Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität -  Uli Gierschner

Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität (eBook)

Band 1: Individuum und Gesellschaft im Fordismus
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2024 | 1. Auflage
594 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-4783-2 (ISBN)
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Die Entfremdung des Menschen von seinen Gefühlen lässt sich bis zum Beginn der Neuzeit zurückverfolgen; sie hat aber nach und infolge von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg durch die transgenerationale Weitergabe der Traumata und durch die ökonomische Entwicklung eine Dynamisierung erfahren und wird absehbar mit der Künstlichen Intelligenz im Digitalen Kapitalismus eine neue Qualität erreichen. Lässt sich der allgegenwärtigen Verblendung, dem "Kapitalistischen Realismus" (Mark Fisher), dem Weiter-so auf dem scheinbar alternativlosen Weg bis zum Abgrund überhaupt noch ideologiekritisch entgegenwirken?

Uli Gierschner, geboren 1959, ist Mitbegründer von attac Schwäbisch Hall und Gymnasiallehrer für Psychologie, Geschichte und ev. Religion im (Un-)Ruhestand und veröffentlichte während der Warnkatastrophe der Pandemie 2019 auf den "Nachdenkseiten" "Digitalisierung first - nachdenken später? Eine Streitschrift für eine humane Schule".

3 Im Diesseits der Verblendung


3.1 Die Aporie der totalen Entfremdung?

3.1.1 Das wechselseitige Geworden-Sein von Individuum und Gesellschaft

„Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Verhaltensweisen, die man als typisch für die abendländisch zivilisierten Menschen ansieht. Die Frage, die sie uns aufgegeben, ist einfach genug. Die Menschen des Abendlandes haben sich nicht von jeher in der Weise verhalten, die wir heute als typisch für sie und als Kennzeichen des ´zivilisierten` Menschen anzusehen pflegen. (…) Wie ging eigentlich diese Veränderung, diese `Zivilisation` im Abend-lande vor sich? Worin bestand sie? Und welches waren ihre Antriebe, ihre Ursachen oder Motoren? “ 43

So beginnt Norbert Elias` 1939 erstmals veröffentlichte Arbeit Über den Prozeß der Zivilisation. In seinem Werk radikalisierte Elias den soziologischen Blick, indem er zeigte, dass die Etablierung funktionierender Gewaltmonopole in den europäischen Nationalstaaten nicht bloß auf die Ausbildung effizienter Institutionen zurückzuführen war, sondern ebenso auf die gleichzeitig fortschreitende Verinnerlichung von Verhaltensnormen, die kontinuierliche Vewandlung von Fremdzwängen in Selbst-zwänge und die damit einhergehenden Veränderungen von Körperstrukturen. Die Vernachlässigung des Paradoxons der Gewaltkontrolle und dessen systematischer Effekte stellt den blinden Fleck der Elias´schen Analyse dar.44 Allzu schnell schließt er von der normativen und affektiven Abneigung gegen die Gewalt auf deren Rückgang. Damit wiederholt und bekräftigt seine Arbeit ein zentrales Motiv der Fortschrittserzählung der Moderne, nämlich den Mythos vom Verschwinden der Gewalt.

Demgegenüber ist zu betonen, dass für das Gewaltverhältnis der Moderne die Verbindung zweier widersprüchlicher Dynamiken charakteristisch ist: Die massive Delegitimierung und Skandalisierung von Gewalt geht Hand in Hand mit einer kontinuierlichen, bürokratisch und technologisch vorangetriebenen Steigerung staatlicher Gewaltpotentiale, die als Garanten genau dieser Werteordnung gelten 45 und – wie Zygmunt Bauman gezeigt hat – im 20. Jahrhundert im Holocaust kulminierten. Die weitgehende Zurückdrängung gewaltsamer Interaktionen aus dem Alltag verlangt die organisierte Herstellung von Gewaltpotentialen an eigens dafür vorgesehenen Orten. Somit ist die Moderne zwar tatsächlich normativ gewaltavers, aber empirisch alles andere als gewaltarm. Vielmehr führt die Delegitimierung und Ächtung der Gewalt dazu, dass sich die Bedingungen ändern, unter denen sie ausgeübt werden kann. Darüber hinaus erzeugt die Moderne Praktiken, die – wissend um die normative und affektive Gewaltaversion moderner Subjekte – darauf zielen, Gewalthandlungen dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen.46

Dennoch folgt aus der Infragestellung der in Elias´ Werk entfalteten zivilisationstheoretischen Thesen keineswegs der Schluss, dieses Buch könne heute beiseite gelegt werden. Im Gegenteil! Elias´ Ziel war es, eine Prozesssoziologie zu etablieren, die Individuum und Gesellschaft in ihrem wechselseitig bedingten Geworden-Sein untersuchen sollte. Moderne Subjekte und moderne Staaten, so könnte man die zentrale Einsicht des Werkes zusammenfassen, sind Produkte ein und desselben Prozesses. In der Diktion Hartmut Rosas lautet die zentrale Einsicht,

„dass Subjekt und Welt als trennbare Entitäten der Beziehung nicht vorausgehen, sondern gleichsam erst ´Beziehungsprodukte`sind (…).47

Elias´ prozess- und emotionssoziologische Reflexionen sind für das Nachdenken über Gewalt in der Gegenwart hochrelevant, besonders wenn man sie in den Horizont einer globalen Moderne stellt.48 Ist für Elias das Vermögen der Affektkontrolle und der strategischen Handlungsplanung essentieller Bestandteil des „Zivilisationsprozesses“, so machte Foucault später deutlich, wie sehr dieser Prozess das Ergebnis der Formung von Selbst-und Weltbeziehungen in Disziplinarinstitutionen war.

