Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche (AHH) -  Frank Como-Zipfel,  Gernot Hahn,  Daniel Kilian

Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche (AHH) (eBook)

Materialien zur Praxis aufsuchender Sozialer Arbeit
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2024 | 1. Auflage
156 Seiten
Dgvt Verlag
978-3-87159-456-4 (ISBN)
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Hausbesuche sind in der Sozialen Arbeit eine tägliche Praxis. Dieses Buch stellt die theoretischen Grundlagen, methodischen Ansätze sowie Arbeitssituationen und -settings von Hausbesuchen systematisiert dar. Im Zentrum der Publikation steht ein allgemeines Handlungsmodell zur Planung, Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und Dokumentation aufsuchender psychosozialer Arbeit. Die theoretische Verortung der Praxis von Hausbesuchen erfolgt unter Bezugnahme auf die Beiträge der Lebensweltorientierung, des Lebensbewältigungsansatzes, der Sozialraumorientierung und des Lebensführungskonzepts. Darüber hinaus werden ethische Aspekte, kulturelle Perspektiven, Fragen professioneller Beziehungsgestaltung, Sicherheitsaspekte sowie rechtliche Rahmenbedingungen dargestellt. Der Band ist für Fachkräfte der Sozialen Arbeit sowie anderer pädagogischer und psychosozialer Berufsgruppen konzipiert; er verfolgt darüber hinaus einen interdisziplinären Ansatz in allen relevanten Handlungsfeldern der aufsuchenden Arbeit.

Prof. Dr. phil. Frank Como-Zipfel, Diplom-Sozialarbeiter, Promotion in Politischer Wissenschaft, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (Verhaltenstherapie), lehrt seit 2010 Sozialpädagogische Methoden an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Er ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Verhaltensorientierte Soziale Arbeit sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des ZKS-Verlags für psychosoziale Medien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Methodenlehre, Professionsethik, Digitalisierung.

2 Hausbesuche als Aspekt der aufsuchenden psychosozialen Arbeit


Aufsuchende Soziale Arbeit ist ein besonderes Prinzip Sozialer Arbeit und ein Überbegriff für alle Interventionen und diagnostischen Maßnahmen, bei denen Klient*innen aktiv in deren Lebensumfeld aufgesucht werden. Prinzipiell sind zwei Bereiche aufsuchender Sozialer Arbeit zu unterscheiden: Kontakte im öffentlichen bzw. halböffentlichen Raum und solche in privaten Räumlichkeiten und Wohnungen der Klient*innen (Gut, 2022). Im ersten Fall handelt es sich um Streetwork, also die Kontaktgestaltung auf Straßen, Plätzen, in öffentlichen Gebäuden oder halböffentlichen Räumen, z. B. Gaststätten. Im zweiten Fall erfolgt die aufsuchende Soziale Arbeit als Hausbesuch, wobei die privaten Räume der Klient*innen betreten und genutzt werden. In beiden Situationen erfolgen Kontakt, Beratung, Unterstützung oder Begleitung vor Ort, in der Lebenswelt der Betroffenen, ohne dass diese dafür die Schwelle zu einem formellen Ort (Institution, Beratungsveranstaltung) übertreten müssen. In diesem Sinn ist aufsuchende Soziale Arbeit niedrigschwellig, da die gewohnten Lebensbezüge und -räume der Adressat*innen nicht verlassen werden müssen, der gewohnte und vertraute Ort beibehalten wird und damit Sicherheit und Orientierung erhalten bleiben. Dadurch, dass ein professionelles Angebot, z. B. Beratung oder Begleitung, zu den Klient*innen kommt, wird dennoch ein professionelles Setting geschaffen, da die Fachkraft nicht als neutrale Person in den privaten Räumen agiert, sondern als Vertreter*in einer Institution, als Teil eines Programms und damit als „offizielle Person“. Vielleicht erinnern Sie sich an Hausbesuche durch die Hausärzt*innen (sic!) in Ihrer Kindheit, wenn Sie hoch fiebernd nicht in die Praxis gebracht werden konnten. Vor dem Hausbesuch wurden vielleicht Handtücher in der Toilette ausgetauscht und zusätzliche Reinigungsarbeiten in der Wohnung durchgeführt, denn: „Der Arzt kommt!“ Ähnlich verhält es sich mit Hausbesuchen in der Sozialen Arbeit. „Hilfe, sie kommen!“, so der Titel eines Klassikers zur aufsuchenden (systemischen) Arbeitsweise (Müller et al., 2011) beschreibt diese Dynamik treffend; Hausbesuche umfassen immer zwei Seiten, das Eindringen in den privaten Raum und das Näherbringen von Hilfe und Unterstützung vor Ort.

