Opfernationalismus -  Jie-Hyun Lim

Opfernationalismus (eBook)

Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
144 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach
978-3-8031-4392-1 (ISBN)
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Während der Nationalismus seine Begründung früher in Heldengeschichten des unbesiegbaren Volkes fand, schöpfen heute weltweit immer mehr Staaten und Nationen ihr Selbstbewusstsein aus einer Opfergeschichte - und leiten daraus einen Status ab, der sogar vererbt werden soll. Mit vergleichendem Blick auf Polen, Deutschland, Israel, Japan und Südkorea zeigt Jie-Hyun Lim scharfsinnig, welche Probleme ein solcher Opfernationalismus mit sich bringt, wenn er sich als Machtpolitik formiert: Vergangenheit wird verfälscht, die Opfer selbst werden mitunter unsichtbar gemacht und Herrschaft legitimiert. Indem er dabei konsequent die Perspektive vom europäischen Zentrum löst und in den Globalen Osten verlagert, wird deutlich, wie die historischen Katastrophen im Gedenken weltweit in Beziehung gesetzt und abgeglichen werden, sich erklären und in Konkurrenz zueinander geraten. In seinen wegweisenden Überlegungen entwirft Lim die Grundzüge für einen globalen Erinnerungsraum, der auf Anteilnahme und Diversität beruht und zugleich historisch trennscharf bleibt. Ein unverzichtbarer Beitrag für die Debatten um eine Geschichtspolitik der Zukunft in der postkolonialen Welt.

Jie-Hyun Lim, geboren in Seoul, ist Professor für Trans­nationale Geschichte an der dortigen Sogang-Universität. Nachdem er in den 1990er Jahren zu Forschungszwecken eine längere Zeit in Polen verbrachte, folgten Aufenthalte an diversen Universitäten, unter anderem in Harvard, Paris und an der Columbia University. Er ist Autor zahlreicher Monografien und Aufsätze, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. »Opfernationalismus« ist sein erstes Buch auf Deutsch.

Jenseits des mnemonischen Eurozentrismus
Vorwort zur deutschen Ausgabe


Für ein deutschsprachiges Publikum bin ich ein Osthistoriker im doppelten Sinne. Ich komme aus Ostasien und forsche zur Rolle Polens als Deutschlands Osten. Ich bin in Seoul geboren und begann mein Geschichtsstudium im Jahr 1977, als die antikommunistische Entwicklungsdiktatur in Südkorea ihren Höhepunkt erreichte. Ich neigte damals intuitiv zum Sozialismus, den ich als humanistische Alternative zur brutalen Realität des Marktstalinismus in Südkorea verstand. Als autodidaktisch geschulter Osteuropaforscher untersuchte ich die polemischen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern des Sozialpatriotismus der PPS (Polnische Sozialistische Partei) und jenen des proletarischen Internationalismus der SDKPiL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen). Trotz unterschiedlicher historischer Rahmenbedingungen erinnerten die Diskursgefechte in Polen an die linken Grabenkämpfe in Südkorea, die in den Achtzigerjahren zwischen den Befürwortern der nationalen Befreiung und jenen der Volksdemokratie ausgetragen wurden. Dass sich linke Kräfte wie jene im aufgeteilten Polen und im geteilten Korea genuin mit der nationalen Frage befassten, ist ein seltenes Phänomen in der Geschichte des westlichen Marxismus. Viel öfter wurde sie verdrängt und instrumentalisiert. Aus diesem Grund zog mich die Geschichte des polnischen Marxismus stärker an als der westliche Marxismus. Die linke Sensibilität für die nationale Frage geht in Polen wie in Südkorea darauf zurück, dass diese beiden Länder eine Position innerhalb der ›Globalen Osten‹ teilen – innerhalb eines vielgestaltigen, relationalen und darum im Plural zu benennenden Ostens in der globalen Moderne.

