Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche (eBook)
210 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8047-6 (ISBN)
Prof. Dr. Gisela Jakob arbeitet und forscht seit langem zum Thema bürgerschaftliches und freiwilliges Engagement und Zivilgesellschaft und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu verschiedenen Aspekten des Themas vorgelegt. Außerdem hat sie im letzten Jahr ein Forschungsprojekt zum Thema 'Patenschaften im Übergang Schule-Ausbildung' abgeschlossen. Bernd Schüler ist ein ausgewiesener Experte zum Thema Patenschaften und Mentoring, der die nationale und internationale Diskussion sehr gut kennt, u.a. den European Mentoring Summit 2018 in Berlin mit organisiert und vielfach zum Thema veröffentlicht hat. Außerdem ist er Mitgründer eines seit langem bestehenden Patenschaftsprojektes für Kinder (biffy) und des Berliner Netzwerkes für Kinderpatenschaften.
Impulse aus der dritten Zone: Patenschaften und Mentoring als notwendige Unterstützung bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben junger Menschen
Klaus Hurrelmann
Das Interview mit Klaus Hurrelmann führten die Herausgeber:innen Gisela Jakob und Bernd Schüler im April 2023.
Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche erfahren seit einigen Jahren eine deutliche Aufwertung. Viele neue Projekte und Initiativen sind entstanden, die auch viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Wie erklären Sie sich diesen Boom?
Klaus Hurrelmann: Ja, das ist in der Tat sehr interessant und sehr auffällig. Für mich zeigt sich darin eine starke zivilgesellschaftliche Orientierung. Offensichtlich merken viele Menschen: So wertvoll professionelle Unterstützung ist, so hat sie doch auch Grenzen. Die Vorteile einer gesellschaftlich organisierten und professionalisierten Bildung und Erziehung liegen auf der Hand. Sobald wir aber davon absehen, was zu den zentralen Aufgaben von Kitas und Schulen gehört, müssen wir feststellen: Vieles, was junge Menschen heute brauchen, können die formellen professionellen Rollen allein nicht bedienen. Deshalb springen andere Personen ein, die informell unterstützen. Sie ergänzen, was Erzieherinnen, Erzieher, Lehrkräfte und andere formell nicht leisten können.
Viele Menschen sind intuitiv vom Mentoringansatz überzeugt. Aufgabe von Wissenschaft ist, Gründe zu nennen, woher die Potenziale von Mentoring kommen. Als Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler können Sie bestimmt Theorien anführen, die da Erkenntnisse liefern.
Wer die Wirksamkeit von Mentoring erklären will, kann sich auf eine breite Fülle von Ansätzen berufen. Um bei den vielen Theorien nicht die Übersicht zu verlieren, habe ich sie in das Konzept einer interdisziplinären Sozialisationstheorie einbezogen. Mir erscheint diese hier besonders günstig, weil sie eine Metatheorie darstellt, die sozusagen ein Sammelbecken von Theorien bildet. Das umfasst etwa diverse Ansätze aus der Entwicklungs- oder Persönlichkeitspsychologie, wird ergänzt durch unterschiedliche soziologische Theorien und Traditionen und reicht bis hin zu pädagogischen, biologischen und neurologischen Ansätzen, die sich alle mit der Entwicklung von Menschen in verschiedenen Lebensphasen beschäftigen.
All diese Zugänge habe ich versucht in dem metatheoretischen Modell der produktiven Realitätsverarbeitung zu sortieren und zu strukturieren. Seine Kernannahme lautet: Die Entwicklung der Persönlichkeit ist eine lebenslange, aktive und produktive Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität.
Bevor ich darstelle, was das mit Mentoring zu tun hat, muss ich noch etwas, stark vereinfacht, erläutern, was dieses Modell genauer annimmt. Stichwort innere Realität: Bestehend aus meiner körperlichen und psychischen Disposition, muss ich mich ein Leben lang damit auseinandersetzen. Dazu gehört auch, innerlich zu verarbeiten, was um mich herum passiert. Zu dieser meiner äußeren Realität gehört die soziale Umwelt, etwa die Familie, in die ich hineingeboren werde, oder die sozialen Institutionen wie Schulen, mit denen ich zu tun habe, und die räumlichen Bedingungen. Hinzu kommt die Ökowelt, etwa die klimatischen Bedingungen.
Das Modell sagt nun: Ständig sind Menschen damit beschäftigt, an ihrer eigenen Person zu arbeiten, an ihrem besonderen Arrangement zwischen Körper und Psyche und zwischen sozialen und ökologischen Bedingungen. Dabei müssen sie mehrere alterstypische Entwicklungsaufgaben bewältigen, die sich durch die Veränderungen von Körper und Psyche ebenso wie die ihrer sozialen und ökologischen Umwelt ergeben. Es lassen sich vier große Bereiche von Entwicklungsaufgaben unterscheiden.
