Brennpunkt Kinderzimmer -  Judith Hintermeier

Brennpunkt Kinderzimmer (eBook)

Die gefährliche Entwicklung der Kleinsten
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
edition a (Verlag)
978-3-99001-731-9 (ISBN)
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Judith Hintermeier ist Elementarpädagogin und Gewerkschafterin. Schonungslos schildert sie in diesem Buch den Zustand der Kleinsten, die jetzt in den Kindergärten zum ersten Mal in ihrem Leben mit den pädagogischen Einrichtungen des Landes in Kontakt kommen. Viele von ihnen haben so psychische und kognitive Probleme, dass Hintermeier und ihre Kolleginnen und Kollegen sich fragen: Was ist los mit dieser neuen Generation? Was fu?r Erwachsene sollen aus diesen Kindern einmal werden? Wie soll mit ihnen ein Staat zu machen sein? Und wie sind sie noch zu retten?

Judith Hintermeier, geboren 1986, arbeitete 12 Jahre lang als Elementarpädagogin in einem Wiener Kindergarten, und zwar mit Begeisterung: »Kein Tag ist wie der andere, der Job ist abwechslungsreich, herausfordernd und wunderschön, weil wir etwas weitergeben«, sagt sie. 2019 wechselte sie zur Gewerkschaft younion, in der Hoffnung, etwas fu?r die Kinder und die Beschäftigten zu erreichen.

Kapitel 1


Die schreckliche Normalität des Wahnsinns


Stellen Sie sich vor, Sie müssen drei Kinder gleichzeitig für einen Herbstausflug fertig machen. Ehe das letzte Fettröllchen in gestreiften Strumpfhosen verschwunden ist, alle drei ihre bunten Pullover und ihre Matschhosen sowie die gelben Regenstiefel von Oma übergestreift haben, zieht sich das erste Kind schon wieder aus, weil es die Lust am Abenteuer verloren hat. Wenn dann doch endlich alle drei ihre Regenjacken mit den sternförmigen Reflektoren bis zum Kinn zugezogen haben, auf jedem der drei Köpfe eine Haube mit lustigem Bommel sitzt und die finale Spielzeugsammlung eingepackt ist, will ein Mädchen ein Käsebrot, weil es am Abend zuvor das Essen verweigert hat, und ein Junge muss aufs Klo. So kann ein kleiner Ausflug zu viert schnell zu einer großen Herausforderung werden. Wenn Sie selbst Kinder oder Enkelkinder haben, haben Sie das sicher schon erlebt.

Nun stellen Sie sich bitte das gleiche Szenario mit 25 Kindern vor und ja, das erfordert Schnelligkeit, Empathie, Durchsetzungsvermögen, Erfahrung, Geduld und eine gewisse Leidensfähigkeit, ist aber dennoch der ganz normale Wahnsinn im täglichen Berufsleben von Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen. Wir machen das, und wir machen es gerne, auch wenn es tatsächlich an die Leistungsgrenzen gehen kann. Die Kinder verdienen es, dass jemand für sie da ist und sich um sie kümmert. Ob sie gerade anstrengend sind oder nicht, darf dabei keine Rolle spielen.

Jetzt stellen Sie sich vor, unter diesen 25 Kindern wäre ein verhaltensauffälliges. Es versteht nicht richtig, was hier vorgeht. Es ist unzugänglich für die Idee Herbstausflug. Es würde lieber weiter in seiner Ecke in der Gruppe sitzen und vor sich hinstarren und fängt angesichts der nun aufkommenden Veränderung zu schreien an. Es schreit nicht, wie Kinder mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten eben schreien, weil sie ihren natürlichen negativen Emotionen wie Wut, Ärger und Ablehnung Ausdruck verleihen wollen, sondern es schreit wie am Spieß. Es ist nicht zu beruhigen. Es schreit hysterisch und ist untröstlich.

