untertan - Von braven und rebellischen Lemmingen -  Solmaz Khorsand

untertan - Von braven und rebellischen Lemmingen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Leykam Buchverlag
978-3-7011-8339-5 (ISBN)
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Menschen können auf drei Arten überleben: sie können sich anpassen, sich wehren - und alles dazwischen   Wir alle sind Opportunist*innen. Wir laufen mit, ob aus Bequemlichkeit, Angst oder Kalkül. Am Ende schieben wir es auf die Gruppe, die Umstände oder ein System und behaupten, dass wir nicht anders können. Dass wir zum Mitlaufen gezwungen waren. Mit provokanter Ehrlichkeit analysiert Solmaz Khorsand das Spektrum der unterschiedlichen Lemminge. Sie zeigt, wie ihr Verhalten einerseits die Grundlage von Genoziden sein, andererseits aber auch als ein Akt der Rebellion verstanden werden kann. Dafür zieht sie Beispiele aus der Wissenschaft, der Literatur und Kulturgeschichte ebenso heran wie aktuelle politische Ereignisse und interviewt, z. B., einen Masochisten, der sich als Sklave begreift, eine Unternehmensberaterin, eine Supermarktkassiererin oder eine Überlebende des Genozids von Srebrenica.   Ihr Zugang: Es gibt sie zwar an jeder Ecke, die stumpfsinnigen Befehlsempfänger*innen im Alltag, vor allem am Arbeitsplatz, aber es wäre fanatisch hinter jeder Anpassung gleich eine totalitäre Ideologie zu vermuten. Solmaz Khorsand schaut in diesem Buch dorthin, wo es weh tut, hält uns den Spiegel vor - und bietet ein gewagtes Exit-Szenario, um aus dem Lemmingdasein auszubrechen.   Eine umfassende Betrachtung des Opportunismus in all seinen Facetten.

Solmaz Khorsand, geboren 1985, ist Journalistin, Podcasterin, Moderatorin und Buchautorin. Berufliche Stationen u.a bei der Wiener Zeitung, Die Zeit, derStandard.at, Datum und Republik. Khorsands Arbeiten reichen von Essays zur österreichischen Innenpolitik über Reportagen aus Weißrussland bis hin zu Wahlberichterstattung aus dem Iran. Ihr Essay »Die iranische Verwandlung« zählte zu den besten Storys des Jahres 2017. Für ihre Arbeit wurde sie u. a. mit dem Wiener Journalistinnenpreis 2018 ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Buch »Pathos« (Kremayr & Scheriau 2021).

I


Die oberste Prämisse


Und alle lachen. Jungen wie Mädchen. Alle lachen über die dummen Sprüche des Oberarschs. Und in allen Schulen gibt es einen Oberarsch, der den anderen erklärt, wie es zu laufen hat. Und seinen engsten Kreis, der darauf wartet, dass er jemanden in die Mangel nimmt. Und sein Publikum – alle Kinder, die es mitkriegen und sich amüsieren.

Darauf lässt sich alles zurückführen.

Aus Virginie Despentes, »Liebes Arschloch«1

Dieser »Oberarsch« ist omnipräsent. Wir kennen ihn alle. Aus der Kindheit, der Pubertät, als Erwachsene. Um ihn kreisen die Debatten unserer Zeit, egal ob als Bully in der Schule, in der Politik, in Unternehmen, in der Zivilgesellschaft, am Familientisch. Irgendwo unterdrückt immer irgendwer irgendwen, manipuliert, intrigiert und verführt vermeintlich unbeteiligte Dritte. Und diese Verführten sind am Ende höchstens Opfer, werden nie zur Verantwortung gezogen – waren »nur« mit dabei, Ja-Sager und Mit-Nickerinnen. Über ihr Verhalten haben sich Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen seit Jahrhunderten den Kopf zerbrochen. Warum Tyrannen gewähren lassen? Ihnen gar dienen? Ist es Zwang oder schon Lust?

Letzteres.

Das würde der französische Richter Étienne de La Boétie behaupten. Seine Anklageschrift »Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen«, verfasst im 16. Jahrhundert, dient vielen auch heute noch als Orientierung in dieser Frage. Darin widmet er sich genau dem Menschenschlag, der die Tyrannei ermöglicht: den Unterdrückten, die in ihre Unterdrückung einwilligen. Sie sind der Garant jedes Tyrannen. Ihr Einverständnis, sich beherrschen zu lassen, ermöglicht erst seine Herrschaft. Warum sie das tun? Weil sie sich an ihre Knechtschaft gewöhnt und ihre Freiheit vergessen haben, »das Gift der Sklaverei schlucken und nicht mehr bitter finden«.2 Einige lassen sich einlullen von Brot und Spielen. Andere profitieren von der Nähe zur Macht und stützen ihrerseits als Mikro-Tyranninnen das System und sichern so einmal mehr seinen Fortbestand. Den Ursprung für diesen »hartnäckigen Willen zur Botmäßigkeit«, der stärker im Menschen verwurzelt zu sein scheint als »die Freiheitsliebe«, sieht de La Boétie in der ersten Beziehung, die wir mit unseren Mitmenschen eingehen: jene mit unseren Eltern. Diese Beziehung ist seiner Ansicht nach geprägt von Gehorsam. Der Autorität unserer Eltern beugen wir uns, um zu überleben. Darauf lässt sich jedes zukünftige Unterwerfungsgebaren zurückführen. Ein Gedanke, der über die Jahrhunderte hinweg oft als Erklärung für den »Unterwerfungstrieb«3 der Menschen herangezogen wurde. Seine Anfälligkeit dafür, sich unterzuordnen, zu gehorchen, ist in diesem ersten Verhältnis begründet, in der »Untertänigkeit«4 gegenüber den Eltern, dem ersten Ausgeliefertsein gegenüber einer höheren Macht.