Damit findet sich auch im Kontext aufsuchender Sozialer Arbeit in Form von Hausbesuchen der doppelte Auftrag, das Doppelmandat jeder Sozialen Arbeit, da neben Unterstützungs- und Hilfeaspekten immer auch Kontrollaspekte betroffen sind. Reale Kontrollaufträge, wie z. B. im Rahmen der Bewährungshilfe, bestehen in der Notwendigkeit der Einschätzung, ob Bewährungsauflagen oder Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht (§ 68 StGB) eingehalten werden oder ob sich aus der konkreten Lebens- und Wohnsituation Hinweise für eine erhöhte Rückfallgefahr hinsichtlich neuer Straftaten ergeben. Die ambulante forensische Nachsorge für ehemals im Maßregelvollzug untergebrachte Patienten (§§ 63, 64 StGB) kann z. B. in begründeten Einzelfällen auch die Anordnung von Hausbesuchen auf Grundlage der Regelung in § 68b StGB umfassen. Die Betroffenen haben dann „die Durchführung von Hausbesuchen, auch ohne vorherige Ankündigung, zu erdulden“ (ebd.). Ähnlich verbindlich verhält es sich im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), etwa wenn es im Rahmen einer Entscheidung zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII darum geht, die örtlichen und räumlichen Gegebenheiten oder das Verhalten der Erziehungspersonen hinsichtlich möglicher Gefährdungsaspekte einzuschätzen (Albrecht et al., 2016).

Im Vordergrund stehen bei Hausbesuchen als aufsuchenden Maßnahmen allerdings diagnostische und Unterstützungsaspekte: Welche Ressourcen liegen in der konkreten Lebenswelt vor, wie können diese genutzt werden, wie organisieren Klient*innen ihren Alltag, welche Bewältigungsformen sind zu erkennen, welcher Unterstützungsbedarf oder -wunsch ist daraus abzuleiten? Als direkte soziale diagnostische Maßnahme (siehe Modul Soziale Diagnostik) ergeben sich aus der Wahrnehmung und fachlichen Einschätzung wertvolle Hinweise, jenseits von Schilderungen der Klient*innen in einem neutralen Büro der Fachkraft. Hinweise auf örtliche Aspekte, soziale Unterstützungsmöglichkeiten, Fähigkeiten (die direkt beobachtbar sind), Zusammenhänge und Phänomene können direkt beobachtet und rückgemeldet werden, ohne dass Klient*innen diese erinnern, benennen und bewerten (können) müssen. In diesem Sinn handelt es sich bei Hausbesuchen um „friendly visitings“ (Richmond, 1899), als Ansatz zur Erschließung und Nutzbarmachung von Möglichkeiten und Chancen, als Würdigung der Selbsthilfeansätze der Betroffenen und als fachliche Anerkennung der Lebensbewältigung im konkreten Alltag (siehe Abschnitt Theoretische Grundlagen).

Arbeitsprinzipien der aufsuchenden Sozialen Arbeit sind neben der Niedrigschwelligkeit vor allem die Freiwilligkeit von Hausbesuchen, wobei die Zustimmung der Betroffenen, wo immer das möglich ist, nachgefragt bzw. thematisiert werden sollte. Es geht um das Eintauchen (manchmal auch Eindringen) in die Lebenswelt der Klient*innen, was durch eine deutliche Zurückhaltung hinsichtlich fachlicher Einschätzungen und Bewertungen geprägt sein sollte. Die soziale Erfahrung eines Hausbesuchs muss von Offenheit hinsichtlich der Wahrnehmung bestehender Belastungen, Ressourcen und Bewältigungsansätze gekennzeichnet sein, die Selbstdeutungsmuster der Betroffenen anerkennen und respektieren und die biografischen Zusammenhänge der aktuellen Situation erschließen. In diesem Sinn orientieren sich Hausbesuche am „person in environment“-Konzept (Dorfman, 1996; Pauls, 2013), am Verständnis, dass individuelle und soziale Probleme und Belastungen aus der Gleichzeitigkeit personaler, sozialer und umgebungsbezogener Merkmale und Bedingungen resultieren, wobei die Verantwortung der Klient*innen für die eigene Lebens-, Problem- und Krankheitsbewältigung erhalten bleibt. Beim Hausbesuch werden diese Zusammenhänge als psychosoziale Phänomene, als Gleichzeitigkeit sozialer und psychischer Entstehungsursachen (Schwendter, 2000) sichtbar, direkt erlebbar und ermöglichen so die Chance eines unmittelbaren Zugangs hinsichtlich Bewertung und Intervention. Der Fokus eines Hausbesuchs liegt also auf den individuellen (Psyche, Verhalten) und den Umgebungsfaktoren (Verhältnisse), insbesondere aber auf dem Zusammenwirken dieser beiden Ebenen.