Auch damit können wir umgehen. Verhaltensauffällige Kinder hat es schon immer gegeben. Je nach Art der Verhaltensauffälligkeit haben wir Strategien, um auch sie zu managen, selbst in Stresssituationen wie bei einem Aufbruch. Wir können den Extra-Raum und die Extra-Aufmerksamkeit, die sie brauchen, eigentlich nicht erübrigen, schaffen es aber trotzdem irgendwie.

Jedes Mal, jeden Tag. Ein solches Kind läuft in der Dynamik der Gesamtgruppe gewissermaßen mit. Auch die anderen Kinder lassen sich davon nicht irritieren. Wir schaffen das. Gemeinsam.

Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, in dieser Gruppe von 25 Kindern gäbe es nicht nur ein solches Kind, sondern noch zwei weitere, die genauso auf den Aufbruch reagieren und noch einige andere mit anderen diagnostizierten oder nicht diagnostizierten Verhaltensauffälligkeiten sowie diversen Entwicklungsverzögerungen. Der Aufbruch verzögert sich. Die ersten angezogenen Kinder fangen unter ihren Hauben an zu schwitzen, während ein Junge, der nie gelernt hat, seine basalen Bedürfnisse auszudrücken, aufs Klo muss, und nun unversehens Urin von dem Windrad tropft, das im Topf des Gummibaumes im Gruppenraum steckt.

Noch bevor seine Aktion in den Mittelpunkt des Interesses rücken kann, brüllt ein anderer Junge eine gefährliche Drohung durch den Raum und seine sich überschlagende Stimme und sein kalkweißes, verzerrtes Gesicht vertreiben jeden Zweifel daran, dass er es ernst meint. »Ich hasse dich«, schreit er. »Ich bringe dich um!«

Ein hölzerner Sessel fliegt durch den Gruppenraum, der auf der Stirn eines Kindes eine blutige Wunde hinterlässt, während ein anderes Mädchen weint, bis es sich vor Erschöpfung übergibt, ehe es sich, sich selbst umklammernd, in den Schlaf zu wiegen versucht.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Pädagogin und wie ich, zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse, noch neu im Job. An Ihrem ersten Arbeitstag hat Ihnen Ihre Vorgesetzte wortlos eine Gruppe von 25 Kindern übergeben, die mit den engelsgleichen Wesen aus den elementarpädagogischen Lehrbüchern nicht das Geringste zu tun haben. Jetzt befinden Sie sich in der Mitte dieses Wahnsinns aus Schweiß, Urin, Blut, Tränen und Erbrochenem. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen erscheint Ihnen Ihre Aufgabe unerfüllbar. Sie sind selbst den Tränen nahe und würden am liebsten Ihren Mantel nehmen und die Gruppe sich selbst überlassen.

Sie fangen an, nachzudenken. Sie fragen sich, wie Sie auch nur einen weiteren Tag hier überstehen sollen. Denn Sie sind auf das Verhalten der Kinder vorbereitet, nicht aber auf ihre multiplen Verhaltensauffälligkeiten, die Sie hier vorgefunden haben und die einen nennenswerten Teil der Kinder weitgehend unkalkulierbar in ihren Reaktionen machen. Sie können sich nicht vorstellen, dass zunehmende Erfahrung die Situation wesentlich verbessern wird.

Denn der Wahnsinn, den Sie hier vorgefunden haben, ist im Wortsinn unfassbar. Er lässt sich kaum einordnen, nicht voraussehen und damit auch nicht managen. Es sei denn, es stünden für so eine Gruppe mindestens sieben Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen zur Verfügung.

