Indigenialität -  Andreas Weber

Indigenialität (eBook)

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2024 | 1. Auflage
126 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-3017-1 (ISBN)
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»Wir sind alle Wilde«, sagt Andreas Weber und verdeutlicht, dass unsere Zivilisation nicht nur die Indigenen kolonisiert hat, sondern auch unser eigenes Denken. Wenn wir die Welt wieder zu einem lebensspendenden Ort machen wollen, sollten wir das Indigene in uns selbst entdecken. »Radikale Demokratie«, »Ethik und Moral der Gemeinsamkeit«, »Gerechtigkeit«, »Ökologie der Gabe« und »Nachhaltigkeit« - um diese Begriffe kreist Webers philosophisches Plädoyer für einen offenen Austausch in einer Welt der Gegenseitigkeit, die gerade erst wieder entdeckt wird: Physiker, Biologen und Geisteswissenschaftler beginnen den ganzheitlichen Kosmos angesichts der ökologischen und gesellschaftlichen Krisen neu zu begreifen und alte Gewissheiten abzustreifen. Sich auf diese neue Weltsicht einzulassen, bietet die Chance, lebendiger Teil einer ganzheitlichen Wirklichkeit zu werden und eine ökologische Lebenskunst zu verwirklichen.

Andreas Weber, 1967 geboren, ist Biologe und Philosoph. Er promovierte über Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen. Seit 1994 schreibt er u.a. für GEO, Merian, ZEIT, Frankfurter Allgemeine Zeitung und National Geographic mit Preisen ausgezeichnete Reportagen und Essays. Er lebt als Schriftsteller, Journalist, Dozent und Politikberater in Berlin und Italien.

Das Denken dekolonialisieren


»Die westliche Metaphysik ist Quelle und Ursprung jedes Kolonialismus.«

Eduardo Viveiros de Castro7

Im Frühsommer 2018 stellte ein Ethik-Lehrer an einem Berliner Gymnasium eine knifflige Aufgabe. Die schriftliche Hausarbeit kam am Ende eines Lernblocks, in dem sich die Schüler mit einer zentralen Idee der Aufklärung beschäftigt hatten: dem Gesellschaftsvertrag. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hatte seine Gedanken dazu 1651 in seinem Buch Leviathan formuliert, das immer noch zu den wichtigsten Werken der politischen Philosophie zählt.8 Es ist die Gründungsurkunde der modernen Auffassung, wie Menschen zusammenleben sollen – mit ihresgleichen, mit den anderen Wesen, mit der Natur.

Der Titel, den Hobbes gewählt hat, ist der Name eines mythologischen Ungeheuers. Es steht sinnbildlich für die rohe Natur, die ihre Kinder frisst, »rot an Zahn und Klaue«9, triebgesteuert, grausam – wenn wir Menschen dieses Ungeheuer nicht durch Regeln, die wir mit Vernunft und Klugheit ersinnen, in die Schranken weisen. Auch das ursprüngliche menschliche Zusammenleben, so Hobbes, folgt diesem Diktat der Gewalt. Das ist in seinen Augen der »Naturzustand« der menschlichen Gemeinschaft.

Darunter stellte sich der englische Denker die Situation der Menschen vor, bevor sie sich klugerweise der Idee der Zivilisation unterwarfen. Der »Naturzustand« ist für Hobbes regelloses Hauen und Stechen, Mord, Totschlag, Übervorteilung. Der Stärkere will gewinnen, mit dem Ergebnis von Chaos und Jammer. Darum, so der englische Aufklärer, haben sich die Menschen besonnen und einen Vertrag miteinander geschlossen: Sie schufen eine Obrigkeit, der sie sich unterwarfen, damit diese nun – mit Gesetzen und staatlicher Gewalt – für Ordnung unter ihnen sorge. Nur so, denkt sich Hobbes, waren die kulturellen Leistungen des Abendlandes möglich. Ohne Gesellschaftsvertrag, der den Naturzustand einer Obrigkeit unterwirft, herrscht das Chaos der Wildnis.

