Im Osten der Träume -  Nastassja Martin

Im Osten der Träume (eBook)

Antworten der Even auf die systemischen Krisen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
326 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2018-9 (ISBN)
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Nach ihrer sehr persönlichen Erzählung An das Wilde glauben führt auch Nastassja Martins neues Buch wieder nach Kamtschatka, wo die Lesenden auf alte Bekannte stoßen: die Even. Doch in Im Osten der Träume reflektiert die Anthropologin nun die ganze Geschichte ihrer Zeit mit den Even. Nach ihrer Feldforschung bei den Gwich'in in Alaska erscheint es Martin notwendig, sich auf die andere Seite der Beringstraße und des ehemaligen Eisernen Vorhangs zu begeben. In Kamtschatka lernt sie ein Even-Kollektiv kennen, das in der Sowjetunion gezwungen war, in Kolchosen sesshaft zu werden, und nach dem Zusammenbruch des Regimes beschloss, in den Wald zurückzukehren, um eine autonome Lebensweise neu zu erfinden. Diese beruht auf Fischfang, Jagd und Sammeln: ganz untypisch für die Even, die ursprünglich kleinere Rentierherden hüteten. Nastassja Martin begleitet sie und beschreibt, wie das Kollektiv den Dialog mit den Tieren und den Elementen wieder aufnimmt, wobei Träume eine essenzielle Rolle spielen. Mit ihrem neuen Alltag reagiert diese Gruppe auf die jahrzehntelangen Verheerungen, die eine koloniale Machtpolitik ihr zugefügt hat. Und zugleich versucht sie, eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart zu finden, während in unmittelbarer Nachbarschaft die Zeitbombe einer bevorstehenden Naturkatastrophe in Gestalt eines zügellosen Nickel-Extraktivismus längst zu ticken begonnen hat.

Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin und Schriftstellerin. Die Schülerin Philippe Descolas ist Spezialistin für die Kosmologien und Animismen der Völker Alaskas und veröffentlichte vor ihrem ersten Roman, der großes Aufsehen erregte, u. a. mit Les âmes sauvages, ein Buch über die Widerständigkeit der Inuit gegen die Zivilisation.

Vorwort


Fort Yukon

Februar 2012

Schneeflocken wirbeln im weißen Tag, wir kämpfen uns unter dem Dach der Bäume mühsam voran. Dacho und Clint voran, ich hinterher. Auf unserer Stirn stehen Schweißperlen, der Schnee knirscht unter unseren Füßen. In der Spur bleiben, denke ich jedes Mal, wenn ich wieder bis zum Oberschenkel einsinke. Nach einstündigem Fußmarsch mit gebeugtem Rücken und eingezogenem Kopf verändert sich die Landschaft, die Schwarzfichten lichten sich. Der Wind wird schärfer, je weiter wir aus dem Schutz der Bäume heraustreten, ich vermumme mein Gesicht zwischen den Ohrenklappen meiner Schapka. Willst du mir nicht sagen, wohin wir gehen?, schreie ich Dacho zu, um die Böen zu übertönen. Wir sind bald da, antwortet er, noch etwas Geduld, dann wirst du schon sehen. Wir erreichen eine Lichtung, Dacho und Clint bleiben stehen, ich auch. Ich drehe den Kopf nach rechts, nach links, und schließlich bleibt mein Blick an einer verschwommenen Form im Nebel hängen. Etwas Großes, Weißes, etwas, das weder ein Haus noch ein Baum ist. Komm, sagt Dacho, wir sind da. Wir gehen auf das Gebilde zu, dessen Umrisse deutlicher werden, als wir näher herankommen. Es handelt sich um eine gewaltige weiße Kuppel mit Facetten, die von einem Metallgerüst hoch in der Luft gehalten wird. Die Anlage muss acht bis zehn Meter hoch sein. An ihrem Fuß steht eine Leiter, die zu einer Klappe an der Unterseite der Kuppel führt. Ich verschnaufe etwas, die Männer zünden sich eine Zigarette an, sichtlich mit sich zufrieden. Was ist das denn? Sie haben meine Frage erwartet, wir sind hierhergekommen, damit ich sie ihnen stelle. Das da, sagt Dacho, das ist Amerika, das aufpasst, dass die Russen ihnen Alaska nicht wieder wegnehmen!