Das Fallverständnis, das diagnostische Vorgehen und die fachliche Intervention des person in environment drücken sich in den Fachbegriffen der „Sozialen Diagnose“ (Salomon, 1926; 2004) und „Sozialen Therapie“ (Schwendter, 2000) aus, sie umschreiben „die Einbettung des Menschen in vorgegebene, nachhaltig prägende Gesellschaftsverhältnisse“ (Mühlum, Bartholomeyczik & Göpel, 1997, S. 193). Auf der Ebene des Individuums betreffen sie das Ziel der Lebensbewältigung, sind person-/verhaltensorientiert und finden ihre Bearbeitungsform im Case Work. Auf der gesellschaftlichen Ebene zielt Soziale Arbeit/Sozialtherapie auf Sozialintegration, die Handlungsorientierung ist sozialpolitisch und umfeldbezogen, der Arbeitsansatz liegt in der Gemeinwesenarbeit. Der Hausbesuch erlaubt einen Blick auf beide Ebenen, erschließt psychische und Verhaltensprobleme und vorhandene individuelle Ressourcen „im echten Leben“. Die soziale Struktur wird durch konkrete Räume, Nachbarschaften, Quartiere oder die Infrastruktur sichtbar und für die Fachkräfte direkt erlebbar. Hausbesuche im psychosozialen Kontext erlauben fachliches Agieren jenseits institutioneller Regelungen und Bestimmungen, sie greifen vielmehr das konkrete Leben, den (mehr oder weniger) gelingenden Alltag auf und setzen an den Bewältigungsansätzen der Akteure an. Sicher ergeben sich auch im nicht aufsuchenden Kontext Ansätze zur Selbstbefähigung der Klient*innen, allerdings müssen diese meist in deren Alltag integriert oder auch „übersetzt“ werden. Manchmal erfolgreich, manchmal weniger zielorientiert. Die Situation lässt sich in etwa mit dem Praxisunterricht einer Fahrschule vergleichen: Die Fahrschüler*innen agieren in Begleitung der Fahrlehrer*innen, profitieren von deren Begleitung und ständigen Rückmeldung, lenken das Fahrzeug jedoch weitgehend selbstständig. Die Verhaltensänderung ergibt sich schrittweise durch wiederholte Anwendung neuer Praxis, die allmählich zur Routine, zum sicheren Handeln wird. Hausbesuche sind auch die Ebene für professionelle Beratung und Case Management (siehe Modul Methoden), können direkt und problembezogen erfolgen und benötigen keine „Übersetzung in den Alltag“. Entsprechend muss der Einsatz aufsuchender Interventionen als wirkmächtiges Instrument eingeschätzt werden, das direkt in der Lebenswelt der Betroffenen wirksam wird.

Abbildung 1: Psychosozialer Ansatz des Hausbesuchs (in Anlehnung an Pauls, 2013)

Das Zuhause, die eigene Wohnung der Klient*innen wird beim Hausbesuch als Interventions- und Hilferaum begriffen, Hausbesuche sind gezielte Intervention (Bräutigam et al., 2022). Dabei ergeben sich Situationen und Erfahrungen, die direkt und unmittelbar („ungeschminkt“) sein können. Es kann dazu kommen, „Dinge zu sehen, zu hören oder zu riechen, die ihre persönlichen Grenzen unangenehm berühren oder verletzen, z. B. wenn Besuchte die Tür in Unterwäsche öffnen“ (ebd., S. 217). Dabei kann es stimmig erscheinen, solche Situationen zu thematisieren oder eben nicht direkt in der Situation anzusprechen, je nach Qualität der aktuellen Situation (Offenheit vs. Anspannung), Beziehungsstatus zwischen besuchter Person und Besucher*in (vertraut vs....

Erscheint lt. Verlag 1.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-87159-456-3 / 3871594563
ISBN-13 978-3-87159-456-4 / 9783871594564
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