierung der Schulen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
372 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8342-2 (ISBN)
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Die Studie untersucht Zukunftsvorstellungen in der öffentlichen Diskussion zur Digitalisierung der Schulen und fragt danach, was über die Zukunft erzählt wird, wie diese Erzählungen plausibilisiert und wie Zukunftsvorstellungen als Argument genutzt werden, um Reformen zu (de)legitimieren. Damit wird die handlungs- und entscheidungstheoretische Relevanz von Erwartungen analysiert und hervorgehoben, dass bildungspolitische Diskussionen weitgehend auf zukunftsbezogenen Narrationen und Imaginationen beruhen, die sowohl Handlungsanlass als auch Element der Handlungsplanung sind. Somit eröffnet die Studie einen alternativen Blick auf die Digitalisierungsdiskussion, in der die Digitalisierung primär einer präventiven Logik folgt.

Jakob Erichsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am soziologischen Seminar der Europa-Universität Flensburg. Zuvor promovierte er in den Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Zukunftsvorstellungen in bildungspolitischen Reformen, die Digitalisierung der Schule, Fragen sozialer Ungleichheit und Fragen der Lehrkräftebildung.

2.Theoretische Hintergründe und zentrale Konzepte


In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen für die nachfolgende empirische Analyse dargestellt. Mit diesen Ausführungen wird ein analytischer Werkzeugkasten geschaffen, der den Umgang mit dem empirischen Material prägt.

Da das Erziehungs- und Bildungssystem nicht isoliert existiert, sondern in umfassende gesellschaftliche und kulturelle Bezüge eingebunden ist, werde ich zunächst auf die gesellschaftliche Temporalstruktur und die Rolle der Zukunft eingehen. Mit diesen Ausführungen soll einerseits vermieden werden, dass der Bezug auf die Zukunft als selbstevident erscheint. Zum anderen wird der analysierte öffentliche bildungspolitische Diskurs so in einen weiteren kulturellen Rahmen eingebunden. Im Anschluss stelle ich das Konzept der fiktionalen Erwartungen vor, das zentral für das Verständnis der handlungs- und legitimationstheoretischen Rolle von Zukunftsvorstellungen ist, und diskutiere Ergänzungen zu diesem Konzept. Da fiktionale Erwartungen als Narrative existieren, führe ich anschließend das Konzept der Narration ein und diskutiere den Zusammenhang mit Diskursen und Macht. Abgeschlossen wird der Theorieteil mit Ausführungen zum Konzept der Plausibilität und zum Konzept der Legitimation.