Ich muss wohl ein komisches Gesicht machen, denn sie lachen laut los. Clint zieht an seiner Zigarette und entschließt sich endlich, mich aufzuklären. Ich erfahre, dass die Kuppel ein Überwachungsradar ist, direkt auf Russland gerichtet. Ich stelle bald fest, dass er noch in Gebrauch ist, oder zumindest on hold – davon zeugen die beiden zerzausten amerikanischen Angestellten, die aus der Klappe herauskommen, um uns kurz zu begrüßen. Guten Tag. Sind Sie die Französin? Willkommen am Ende der Welt! Sie lachen und klettern sofort in die Kuppel zurück, wir haben hier Arbeit, die Klappe geht wieder zu. Mit einem ironischen Lächeln meint Clint: Keine Sorge, solche Raumschiffe sind nicht nur hier bei uns gelandet. In jedem indigenen Dorf von Alaska steht so eins. Meine Neugier wächst, ich nicke ihm zu, damit er mir mehr dazu sagt. Er erklärt mir, er wisse aus sicherer Quelle, dass die Russen in Sibirien über die gleichen Anlagen verfügen, die auf Alaska gerichtet sind, und dass diese ebenfalls in den indigenen Dörfern stehen. Diese Radarstation und ihre Zwillinge sind Überbleibsel aus dem kalten Krieg. Willst du wissen, warum sie sie bei den natives aufstellen?, fragt er mich und fährt fort, ohne meine Antwort abzuwarten. Weil das diskreter ist, hier gibt es keinen Tourismus, keine fremden Augen, um zu sagen, dass es weitergeht, dass der Krieg nicht wirklich zu Ende ist, oder dass er zumindest jeden Moment wieder anfangen kann. Es ist wie mit dem Feuer in unseren kranken, ausgetrockneten Wäldern: Es braucht nur einen Funken.

Wir schweigen eine Weile, in meinem Kopf brodelt es, ich war auf alles gefasst, nur nicht darauf. Dacho steht reglos da, die Hände in den Taschen, der Dampf seines Atems steigt in Wolken über seinen Kopf auf. Ich sehe ihn den Radar ansehen und sage mir, dass auch in seinem Kopf etwas rumort. Was? Ich frage ihn brühwarm danach. Nichts, antwortet er. Ich frage mich nur jedes Mal, wenn ich herkomme, was sie drüben darüber denken, die Leute auf der anderen Seite der Meerenge. Seine Augen begegnen meinen, er wendet den Blick ab, richtet ihn erneut auf den Radar. Er spricht mit gesenkter Stimme weiter. Wenn sie auf die Jagd gehen und daran vorbeikommen. Er atmet aus, der Dampf wird dichter. Oder vielleicht stehen die Radare dort mitten in den Dörfern und nicht abseits wie hier? Vielleicht können sie sie sogar aus ihren Fenstern sehen? Er dreht sich um und wendet sich mir zu. Dachos schönes braunes Gesicht, seine mandelförmigen Augen, seine langen schwarzen Haare, umkränzt vom Weiß der Kuppel in seinem Rücken. Glaubst du, sie sind wie wir? Sie leben so wie wir? Ich kneife die Augen zusammen, um die Vision zu vertreiben. Ich weiß es nicht, Dacho. Ich weiß es nicht.

Im Lauf einer Feldforschung gibt es manchmal – selten – Momente, die wie Blitze aufscheinen. Kurz, verschwindend. Einzelne Punkte. Die jedoch aus dem Fluss der Erfahrung hervortreten. Und die ein Leben, einen Forschungsverlauf oder beides, eine entscheidende Wendung nehmen lassen. Dachos Blick auf den nach Russland schauenden amerikanischen Radar ist so ein Moment. Es war zugleich schön und schmerzlich, als komme etwas Offenkundiges, über das zu lange geschwiegen wurde, mit einem Schlag ans Licht: Die Welt, die ich zu beschreiben versucht hatte, war unendlich viel offener, sie trat einmal mehr über die armseligen Grenzen, die ich um sie herum zu skizzieren versucht hatte, um sie besser zu erfassen.