Die Aufgabe für die Schüler der zehnten Klasse im Fach Ethik lautete nun so: Sie sollten Hobbes’ Idee am Beispiel des Staates Somalia erläutern. Denn dieser habe keine funktionierende Regierung, keinen gültigen Gesellschaftsvertrag und – so suggeriert die Frage – sei somit ein gutes Beispiel für den »Naturzustand«: Jeder gegen jeden.

Die Schüler quälten sich mit der Fragestellung ab. Die leichte Variante lag auf der Hand: Herausarbeiten, in welchen Hinsichten Somalia ein »failed state« war. Weder der Lehrer noch die Schüler waren jemals in dem Land am Horn von Afrika gewesen, niemand hatte eine tiefere Recherche angestrengt, wie es dort wirklich aussah, was funktionierte und was nicht, wie sich das Leben dort anfühlte – das wirkliche Leben, nicht das theoretische, das Leben unter Familie und Freunden, in einem Dorf, in einem Stadtviertel. Die wenigen Schüler, denen das zu einfach war, denen das Vorurteil Unbehagen bereitete, dass Menschen von selbst und ohne ein westlich aufgeklärtes Herrschaftssystem destruktiv und selbstzerstörerisch handeln, mussten wesentlich mehr investieren, als nur die erlernten Stereotypen einigermaßen flüssig zu Papier zu bringen

Im Grunde war den Schülern auferlegt, die Tiefenerzählung des Abendlandes – die Natur ist roh, der Mensch ist ein wildes Tier, wir brauchen rationale Herrschaft, diese Rationalität liefert uns das Denken des Westens – Faser um Faser aufzulösen und etwas Neues an seine Stelle zu setzen, eine andere Erzählung, die weniger von Furcht zerfressen ist, weniger von Isolation gepeinigt und weniger von Misstrauen vergiftet. An dieser Aufgabe will sich dieses Buch beteiligen.

Wir haben einen neuen Blick dringend nötig. Es ist müßig, die sich immer drohender aufbauenden Krisen hier noch einmal aufzuzählen.10 Wir befinden uns an einer Engstelle der Lebendigkeit auf diesem Planeten und zugleich in einem Vakuum gesellschaftlicher Visionen: in einer Zeit des »Auszugs der Demokratie«, wie der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe schreibt. Das wichtigste Mittel, das uns hier helfen kann, ist unsere – der westlichen Denker – Anerkenntnis des »gezwungenermaßen provinziellen Status unserer Diskurse und des notwendig provinziellen Charakters unserer Konzepte« und somit eine »Kritik jeder Form des abstrakten Universalismus«.11

Unser Denken repräsentiert nicht die Wirklichkeit. Es bringt sie unter Kontrolle. Gerade die vorgebliche Universalität ist ein Herrschaftsinstrument. Wer wollte die Objektivität von mathematischen Berechnungen oder logischen Argumenten ernsthaft bezweifein? Aber im Wort »Objektivität« – die Welt besteht aus Objekten mit klaren Grenzen – schlummert eine Vorannahme, die weite Bereiche der eigenen Erfahrung ausklammert. Und gerade das bedeutet die koloniale Unterjochung dessen in uns, was nicht nahtlos universalisierbar und logifizierbar ist. Für Mbembe ist »das Ergebnis jeder Abstraktionsleistung, jeder Klassifizierung, jeder Teilung und jedes Ausschlusses ein Akt der Macht, welcher anschließend internalisiert und in den Momenten des alltäglichen Lebens unbewusst wiederholt wird – die Ausgeschlossenen inbegriffen«.12

Abstrakter Universalismus ist ein Denken, für das die objektive Welt aus Dingen besteht, welche Akteure rational ordnen, um so auf bestmögliche Weise ihr Überleben zu sichern. Es ist unser Denken. Und es ist provinziell, wie Mbembe sagt, nicht allgemeingültig, weil nämlich andere Formen des Denkens existieren, die unser Weltbild ignoriert.

