Extrem rechte und rassistische Gewalt -  Birgit Jagusch,  Schahrzad Farrokhzad

Extrem rechte und rassistische Gewalt (eBook)

Auswirkungen - Handlungs- und Bewältigungsmuster - Konsequenzen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
334 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8279-1 (ISBN)
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Extrem rechte und rassistische Gewalt ist Teil des Lebens von rassistisch vulnerablen Menschen. Die Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Bewältigungsmuster sind noch unzureichend erforscht. Das Buch fokussiert aus den Perspektiven von Betroffenen und von Fachkräften die Formen und Kontexte extrem rechter und rassistischer Gewalt und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben. Darauf aufbauend werden die von Betroffenen entwickelten Handlungs- und Bewältigungsmuster im Umgang mit Gewalt erörtert und (fehlende) institutionelle Antworten auf extrem rechte und rassistische Gewalt diskutiert.

Birgit Jagusch, Prof. Dr., ist seit 2017 Professorin für Soziale Arbeit und Diversität an der Technischen Hochschule Köln.

3.1Gewaltverständnis


Für die vorliegende Analyse der Auswirkungen extrem rechter und rassistischer Gewalt bedient sich das Forschungsprojekt eines weiten Verständnisses von Gewalt. Ausgehend von der Feststellung, dass Gewalt „im deutschsprachigen Raum ein[en] unscharfe[n] Begriff [darstellt], der in einer Vielzahl von Kontexten Verwendung findet“ (Kopp/Schäfers 2010, S. 94), gilt es zunächst festzulegen, was genau mit dem Terminus Gewalt bezeichnet werden soll. Als Arbeitsdefinition und Ausgangspunkt für die konzeptionelle Weiterentwicklung lässt sich die Definition von Endruweit und Trommsdorf (1989) heranziehen:

„Gewalt bezeichnet destruktiv intendierte Operationen als ultimatives Mittel der Machtausübung im Rahmen einseitiger Über- und Unterordnungsverhältnisse beruhend auf äußerlicher Überlegenheit ohne Anerkennung durch die Unterlegenen – häufig im Gegensatz zu innerlich wirksamem Zwang; sie ist also – z. B. neben legitimer institutioneller Herrschaft – ein Grenzphänomen unter den Äußerungsformen von Macht, das nur begrenzt verfügbar ist bzw. auf Dauer zu stellen ist. Dabei kann eher der interpersonale […] oder eher der gesamtgesellschaftliche Bereich betrachtet werden.“ (Endruweit/Trommsdorf 1989, S. 252)

Häufig wird in den Diskursen nicht von Gewalt, sondern von Diskriminierung oder „nur“ von Rassismus gesprochen. Dabei lässt sich unter dem Begriff der Diskriminierung jedes Verhalten der illegitimen Benachteiligung von Menschen aufgrund einer zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit fassen (vgl. Beigang et al. 2017, S. 12). Oft wird Diskriminierung im Kontext des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und in Bezug auf juristische Konsequenzen diskutiert. In sozialwissenschaftlichen Diskursen wird Diskriminierung weiter gefasst, indem nicht nur unmittelbar über das AGG justiziable Diskriminierungsformen einbezogen werden (z. B. Diskriminierung im Zusammenhang mit der sozialen Herkunft unter dem Stichwort „Klassismus“) (vgl. Kemper/Weinbach 2021). Im Sinne einer theoretischen Rahmung wird im Projekt amal in einem zweifachen Sinne ein weites Gewaltverständnis zugrunde gelegt:

(a) Ein Gewaltverständnis, das extrem rechts und rassistisch motivierte Diskriminierungen und darüber hinausgehende Tatbestände umfasst (und sich nicht auf körperliche Gewalt beschränkt): Das Gewaltverständnis im Forschungsprojekt amal umfasst zum einen alle Formen von Diskriminierung, die im Sinne der obigen Gewaltdefinition als gewaltvoll erlebt werden können und rassistisch oder extrem rechts motiviert sind. Das Gewalterleben und die Bewertungen der Betroffenen gehören zu den relevanten Ausgangspunkten des Gewaltverständnisses. Zum anderen geht das Gewaltverständnis über Diskriminierung hinaus, indem es dezidiert körperliche Gewalterfahrungen miteinbezieht, die nicht explizit vom Diskriminierungsbegriff erfasst sind. Gewalt umfasst also neben körperlicher auch psychische/verbale und sexualisierte Gewalt. Damit sind Gewaltformen, wie sie bspw. im Fachdiskurs um häusliche Gewalt verwendet werden, ebenfalls berücksichtigt (vgl. Schröttle 2008).

