Reflexivität in Lehre und Profession -

Reflexivität in Lehre und Profession (eBook)

Beiträge zu Grundlagen und didaktischen Arrangements für Lehr-Lern-Formate in kindheitspädagogischen Studiengängen

Katja Zehbe, Ina Kaul (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
237 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8315-6 (ISBN)
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Reflexivität wird als ein konstitutives Element für professionelles Handeln von Kindheitspädagog*innen erachtet. Im Rahmen der Akademisierung von Fachkräften rücken damit auch Lehr-Lern-Formate ins Zentrum, die reflexive Praktiken fördern. Der Band befasst sich mit dieser Thematik anhand zweier Perspektiven: Einerseits geht es um theoretische Vergewisserungen hochschulischer Lehre, die dem Anspruch einer Reflexivität gerecht werden will. Andererseits werden handlungspraktische Arrangements der Hochschullehre auf ihre Relevanz und Ermöglichung von Reflexivität hin vorgestellt und diskutiert.

Dr. Katja Zehbe ist Professorin für Kindheit und Sozialisation mit Schwerpunkt struktur- und prozessbezogene Steuerung an der Hochschule Neubrandenburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der inklusiven frühkindlichen Bildung, der individuellen Förderung, der Wissenschaftskommunikation sowie der (reflexiven) Forschung und Lehre. Sie ist Mitinitiatorin des Blogprojekts www.diversekindheiten.de. Ina Kaul ist Professorin für Soziale Arbeit unter besonderer Berücksichtigung von Theorien, Methoden und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe an der HAWK, Standort Hildesheim. Sie lehrt und forscht an der Schnittstelle Kindheitspädagogik/Soziale Arbeit u. a. im Kontext von Bildung.

Kindheitspädagogische Reflexivität


Peter Cloos

Einleitung


In der Erziehungswissenschaft und der Kindheitspädagogik wird häufig auf den Begriff der Reflexivität zurückgegriffen, wenn es um professionsbezogene Statusfragen oder Professionalisierung geht. Zumeist dient er als Chiffre für eine gesteigerte Professionalität (Reh 2004), z.B. als Ausdruck eines intensiveren und zum Teil kritischen Reflektierens der eigenen pädagogischen Praxis, der eigenen Rolle und Berufsbiografie oder der an die Profession herangetragenen gesellschaftlichen Aufträge. Reflexivität gilt als Merkmal von Professionsangehörigen in Bezug auf einen verstärkten Rückgriff auf wissenschaftliches Wissen in der Fallbearbeitung. Eine differenzierte Diskussion des Begriffs findet innerhalb der Erziehungswissenschaft (jedoch: Reh 2004; Wrana 2006; Klomann 2013; Henn 2021) und der Kindheitspädagogik bislang nur selten statt (jedoch u. a.: Cloos/Göbel/Lemke 2014; Kaul 2021). An diese Lücke der Debatte schließt dieser Beitrag an. Demzufolge wird nach einer grundlegenden Klärung des Begriffs (Kap. 1) zunächst der Schwerpunkt der Betrachtung auf Reflexivität in der Fallarbeit (Kap. 2) und auf Reflexivität und Diversität gelegt (Kap. 3). Schließlich werden ausgewählte empirische Ergebnisse zur kindheitspädagogischen Reflexivität vorgestellt (Kap. 4) und ein Fazit gezogen (Kap. 5).

1Grundlagentheoretische Überlegungen


In diesem Kapitel wird zunächst über grundlegende Überlegungen eine Begriffseingrenzung vorgenommen. Dabei werden ausgehend von philosophischen Verweisen zunächst Reflexivität und Reflexion voneinander unterschieden und der Begriff im Kontext profession(alisierungs)theoretischer Bezüge diskutiert. Herausgearbeitet werden drei Spannungsfelder, in denen sich vorhandene Begriffsverwendungen bewegen.

1.1Reflexivität vs. Reflexion

Sarah Henn (2021) verweist darauf, dass häufig nicht präzise zwischen Reflexivität und Reflexion unterschieden werde. Es handele sich hier um

„erkenntnis- und handlungstheoretisch widersprüchliche Begriffe, deren Verwendung im Diskurs zwischen den Bedeutungen eines distanzierten Nachdenkens (im Gegensatz zum praktischen Tun), einer menschlichen Grundbedingung (Selbstbewusstsein), der Anwendung eines Denkmodus (Bezüge herstellen) und einer aus einer Handlungskrise resultierenden Notwendigkeit […] changieren.“ (ebd., S. 150)

Nach Daniel Wrana (2006) bedeutet Reflexivität in der Alltagssprache „so etwas wie ‚gründliches Nachdenken und Erwägen‘“ (ebd., S. 14). In der Philosophie hingegen gehöre der Begriff „zu den ehrwürdigsten […] und zu den unbestimmtesten zugleich“ (ebd.). Er verweist auf Schischkoff, der Reflexivität als „‚das prüfende und vergleichende Nachdenken über etwas [...]; im engeren Sinne die ,Zurückbeugung’ des Geistes nach Vollzug eines Erkenntnisaktes auf das Ich [... und als] Denken des Gedachten, bzw. [als] die Kritik des Denkens am Denken‘ (Schischkoff 1991, S. 606)“ (Wrana 2006, S. 14) fasst. In der neuzeitlichen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie erlangt der Begriff eine zentrale Bedeutung:

„Indem Descartes das denkende Subjekt als eine von der Außenwelt klar unterschiedene Substanz imaginiert, die sich zweifelnd ihrer selbst vergewissert, wird dem Subjekt diese Erkenntnis seiner selbst zum unerschütterlichen Fundament des Wissens (Descartes 1915, S. 17, 22, 26). Oder anders: In der Rückwendung des Subjekts auf sich selbst, vergewissert es sich nicht nur seiner Vollzüge, sondern gewinnt zugleich das Fundament für eine gesicherte Erkenntnis seiner Außenwelt.“ (Wrana 2006, S. 15)

In der Subjektphilosophie der Aufklärung erhält Reflexivität dann einen normativen Gehalt, durch den „der Mensch (zumindest im Allgemeinen) angehalten ist, sich der Kräfte und Vermögen seines Denkens in vollem Umfang zu bemächtigen“ (ebd., S. 16). In der Bildungstheorie wird nach Wrana „Reflexivität nicht einfach als Selbstbeobachtung, sondern als die Bewegung der Selbstkonstitution des Subjekts gedacht“ (ebd., S. 22). Mit der poststrukturalistischen Kritik gerät „in den Blick, dass dieser Akt der Selbstkonstitution ein Akt der Unterwerfung ist. Das von der Reflexivität implizierte Selbstverhältnis des Subjekts kann dann als Moment von Machtverhältnissen verstanden werden“ (ebd.) (vgl. auch Kap. 6). Oder anders formuliert: „Im gesellschaftlichen Prozess der Subjektivierung unterwerfen sich die Individuen bestimmten Schemata und Matrizen, sodass sie durch diese Unterwerfung hindurch zu sozial als autonom anerkannten – mit Interessen, Reflexivität, Selbstverwirklichungswunsch etc. ausgestatteten – Subjekten werden. Die Autonomie ist also Realität und Schein zugleich“ (Reckwitz 2017, S. 126).

Von Reflexivität kann Reflexion abgegrenzt werden. Anke Karber (2021) fasst diese zunächst nach Jürg Aeppli und Hanni Lötscher (2016) als eine Denkaktivität mit der Folge von „Veränderung oder (Re-)Strukturierung“ (Karber 2021, S. 173). Mit John Dewey (2002) erweitert sie dann den Begriff als „Form der Problemlösung“, die Aspekte der Beunruhigung und des Zweifelns, Praktiken des Forschens und Suchens und die Kritik an Routinen beinhaltet (Karber 2021, S. 174). Mit Reflexion seien „zwei Blickrichtungen verbunden, welche sich nach innen und nach außen richten. In der Außenperspektive werden u. a. Situationen, Verhalten, die Umgebung, die Rahmenbedingungen fokussiert, wohingegen der nach innen gerichtete Blick u. a. auf eigene Gefühle, Einstellungen, Bedürfnisse oder Kompetenzen zielt“ (ebd., S. 175; auch Aeppli/Lötscher 2016).

Jürg Aeppli und Hanni Lötscher (2016) kritisieren, dass der Begriff Reflexion häufig „für irgendeine (höhere) Form von Denken“ (ebd., S. 79) stehen „und nicht oder unzureichend von anderen Denkformen abgegrenzt“ (ebd.) würde. Entlang bestehender Definitionen fassen sie Reflexion erstens als Prozess, zweitens in Bezug auf einen Gegenstand (z.B. Theorien) und drittens im Hinblick auf die Zielerreichung (differenziertes Denken, Wissensveränderung). In ihrem Rahmenmodell für die Lehrer*innenbildung integrieren sie diese Aspekte und formulieren drei Bereiche aus (vgl. im Folgenden ebd., S. 82):

  • Der Bereich 1, die „Reflexionsphase“, berücksichtigt den zeitlichen Ablauf einer Reflexion und dessen Eigenschaften (Prozess).

  • Im Bereich 2 „Blickrichtung“ wird zwischen einer Blickrichtung nach innen und nach außen unterschieden: Bei der Blickrichtung nach innen „rücken eigene Kompetenzen, Gefühle, Überzeugungen, Einstellungen, Bedürfnisse, berufliche Identität oder Mission in den Fokus“ (ebd., S. 84). Bei der Blickrichtung nach außen werde „Umgebung, Rahmen, Akteurinnen und Akteure, beobachteten Ablauf, Verhalten von anderen, eigenes Verhalten“ (ebd.) fokussiert (Prozess & Gegenstand).

  • Im Bereich 3 „Denkaspekt“ wird „Gründlichkeit und der Stringenz in der Auseinandersetzung“ (ebd.) Thema. Entgegen hierarchischer Modelle, die die Güte der Reflexion bewerten, unterscheiden Aeppli und Lötscher hier zwischen „Konstruktion von Bedeutung“ (ebd., ...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8315-X / 377998315X
ISBN-13 978-3-7799-8315-6 / 9783779983156
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