Dachos Fragen wurden für mich sehr schnell zur Obsession. Die vergleichende Arbeit, die ich über die alaskische Trias der Gwich’in gegenüber dem Westen und den Metamorphosen der Umwelt in Angriff genommen hatte, war auf dramatische Weise ungenügend. Ich würde das Spektrum erweitern müssen, weiter blicken. Über die Beringstraße hinweg. Dahin, wo es, für Dacho, vielleicht Leute gab, die wie er waren oder fast; dahin, wo es, für mich, sicher noch Spuren einer geopolitischen Geschichte gab, die sich im Territorium und in seinen Bewohnern materialisiert hatte. Dahin, wo es, für Clarence, Dachos Vater, vielleicht ein »Vorher« gab, von dem zu erzählen sich noch lohnen würde.

Wir Gwich’in, so erzählte Clarence gerne, haben vor nicht allzu langer Zeit1 am selben Tag erfahren, dass wir nicht nur amerikanische Staatsbürger waren, sondern dass wir zuvor auch Russen gewesen waren. Er sagte weiter, dass die Aleuten des Südens sich bis in ihr Fleisch daran erinnerten; dass die Tlingit im Südosten tapfer gekämpft hatten; dass die Yupik im Nordwesten sich ergeben hatten; dass die Inupiat im Norden ihre Wale verkauft hatten; dass die Russen aber nie bis zu den Gwich’in vorgedrungen waren, dass sie sich daran erinnert hätten, wenn sie gekommen wären, denn die Gwich’in sind Krieger, sie hätten sich ihr Land nicht nehmen lassen, sie hätten … Irgendwo in diesem Satz brach Clarence immer ab. Wie auch immer, fuhr er dann fort, die Russen waren nicht bis zu ihnen vorgedrungen, weil das Gwich’in-Territorium zu weit im Westen lag, zu weit in der subarktischen Taiga, und auch weil sie an der Küste zu viel zu tun hatten. Manchmal sagte ich dem alten Mann, er würde immer die gleichen Geschichten wiederkäuen. Um mich zum Schweigen zu bringen oder vielleicht auch um mich zu beeindrucken, ging er dann noch weiter zurück. Früher, ganz früher, sind wir sicher von dort drüben gekommen, über die große Eisbrücke. Wir haben die Inupiat vorgehen lassen, um das Eis der Meerenge zu prüfen. Er lachte. Wir haben gesehen, dass es hielt, dann sind wir auch hinübergegangen. Ihr habt ihnen sicher einen Vorsprung von ein paar Tausend Jahren gelassen, um ganz sicher zu sein? Ich spottete, aber er ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Natürlich, wir sind schlau! Die Küste und der Blizzard, das sind Eskimo-Dinger, wir sind schnurstracks weitergegangen bis in den Wald. Ich musste laut lachen. Denk daran, sagte er. An die Reise, die wir vollbracht haben, um bis hierher zu kommen, an unsere Wahl, zwischen den Bäumen zu leben, und an diejenigen, die wir zurückgelassen haben. Ja, Clarence, antwortete ich, ich denke daran. Ich denke sogar an nichts anderes. Im Lauf der Zeit verwandelten sich diese Gedanken in eine fixe Idee: Ich würde die Meerenge überqueren, in der Zeit zurückgehen. Ich würde in die Fußstapfen meiner Vorläufer von 1897 treten, ich würde dem intellektuellen Weg folgen, den Boas, Jochelsen, Brodsky und die anderen mit der Jesup North Pacific Expedition2 genommen haben. Das Unterfangen mochte zwar einigermaßen hoffnungslos sein, aber auch ich würde versuchen, die beiden Seiten der Beringstraße in einen Dialog zu bringen; auch ich würde versuchen, zurückzugehen zu den Verbindungen zwischen Orten und Kollektiven, bevor die Kolonisation sie zerstörte. Wer weiß? Irgendwo zwischen Osten und Westen würden sich die Schatten vielleicht auflösen. Und später würde ich eines Tages nach Fort Yukon zurückkommen, um Dacho und seinem Vater davon zu erzählen. Wie es dort drüben war.

Dieses Buch berichtet von einem intellektuellen Wahnsinn und einer unmöglichen Reise, deren Keim an einem Wintertag wie so vielen anderen in Fort Yukon gelegt wurde. Dieses Buch ist eine Antwort. Eine Antwort auf Dacho, auf...

Erscheint lt. Verlag 28.3.2024
Übersetzer Claudia Kalscheuer
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7518-2018-3 / 3751820183
ISBN-13 978-3-7518-2018-9 / 9783751820189
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