Die Parteigeschichtsschreibung in der Volksrepublik Polen und die kritische linke Historiografie in Südkorea weisen ähnliche historische Konturen und Merkmale auf: ein besetztes und kolonisiertes Land; die Abwesenheit eines souveränen Nationalstaats; eine ursprüngliche Vorstellung von der Nation; hartnäckig sich behauptende Überreste des Feudalismus; der unterentwickelte Kapitalismus; die gescheiterte bürgerliche Revolution; die Geringschätzung des Parlamentarismus; die illiberale und antipluralistische politische Kultur; die Unreife der modernen individuellen Subjektivität – die Liste ließe sich fortsetzen. Beide Länder stehen exemplarisch für den preußischen Weg der kapitalistischen Entwicklung. Die Betrachtung als Sonderweg beschränkt sich nicht auf eine deutsche Eigenheit, sondern verweist auf die Transversalität der historischen Imagination im globalen Rahmen oder zumindest im Hinblick auf Polen und Korea. Abgesehen von klassischen Köpfen des Marxismus wie Róża Luksemburg und Kazimierz Kelles-Krauz waren es vor allem die Arbeiten polnischer (Ex-)Marxisten der Nachkriegszeit – darunter etwa Oskar Lange, Julian Hochfeld, Witold Kula, Leszek Kołakowski, Zygmunt Bauman, Andrzej Walicki und Adam Schaff –, die mir ein Problemfeld eröffneten, das eng verbunden ist mit der modernen Geschichte Polens als einem Teil der ›Globalen Osten‹.

Als ich im Winter 1990 erstmals nach Polen reiste, sprühte das Land vor Begeisterung über die ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen in der postkommunistischen Ära. Lech Wałęsa, Solidarność-Ikone und aussichtsreicher Kandidat, zog mit seiner Kampagne unter der Losung, aus Polen »ein zweites Japan« machen zu wollen, meine Aufmerksamkeit ganz auf sich. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie verwundert ich über dieses Versprechen war, denn für mich klang es so, als ob »der Westen zum Osten« oder »Europa zu Asien« gemacht werden sollte. Damals nahm ich den konventionellen geografischen Blickwinkel ein, wonach Polen im Westen und Japan im Osten zu verorten seien. Jahre später erkannte ich darin ein Abbild jenes Historizismus, der den fortgeschrittenen Westen und den rückständigen Osten auf einer einzigen welthistorischen Zeitachse anordnet. In diesem Modell wird Polen dem Osten zugeschrieben und Japan dem Westen. Im herkömmlichen geografischen Sinne mag Japan zwar im »Osten« liegen, dennoch gehört es – anders als Polen – ökonomisch und sozial betrachtet zum »Westen«. In Wałęsas Slogan von 1990 wurde Polen zu Japans Osten beziehungsweise Asien und Japan zu Polens Westen beziehungsweise Europa.

Ein Osthistoriker im doppelten Sinne zu sein prägte meine intellektuelle Reise nachhaltig. Als ich in Polen lebte, im ›Osten‹ des ›Westens‹, öffnete mir dies die Augen dafür, dass ›Ost‹ und ›West‹ beziehungsweise ›Europa‹ und ›Asien‹ eine imaginative Geografie bezeichnen, die politisch und historisch konstruiert ist. Während Polen in Deutschland als ›Osten‹ gilt und in den Bereich Ostforschung fiel, wird Deutschland in Polen in der Schriftenreihe Studia Zachodnie als ›Westen‹ untersucht. Polen seinerseits sieht sich als Westen, der dem ›asiatischen‹ Russland gegenübersteht. Dass auch Japan so weit ging, Russland zu orientalisieren, um sich nach seinem Sieg im Russisch-Japanischen Krieg als westlich zu positionieren, verwundert daher nicht. ›Westen‹ und ›Osten‹ sind keineswegs Bezeichnungen für fest umrissene, eindeutig verortete Räume, sondern veränderliche Kategorien. Als ich mich im transregionalen Raum zwischen Seoul und Warschau bewegte, begriff ich allmählich die dynamische Relationalität von Ost und West. »Ich komme aus einem Land, das im Westen des Ostens und im Osten des Westens liegt«, um es in den Worten von Sławomir Mrożek zu sagen.