Dieses andere Denken entfaltet sich in den Kosmologien und Wirklichkeitsvorstellungen jener Gesellschaften, die den Planeten schon seit mehr als einer Million Jahre bewohnt haben, in den gegenwärtigen Stammesgemeinschaften und jenen der Prähistorie, die sich bis in die Vergangenheit der dem modernen Menschen vorangegangenen Hominidenarten erstreckt. Es ist das Denken, nicht als Wort und Schrift, sondern als Gesten und Zeichen, Rufen und Duftspuren, in denen sich die Welterfahrung der anderen Wesen manifestiert, der Tiere und Pflanzen, die unser abstrakter Universalismus schon vor Jahrhunderten zu Sachen erklärt hat. Und es ist die Stimme des Lebens in uns selbst.13

»Anti-Narziss«


»Indigenialität« ist der Versuch, die ewig gleiche Nabelschau des abendländischen Denkens auszusetzen, in einer Geste des expliziten Wegblickens, des Von-uns-Absehens, des Uns-nicht-so-wichtig-Nehmens, des Wiedergefunden-Werdens im Blick der anderen. Es ist der Versuch, den Narzissmus der Intellektuellen zu suspendieren, der nichts Fremdes mehr zulässt, sondern immer nur Projektionen der eigenen kulturellen Erfahrungen erlaubt. Es ist eine Geste der Besitzergreifung, so emanzipatorisch sie auch daherkommen mag, wenn das Verbot aufgestellt wird, Erfahrungen fremder Völker als wirkliche Erfahrungen ernst zu nehmen und deren Weltbilder als mögliche Welten. Wir sind in unserem Universalismus gefangen. Alle anderen ernten schnell den höhnischen Vorwurf der Naivität, an eine Realität zu glauben. Schließlich sei doch alles Metaphorik, alles Sprachspiel in einer letztlich unerkennbaren Welt.

Anti-Narziss wollte der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro seinem jüngsten Buch Cannibal Metaphysics zuerst auf den Titel schreiben. Das ist ein Wortspiel mit dem berühmten Werk Anti-Ödipus des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytikers Félix Guattari. Darin suchten sie in den 1980er Jahren Auswege aus einem dominierenden Denken, das die Welt – und die Herzen – in Sachen und ihre Beherrscher aufteilt. Castros Titelidee ist somit eine Kritik an der Arroganz des westlichen (universitären, akademischen) Denkens, das gerade in seiner aufgeklärtesten Form, als Kulturkritik, zu durchschauen glaubt, dass alles, was wir als Wirklichkeit erfahren, Konventionen sind, Sprachspiele, psychische Prägungen – Illusionen mithin in einer Welt der stummen unbelebten Dinge.

Castro zieht einen Vorhang zurück. Er zeigt, dass unsere Skepsis, mit der wir jede vorgebliche intellektuelle Vereinnahmung der Welt kritisieren, die allerbrutalste Inbesitznahme ist: das Erbe eines unerbittlichen Kolonialismus der Herzen, der jedem, dem Abiturienten im Westen und noch dem entferntesten Eingeborenen im Amazonas-Regenwald, vorschreibt, was wir von der Wirklichkeit kennen können.

Aber diese Wirklichkeit ist zurück. Sie war in Wahrheit nie fort. Sie war aufgehoben in den Kosmen jener Menschen, die wie die Amazonas-Indianer, wie die Kung-San-Busch-Leute, wie die im Central Desert versprengten Aborigines Australiens die Erde und ihre Wesen als Bürgen der Realität wahrgenommen haben. Der Kontakt mit dieser Wirklichkeit, in der das menschliche Fühlen und der ökologische Austausch begründet sind, war auch für uns nie wirklich abgebrochen. Diese Wirklichkeit prägt die Tiefenvorgänge unseres Körpers und unserer Kognition, die schöpferischen Aufbauprozesse in einer Welt der...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7518-3017-0 / 3751830170
ISBN-13 978-3-7518-3017-1 / 9783751830171
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