2.1.Zukunftsvorstellungen in modernen Gesellschaften und im pädagogischen Feld


Zeitstrukturen und -horizonte sind konstitutiv für Gesellschaften und fundamentale Erfahrungen für die in ihnen lebenden Menschen. Sie wirken handlungsorientierend und bestimmen das Selbstverständnis und -verhältnis von Individuen ebenso wie das der Gesamtgesellschaft (Rosa 2005, 25). Das Zeitregime selbst ist „das verbindende Band einer Epoche und zugleich das gemeinsame Dach für eine Vielfalt kultureller Handlungen, Skripte und Deutungen“ (Assmann 2013, 21). Trotz oder gerade wegen dieses konstitutiven Charakters entziehen sich die Zeitstrukturen einer Gesellschaft aber der individuellen Verfügbarkeit, so dass die Zeit, „ungeachtet ihrer sozialen Konstruktion und systematischen Produktion, den Akteuren gleichsam als ‚naturgegebenes Faktum‘ gegenübertritt“ (Rosa 2005, 25, H.i.O.). Zeitstrukturen werden als nahezu unveränderliche Größen konzipiert, die als „selbstverständliche, alternativlose Orientierung unter die Bewusstseinsschwelle abgesenkt und als ‚implizite Axiome‘ umso wirksamer sind, je weniger sie zum Gegenstand von Reflexionen und Debatten werden“ (Assmann 2013, 20, H.i.O, ähnlich auch: Elias 1992, Nassehi 2008). Die Zeit erscheint somit als abstrakte, rein objektive und quasinatürliche Dimension, die einer spezifischen Eigenlogik folgt und damit für menschliche Manipulationen weitgehend unzugänglich ist (Hölscher 2016, 11).3 Für den bildungspolitischen Diskurs bedeutet dies, dass der argumentative Bezug auf die Zukunft und die Orientierung auf zukünftige Effekte den Akteuren keinesfalls künstlich vorkommt, sondern tendenziell eine Selbstverständlichkeit ist, da die Ausrichtung auf die Zukunft ein konstitutives Element moderner Zeitstruktur ist (Moles 1970, Assmann 2013, 21). Die Zukunft wird in der Moderne „als ein offener Raum betrachtet, in dem ungewisse Ereignisse stattfinden werden, herbeigeführt von Akteuren, die Entscheidungen fällen, deren Ergebnisse sie nur beschränkt beeinflussen können“ (Beckert 2018, 60f.). Hartmut Rosa benennt das vorherrschende Zeitbewusstsein der Moderne als „linear mit offener Zukunft“ und hebt hervor, dass „die Vorstellung einer entwicklungsoffenen und in vielen Hinsichten noch unbestimmten, aber sich linear aus der Vergangenheit herausentwickelnden Zukunft unsere Zeiterfahrung dominiert“ (Rosa 2005, 281, H.i.O.). Dieses Zukunftsverständnis impliziert, dass es sich nicht um ein statisches, sondern um ein dynamisches, prozessuales Modell handelt, in dem sich Menschen nicht als ausführende Empfänger transzendenter Botschaften verstehen, „sondern als Produzenten von Welt und als Autoren ihrer Zukunft“ (Uerz 2006, 17, ähnlich auch: Luhmann 1992, 136). Dieses Verständnis von der Zukunft ist tief in das Selbstverständnis moderner Gesellschaften eingeflochten und impliziert weitreichende Konsequenzen. So ist die für die Moderne charakteristische Wertschätzung von Wandel und Neuheit, die sich in epochalen Leitbegriffen wie Innovation, Wachstum, Fortschritt, Kreativität, Entwicklung oder Transformation niederschlägt, nicht denkbar ohne die Idee der offenen und gestaltbaren Zukunft, die potenziell anders sein kann als die Gegenwart (Beckert 2018, 55). Wandel, Neuerung und Fortschritt werden in der Moderne eben nicht nur erfahren, sondern auch emphatisch angestrebt – „the new became a goal, not an impossible anomaly“ (North 2013, 36). Andreas Reckwitz spricht hier von einem „Regime des Neuen“ und hebt hervor, dass es eine klassische Diagnose ist, dass „die moderne Gesellschaft in ihren Institutionen und Semantiken […] von Anfang an eine Präferenz für das Neue gegenüber dem Alten eingebaut hat“ (Reckwitz 2016, 136). Dieses Neue und Andere der Zukunft ist nicht arbiträr, sondern teleologisch. Auch in der Moderne wird Veränderung nicht per se gutgeheißen. Hervorgebracht werden soll nicht einfach eine andere, sondern eine Zukunft, die als besser bewertet wird als die Gegenwart oder die Vergangenheit (Esposito 2016, 431). Was aber als wünschenswerte und bessere Zukunft angesehen wird, ist Gegenstand komplexer normativer Aushandlungsprozesse. In diesen Aushandlungsprozessen steht nicht nur das Neue, sondern auch das Bestehende zur Disposition und muss als erhaltenswert legitimiert werden (Assmann 2013, 322f., Esposito 2016, 428). Das Neue ist somit keinesfalls nur eine Verheißung, sondern kann ebenso als Bedrohung für das Bestehende wahrgenommen werden. Dies gilt insbesondere auch für neue Technologien, die zwar einerseits regelmäßig „als Triebkraft auf dem Weg in die Zukunft“ gedeutet werden (Seefried 2015, 36), andererseits aber auch mit Ängsten und Befürchtungen aufgeladen sind, da sie Etabliertes infrage stellen und als Bedrohung interpretiert werden können (Biess 2019). Die Zukunft ist somit, trotz ihrer Offenheit, keinesfalls ein neutraler Ort, sondern Gegenstand normativer gesellschaftspolitischer Diskussionen, in denen es zum einen darum geht, wie es in Zukunft sein soll und welche Bereiche der Zukunft überhaupt gestaltbar erscheinen. Zum anderen stellt sich die Frage, was getan werden soll, um im Sinne der gewünschten Zustände auf die Zukunft gestaltend einzuwirken. Es handelt sich somit zum einen um die Frage, wo man gesellschaftlich hinmöchte, zum anderen darum, wie man da am besten hinkommt und welche Wege angemessen sind.

Hier wird deutlich, dass die Zeitstruktur der Moderne mit dem Anspruch moderner Gesellschaften verschmilzt, sich selbst zu steuern. Die offene und gestaltbare Zukunft ist gewissermaßen ein Steuerungsproblem, das moderne Gesellschaften mit einem weitreichenden Gestaltungsanspruch adressieren. Das Handeln zahlreicher gesellschaftlicher Akteure ist von dem Anspruch geprägt, „nicht nur die faktischen Produzenten, sondern die bewussten Gestalter der gesellschaftlichen Strukturen zu sein, also steuernd auf den Aufbau, die Wahrung oder die Veränderung bestimmter Strukturen einzuwirken“ (Schimank 2000, 274f.). „Damit ist nicht gesagt, daß Gesellschaftssteuerung immer oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle erfolgreich ist, also die selbstgesetzten Ziele erreicht. Jeder weiß, daß das nicht der Fall ist“ (Schimank 2000, 274). Politisches Handeln beruht in dieser Perspektive wesentlich auf der Überzeugung, dass die Zukunft anders sein wird (oder sein kann) als die Vergangenheit und die Gegenwart, und dass die gesellschaftliche Entwicklung in diese Zukunft hinein zu steuern und zu gestalten ist (Rosa 2005, 392). Vor dem Hintergrund dieses Gestaltungsanspruches und des linearen Zeitverständnisses mit offener Zukunft erscheint Gesellschaft als ein „in der Zeit politisch zu gestaltendes Projekt“ (Rosa 2013, 391). Politische Planung wird dann auch als „gestaltende[r] Vorgriff auf die Zukunft“ konzipiert (Seefried 2015, 39). Dieser Gestaltungsanspruch impliziert auch die Gestaltung des Bildungssystems, das wiederum häufig als Möglichkeit gesehen...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8342-7 / 3779983427
ISBN-13 978-3-7799-8342-2 / 9783779983422
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