Rückblickend kann ich mich glücklich schätzen, den scheinbaren Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unter der Entwicklungsdiktatur in Südkorea durchlebt und später den in umgekehrter Richtung verlaufenden Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus in Polen nach 1989 beobachtet zu haben. Für Südkorea war die »verdichtete« Modernisierung und die Entwicklungsdiktatur der Siebziger- und Achtzigerjahre eine nutzbringende, aber auch leidvolle Erfahrung, weshalb sich das Land für Historiker als anregendes Soziallabor darstellte. Ebenso bot die radikale Transformation des postkommunistischen Polens nach 1989 ein so interessantes wie reiches Untersuchungsfeld für die sozialwissenschaftliche Forschung. Diese zwei gegenläufigen, zeitlich nah beieinanderliegenden Transformationsprozesse zu reflektieren und an ihnen teilzuhaben, sie zu erfahren und mitzuerleben, bewog mich dazu, die Dämonologie des Kalten Kriegs in ihrer linken wie auch rechten Spielart infrage zu stellen. In Polen wurde der Kommunismus in die Nähe der politischen Rechten gerückt, während man das antikommunistische Lager als links bezeichnete. Viele Polen sahen im Kommunismus eine Ideologie, die Industrie- und Landarbeiter unterdrückte. In Südkorea war es umgekehrt. Die sozialistischen Dissidenten gehörten zur Linken, und die antikommunistischen Befürworter der Entwicklungsdiktatur wurden Rechte genannt.

Im Feld der Erinnerungskultur gestaltete sich die transnationale Umwälzung der politischen und ideologischen Links-Rechts-Konstellation noch unübersichtlicher. Fanatische Antikommunisten aus Südkorea und eiserne Kommunisten aus Polen näherten sich einander an, als sie die populäre Nostalgie für die Entwicklungsdiktatur beziehungsweise das kommunistische Regime instrumentalisierten und für sich ausnutzten. Südkoreanische Linke und polnische Antikommunisten wiederum bestritten, dass es eine solche Nostalgie überhaupt gäbe. Beide Gruppen waren nämlich unerschütterlich davon überzeugt, das unschuldige Volk in ihren Ländern hätte niemals eine Bande politischer Verbrecher unterstützen können. Angesichts dieser bizarren Erinnerungsgenossenschaft, die sich zwischen gegnerischen politischen Lagern in der globalen Konstellation herausbildete, löste ich mich von den Feindbestimmungen des Kalten Kriegs, ob sie nun in der rechten oder linken Variante daherkamen. Was beide nämlich gemeinsam haben, ist die Besessenheit von einem vereinfachenden Dualismus, der eine kleine Gruppe böswilliger Täter und eine Vielzahl unschuldiger Opfer einander gegenübergestellt. Sobald man diesen historischen Dualismus jedoch abstreift, tritt ein vielschichtiges Feld von Erinnerungen – an Krieg und Kolonialgräuel, Holocaust und Gulag, Diktatur und Demokratie, Opfer- und Täterschaft, Zeugenschaft und Kollaboration – in den Vordergrund einer nationalen und transnationalen Konfliktszenerie.

Nachdem ich mich enttäuscht vom Realsozialismus in der Volksrepublik Polen abgewandt hatte, schwand mein anfängliches Interesse an der Ideengeschichte des polnischen Marxismus. Zu Beginn der Nullerjahre kehrte ich mit anderen Fragen nach Polen zurück. Der Historikerstreit po polsku (polnischer Historikerstreit), ausgelöst durch die Veröffentlichung von Jan Gross’ Buch Nachbarn im Jahr 2000, weckte mein Interesse für das Bewusstsein von Opferschaft im globalen Erinnerungsraum. Inspiriert von Zygmunt Baumans Konzept des »ererbten Opferstatus« entwickelte ich die These vom »Opfernationalismus«, um die verflochtenen Erinnerungen an Krieg und Genozid in Polen, Deutschland, Israel, Japan und Korea begrifflich zu fassen. Ich verstehe den Opfernationalismus als eine Erzählschablone, die Nationen mit »ererbtem Opferstatus« – der eine Gruppe in der Gegenwart und die Opfer einer Vorfahrengeneration postum aneinander bindet – moralische Gerechtigkeit verschaffen und zu historischer Legitimation verhelfen kann. Indem sie das Vermächtnis der Opferschaft der Vorfahren weiterführt, erscheint die Nation mit ererbtem Opferstatus als moralisch rein. Im Zuge der Globalisierung der Erinnerung und der Entstehung von globaler Empathie mit Opfergruppen hat sich der...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Übersetzer Utku Mogultay
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-8031-4392-6 / 3803143926
ISBN-13 978-3-8031-4392-1 / 9783803143921
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