Da ist erstens der Bereich des Bildens und Qualifizierens, verbunden mit der Aufgabe, lern- und leistungsfähig zu sein, auch einen Beruf zu ergreifen. Die zweite große Dimension bezieht sich auf das Binden, auf die Frage, wie ich soziale Beziehungen aufbauen und darin meine Persönlichkeit entwickeln kann. Als dritter Bereich wird das Konsumieren verstanden, das Wirtschaften, der Einsatz der eigenen Ressourcen, auch der Aufmerksamkeit, weshalb hier der Umgang mit Medien dazugehört. Und ein vierter Bereich betrifft das Partizipieren: Wie bin ich, ausgehend von eigenen Wertorientierungen, fähig, mich mit meiner Umwelt sozial und politisch auseinanderzusetzen und diese aktiv mitzugestalten?
Wer sich diese Aufgaben vergegenwärtigt, wird nun zunächst feststellen: Jeder Mensch wird in jedem Alter und in jeder Entwicklungsphase immer wieder neu herausgefordert, aktiv ein Verhältnis von Körper und Psyche und ein Verhältnis zu sozialer und physischer Umwelt zu arrangieren. Wie das gelingt, ist weder allein vollständig genetisch noch allein vollständig gesellschaftlich bedingt. Es ist ein dynamischer Prozess, mit vielen Wechselwirkungen zwischen genetischen Dispositionen und Einflüssen der Umwelt. Und es ist ein anspruchsvoller Prozess, bei dem man auf Schwierigkeiten stößt. Gerade als junger Menschen kann ich dabei blockiert sein oder werden. Wenn es nicht gelingt, Aufgaben zu bewältigen, braucht man Unterstützung und Hilfe. Und hier sollte auch die Konzeption von Mentoring anschließen. Mir scheint es sinnvoll, aus dem skizzierten Modell die Anforderungen abzuleiten, die eine Person in der Rolle einer Mentorin, eines Mentors oder in einer Patenschaft zu erfüllen hat.
Können Sie das noch näher beleuchten, etwa für den Bereich des Qualifizierens? Welche besondere Formen der Unterstützung könnten Mentorinnen und Mentoren hier einbringen?
Vergegenwärtigen wir zunächst nochmal, was mit Qualifizieren gemeint ist. Es geht darum, sich kognitiv zu bilden, fachliche Qualifikationen zu erwerben, verschiedene Disziplinen zu beherrschen, ihre Logiken zu verstehen – und das alles so zu entwickeln, dass am Ende eine komplexe Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit entsteht, die mich auch beruflich wirksam sein lässt.
Um dies alles zu erwerben, braucht es in unserer modernen Welt professionelle Unterstützungspersonen, allem voran Erzieherinnen und später Lehrkräfte und Ausbilder. Eine typische deutsche Tradition ist es, die Schule hauptsächlich auf die Auseinandersetzung mit der Entwicklungsaufgabe des Bildens und Qualifizierens auszurichten und dafür professionell ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer anzustellen. Wenn wir die veränderten Herausforderungen betrachten, wird immer deutlicher, dass diese Ausrichtung nicht mehr ausreichend und angemessen ist. Schließlich finden Lernprozesse nicht in einem Vakuum statt, sondern sie sind eingebettet in die anderen skizzierten Bereiche. Wie ich mich bilden und qualifizieren kann, hängt auch davon ab, wie ich sozial verbunden bin, wie ich mit Medien umgehe, welche Rahmenbedingungen ich habe etc. Die gesamte soziale Einbindung prägt mit, wie ich lernen kann, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, und wie ich dabei unterstützt werde. Die Nebenwirkungen der Coronapandemie haben uns dies übrigens besonders nachdrücklich vor Augen geführt.
Die Aufgabe Bildung hat also immer auch soziale, psychische, gesundheitliche, emotionale Dimensionen etc. Wie viel und wie gut junge Menschen lernen, kann deshalb von der professionellen Lehrkraft nur teilweise arrangiert werden. Jahrzehntelang haben wir im schulischen Bereich gezögert, inzwischen reagieren wir auf diese Einsicht, indem wir hier jetzt mehr Fachleute aus Sozialarbeit, Sozialpädagogik oder Schulpsychologie integrieren.
Allerdings stoßen wir auch hier wieder an Grenzen. Zwar haben wir jetzt weitere Fachleute herangeholt, die die anderen Dimensionen unterstützen, die für den kognitiven Lernprozess wichtig sind. Doch drängt sich die Erkenntnis auf: Auch noch so viel unterschiedliche Expertinnen und Experten können allein nicht die Bedingungen herstellen, unter denen junge Menschen sich am besten bilden und qualifizieren können. Neben den Fachkräften für die einzelnen Wissensbereiche, für Didaktik, für Sozialpädagogik und Psychologie etc. braucht es offenbar zudem...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8047-9 / 3779980479 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8047-6 / 9783779980476 |
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Größe: 601 KB
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