Sie hadern mit dem Schicksal und entwickeln Verschwörungstheorien darüber, warum ausgerechnet Sie so eine Problemgruppe bekommen haben. Als Sie am Abend Ihres ersten Tages mit einer Kollegin sprechen, nickt sie verständnisvoll und bedauernd. »Der erste Arbeitstag ist immer hart. Die Neuen bekommen aber die leichteren Gruppen«, sagt sie. »Wir wollen sie nicht gleich komplett überfordern oder lass es mich anders ausdrücken: Dass wir sie überfordern, ist ohnedies klar, auch wir selbst gehen jeden Tag an unsere Grenzen. Aber wir wollen es ihnen so leicht wie möglich machen und versuchen, sie so gut es geht zu unterstützen.«

Sie begreifen es mit Schrecken: Der Wahnsinn scheint hier ganz normal zu sein.

Fragen über Fragen


Genauso ist es mir an meinem ersten Arbeitstag als Elementarpädagogin ergangen und genau das habe ich erfahren. Ich war nicht Teil einer Sozialstudie unter Extrembedingungen, bei der nicht informierte Probandinnen und Probanden am Ende zur Belohnung eine Reise nach Teneriffa bekommen. Es war kein Spuk, kein Albtraum, der auch wieder vorübergeht, um einer erträglichen Alltagsroutine Platz zu machen. Das hier war bereits der Alltag und die einzige Chance, die ich offenbar hatte, war zu lernen, mit täglichen Herausforderungen und Unvorhersehbarem umzugehen. Als ich noch zur Schule ging, gab es in einer Klasse ein übergewichtiges Kind, das es besonders schwer hatte. Jetzt gibt es viele übergewichtige und unsportliche Kinder, es ist leider normal geworden. Genauso ist das mit den Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsverzögerungen. »War es früher ein einzelnes verhaltensauffälliges Kind, sind es heute viele, und es werden von Jahr zu Jahr mehr«, sagte meine Kollegin zu mir.

Diese Gruppe, die meiner Einschätzung nach »abnormaler« kaum hätte sein können, war also in Wirklichkeit eine ganz »normale«. Ich konnte es kaum glauben und trotzdem war es die Realität. Fragen schwirrten mir durch den Kopf, Fragen, auf die mir meine langjährige Ausbildung keine Antworten mitgeliefert hatte. Fragen, die sich um die Ursachen dieser offensichtlichen Krise, die momentane Bewältigung und die zutiefst beunruhigende Zukunft drehten:

  • Was passiert mit unseren Kindern?
  • Woher kommen all diese Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen?
  • Warum, um Gottes Willen, werden es immer mehr? Was hat sich verändert?
  • Wie wird es sein, wenn diese Kinder erwachsen sind?
  • Wie wird sich das auf die Gesellschaft auswirken?
  • Welche Gesellschaft wird dabei entstehen?
  • Was ist verdammt nochmal zu tun, um diesen Wahnsinn zu stoppen?

Auf der Suche nach den Wurzeln


Ich selbst hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern haben mich von Anfang an unterstützt. Sie haben uns Geschwister nie miteinander verglichen und keinen Konkurrenzdruck zwischen uns aufgebaut. Mir standen alle Türen offen und ich konnte mich frei entscheiden, wie ich mein Leben gestalten wollte, das haben sie mir früh vermittelt. Ich hatte genug Freiheiten, genug Freundinnen und Freunde und genügend Freizeit – selbstverständlich auch Regeln. Vor allem hatte ich eine Mutter und einen Vater, an die ich mich immer mit meinen Problemen wenden konnte, und von denen ich wusste, dass sie immer gemeinsam mit mir nach Lösungen suchen würden.

Meine Eltern, die meine ausgeprägte soziale Ader erkannten, waren es auch, die mir statt des Besuches eines gewöhnlichen Gymnasiums bis zur Matura die Ausbildung zur Elementarpädagogin nahelegten. Wenige Jahre später hatte ich mein Maturazeugnis. Meine Ausbildung war abgeschlossen und ich hatte große Träume....

Erscheint lt. Verlag 9.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-99001-731-4 / 3990017314
ISBN-13 978-3-99001-731-9 / 9783990017319
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