Das Ziel des Soziologen Elias Individuum und Gesellschaft in ihrem wechselseitig bedingten Geworden-Sein zu untersuchen, koinzidierte mit der Entwicklung innerhalb der Psychoanalyse. Abseits vom psychoanalytischen Mainstream hatte sich in den USA die Richtung der Interpersonalisten gebildet, wie sie von Erich Fromm, Karen Horney, Frieda Fromm-Reichmann, Clara Thompson und Harry Stuck Sullivan am White Institute der New York Universität vertreten wurde, die wiederum später die relationale und intersubjektive Psychoanalyse stark beeinflusst hat.49 In einem Brief an Karl August Wittfogel vom 18. Dezember 1936 schrieb Fromm:

„Gesellschaft und Individuum stehen sich nicht ´gegenüber´. Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben. Die Verschiedenheit der Produktions- und Lebensweise der verschiedenen Gesellschaften beziehungsweise Klassen führt zur Herausbildung verschiedener, für die Gesellschaft typischer Charakterstrukturen“.50

Es gibt also, bei aller individuellen Verschiedenheit, einen sozial typischen Charakter, Fromm nannte ihn bald darauf erstmals den Gesellschafts-Charakter. Damit bezeichnete er „den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder einer Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und der Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat.“51 In dem Prozess der Anpassung an die vorhandenen sozio-ökonomischen Bedingungen entwickelt ein Mensch jene Charakterzüge, dass er so handeln will, wie er soll, denn „der Gesellschafts-Charakter internalisiert äußere Notwendigkeiten und spannt auf diese Weise die menschliche Energie für die Aufgaben eines bestimmten ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ein.“52 Fromm baut mit seiner Formulierung des Gesellschaftscharakters auf Marx auf, stellt sich aber kritisch gegen die monokausalen Einflüsse der menschlichen Entfremdung. Der Gesellschaftscharakter nach Fromm definiert zusätzlich zu ökonomischen auch religiöse, politische, kulturelle und technologische Einflüsse und Veränderungen als bedeutsame Rahmenbedingungen für die charakterlichen Ausprägungen des Menschen. Die historische Entwicklung vom Protestantismus bis zur Philosophie Kants war für Fromm durch eine zunehmende Internalisierung von Autorität gekennzeichnet.53 Das eigene Gewissen ersetze zunehmend Anordnungen äußerer Autoritäten (von Kirche, Staat etc.). Häufig handele es sich dabei aber nicht um Forderungen des eigenen Selbst, sondern um gesellschaftliche Forderungen, die sich darin manifestieren. In den hochzivilisierten Gesellschaften tarne sich die Autorität

„als gesunder Menschenverstand, als Wissenschaft, als psychische Gesundheit, als Normalität oder als öffentliche Meinung. Sie verlangt nichts als das, was ´selbstverständlich` ist. Sie scheint keinen Druck auszuüben, sondern nur sanft überreden zu wollen (…). Die anonyme Autorität ist deshalb noch wirksamer als die offene Autorität, weil einem erst gar nicht der Verdacht kommt, dass da ein Befehl gegeben wird, den man zu befolgen hat. (…) [S]owohl der Befehl als auch die Instanz, die ihn erteilt, [ist] unsichtbar geworden. (…) Da ist niemand und nichts, wogegen man sich wehren könnte.“54

So funktionierten die Bürokratien und die Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts sehr viel effizienter als mit Druck: indem sie die Dinge und Menschen auf die gleiche Weise verwalteten und damit den Menschen zum Ding erniedrigen würden. Es ist evident, dass diese Analyse im Hinblick auf das anhebende Zeitalter der künstlichen Intelligenz von hoher Relevanz ist. Besonders bedauerlich fand es Fromm, dass viele Psychiater und Psychoanalytiker sich in den Dienst dieses Konformismus gestellt hätten und Menschen nur noch zu einer scheinbaren Normalität zu manipulieren trachteten.55

Die Unterdrückung der eigenen Spontanität beginne schon im Kindesalter. Die Struktur, Dynamik und sozialen Züge einer Familie entwickeln sich aufgrund der Anforderungen der Gesellschaft, die sie zu einem bestimmten Maß an Anpassung zwingt.56 Die Kinder würden dazu erzogen so zu funktionieren, dass die Erzogenen unter den bestehenden Bedingungen erfolgreich sein könnten, auch wenn dies ihre Persönlichkeit und ihr Glück beschädige. Die Unterdrückung von Gefühlen überhaupt, die abgekoppelt von der Welt der Rationalität existieren sollen, führe zu einem Absterben kreativen Denkens, welches immer an Emotionen gebunden sei.

„Von Anfang an läuft unsere Erziehung darauf hinaus, das Kind am selbstständigen Denken zu hindern und ihm fertige Gedanken in den Kopf zu setzen. Wie man das bei Kleinkindern bewerkstelligt, ist einfach zu beobachten (…). [Man nimmt sie] nicht ernst, wobei es keinen Unterschied macht, ob diese Einstellung sich als offene Missachtung oder als subtile Herablassung äußert,...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7583-4783-1 / 3758347831
ISBN-13 978-3-7583-4783-2 / 9783758347832
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