(b) Ein Gewaltverständnis, welches verschiedene gewalttheoretische Dimensionen extrem rechter und rassistisch motivierter Gewalt umfasst: Das Forschungsprojekt rekurriert auf ein sozialwissenschaftliches Gewaltverständnis in Anlehnung an das Gewaltdreieck nach Galtung, das Gewalt als eine Trias aus Dimensionen kultureller, struktureller und (inter-)personaler Gewalt versteht (vgl. Galtung 1975/2007). Institutionelle Gewalt ist nach Galtung als Bestandteil struktureller Gewalt zu fassen. Zu einem umfassenden Verständnis extrem rechter und rassistischer Gewalt gilt es, dieses Dreieck um die Perspektive epistemischer5 Gewalt zu erweitern, die Spivak eingeführt hat (vgl. Spivak 1988/2008). Diese Operationalisierung erlaubt es, diese verschiedenen gewalttheoretischen Dimensionen in ihrer jeweiligen Spezifik wie auch Interdependenz zu betrachten.

Dieses im zweifachen Sinne weite Gewaltverständnis geht zudem über reine Straftatbestände deutlich hinaus und ist damit nicht deckungsgleich zu einer juristischen oder kriminologischen Definition. Gleichzeitig macht die explizite kausale Verknüpfung von Rassismus und Rechtsextremismus mit dem Terminus Gewalt die destruktiven und auf die Beschädigung der Integrität der Betroffenen abzielenden Folgen des Gewalterlebens deutlich.

Mit Blick auf die empirischen Erhebungen bedient sich das Projekt erkenntnistheoretisch einer Heuristik, die sich auf die Aspekte von interpersonaler Gewalt fokussiert und diese analytisch sichtbar machen will. Gleichzeitig bleiben die anderen drei gewalttheoretischen Dimensionen ein relevanter Interpretationsrahmen in der Datenanalyse. So zeigen auch Erkenntnisse aus den empirischen Analysen im Kontext des amal-Projekts, dass immer wieder Interdependenzen zwischen interpersonalen Gewaltereignissen und struktureller Gewalt (bspw. Ordnungsstrukturen in Institutionen) auftreten.

Im Hinblick auf die empirischen Erhebungen werden drei Formen interpersonaler extrem rechter und rassistisch motivierter Gewalt differenziert und operationalisiert:

Abbildung 1: Formen von extrem rechter und rassistisch motivierter Gewalt

Quelle: eigene Darstellung

Die für den Projektkontext vorgenommene explizite Bezugnahme auf interpersonale Gewalt dient erkenntnistheoretisch dem Anliegen, die spezifischen individuellen Folgen und Auswirkungen von Gewalt, die von Einzelpersonen und Gruppen ausgehen, sichtbar machen zu können. Die drei verschiedenen Formen interpersonaler extrem rechter und rassistisch motivierter Gewalt und damit verbundene spezifische Gewaltpraxen können einzeln oder in Verbindung zueinander auftreten. Analytisch gehen all jene Formen von Gewalt in die empirische Analyse ein, in denen der Anlass der Gewalt rassistisch oder extrem rechts motiviert ist. Darüber hinaus kann im Zusammenhang aller drei Gewaltformen intersektional motivierte (z. B. rassistisch und ableistisch motivierte oder rassistisch und sexistisch bzw. geschlechtsspezifisch6 motivierte) Gewalt vorkommen. Aus Studien, die rassistische und extrem rechte Gewalt thematisieren, ist bekannt, dass sich diese in jeweils spezifischer Art und Weise im Kontext aller genannten Gewaltformen inszeniert (vgl. z. B. Köbberling 2018; Opferperspektive e.V. 2015; Ivanova 2017; Cholia/Jänicke 2021; Fereidooni/El 2017; Steinbacher 2016). Gleichzeitig kann rassistische und extrem rechte Gewalt in einem multidimensionalen Verständnis nicht von struktureller, kultureller und epistemischer Gewalt getrennt werden.

Die Konzeptionalisierung des für den Forschungskontext gewählten Gewaltverständnisses stellt dabei in mindestens dreierlei Hinsicht eine wichtige Grundlagenentscheidung für den Forschungsprozess dar: Zum einen wird im Rahmen des amal-Projekts explizit von rassistischer und extrem rechter Gewalt gesprochen und damit werden die Aspekte der Schädigung, Verletzung und illegitimen Machtausübung fokussiert. Dadurch wird sichergestellt, dass das Ausüben von rassistischer oder extrem rechter Gewalt stets auch im Kontext mit den folgenden Auswirkungen interpretiert werden sollte. Durch die kausale Verbindung zwischen Rassismus und Gewalt wiederum wird deutlich gemacht, dass, wenngleich es sich um interpersonale Gewalt zwischen Individuen handelt, die Ursache nicht in der individuellen Disposition der betroffenen Person, sondern in rassistisch oder extrem rechts konturierten Ideologien liegt. Es gibt also einen hinter dem jeweiligen konkreten Ereignis liegenden Begründungszusammenhang, der nicht auf rein intersubjektiver Ebene gelesen, sondern vor dem Hintergrund einer auch durch Rassismus strukturierten Gesellschaft interpretiert werden muss.

Zum zweiten ermöglicht der weite interpersonale Gewaltbegriff, der über rein physische Gewalt hinausgeht, eine Berücksichtigung multipler Formen von Gewalt. Er lehnt sich hier einerseits an die Operationalisierung von...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7799-8279-X / 377998279X
ISBN-13 978-3-7799-8279-1 / 9783779982791
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