Die französische Philosophin Simone de Beauvoir fasst diese Ur-Unterwürfigkeit als »erste Bedingung des Individuums«5 noch etwas weiter. Als Kind würde man in eine Welt hineingeboren werden, mit all ihren Werten, Autoritäten und Bedeutungen, die ohne das eigene Zutun geformt wurde. Sie wird als etwas Absolutes gesehen, dem das Kind »nur Achtung zollen und gehorchen darf«.6 Es ist abhängig von dieser fremd geschaffenen Welt und ist gezwungen, sich ihr anzupassen.7 Erst in der Pubertät beginnt sich der Mensch aus dieser Abhängigkeit zu lösen und zu befreien. Doch wer sich für die Freiheit entscheidet, entscheidet sich auch für das Ungewisse, das Risiko, die schiere Existenzangst. Sie hat ihren Preis.8 Und für manche könnte er so hoch sein, dass sie es lieber ganz bleiben lassen. Dass sie es bevorzugen, zu regressieren, wieder metaphorisch zu Kindern zu werden und »nur« jene Kosten zu tragen, die es ihnen damals erlaubten, frei von jeglichen Ängsten ihre Existenz zu fristen: Gehorsam und Abhängigkeit. Besser im Bekannten angepasst zu verharren, als das Unbekannte zu wagen.9

Nicht umsonst ist die Revolte in der Menschheitsgeschichte eher die Ausnahme als die Regel, wie Howard Zinn in seinem Essay »Disobedience and Democracy: Nine Fallacies on Law and Order« anführt: »Wir haben unendlich viel mehr Beispiele für die Duldung von Ausbeutung und Unterwerfung unter eine Autorität als Beispiele für den Aufstand.«10 Daher klingt Étienne de La Boéties Appell »Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei!« eher nach einem frommen Wunsch als einer realen Möglichkeit, sind doch die Hürden seit Kindheitstagen so unüberwindbar hoch angelegt, dass wir diese Freiheit erst gar nicht anzustreben bereit sind.

Die Angepasstheit oder gar die Unterwerfung als dem Menschen inhärent anzusehen, als etwas, dem niemand entkommen kann, gefällt den Wenigsten. Es kann höchstens eine zu akzeptierende Peinlichkeit sein, mit der man ungern in offizieller Ehe lebt, eher in der geheimen Affäre. Selten hört man jemanden sagen: Da habe ich mich gegen meine Freiheit entschieden, bin mitgelaufen aus freien Stücken, war eine Knechtin, war ein Lemming. Daher ist es umso bestechender, wenn sich dann doch mal wer dazu bekennt. Und das vor laufender Kamera. So wie Angela Merkel.

In einem Fernsehinterview 1991 wird die 37-jährige Merkel, damals Frauenministerin unter Helmut Kohl, von Moderator Günter Gaus auf ihr Statement »Anpassung ist das Menschenrecht der Schwachen« angesprochen. Er will wissen, wie es mit ihrer eigenen, ganz persönlichen Anpassung ausgesehen hat, und was sie, die in der DDR aufgewachsen war und dem kommunistischen Jugendverband der Freien Deutschen Jugend angehörte, dazu zu sagen hat. Spaß habe ihr die Zeit damals in der Partei gemacht, wenn nicht politisiert wurde, aber »ansonsten war es 70 Prozent Opportunismus natürlich«.11 Natürlich. Ohne Scham gibt Merkel das zu. Bestimmte Formen der Anpassung hat sie gewählt, um jenen Weg gehen zu können, den sie sich vorgestellt hatte. »Ich halte Anpassung für eine lebensnotwendige Sache und keinen Makel«,12 sagt Merkel in dem Interview. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sei die Anpassung in diesem für sie neuen Deutschland selbstverständlich Teil ihres Lebens gewesen, »auf eine andere Weise, aber auch Anpassung an bestimmte Verhältnisse«.13

Da sitzt keine, die gegen den Strom geschwommen ist, die damit kokettiert, aufbegehrt zu haben, die damit angibt, sich aus irgendeiner Abhängigkeit gelöst zu haben. Nein, Angela Merkel hat sich angepasst, weil das nun einmal das ist, was die meisten tun. Unter bestimmten Umständen tun müssen. Oder glauben, tun zu müssen. Und manche tun es sogar aus purer Lust.

Der unbedingte Wille zu dienen


Thomas trägt seine Unterwerfung sichtbar am Hals. Auf einem schwarzen Lederband stehen die Initialen S und T. Sklave Thomas. Dazwischen ein Ring, um ihn bei Bedarf an die Leine zu nehmen und hinter sich herzuziehen. Thomas, schwarze Lederhose, schwarzes T-Shirt, spärliches Haar, schmal gebaut, ist Masochist. Die Hälfte der Zeit arbeitet er als Broker, die andere Hälfte ist der 65-Jährige ein Sklave. Seit 30 Jahren. Für mehrere Frauen in unterschiedlichen Studios, die seiner sexuellen Präferenz einen Raum bieten. Zum Zeitpunkt des Gesprächs 2018 war er im »Femdom« in Regensburg, einem Ort knapp 20 Minuten mit dem Zug vom Züricher Hauptbahnhof entfernt, bei »Herrin Ariadne« im Dienst. Der »Femdom« bezeichnet sich als das größte Domina-Studio der Schweiz. Auf 350 Quadratmetern lassen sich die Kunden hier peitschen, melken, mit Nadeln in den Hodensack stechen oder eine Nacht lang in die Isolationszelle sperren, mit Pritschen und Stahlfesseln, überwacht von einer Infrarotkamera. Für die meisten ist es ein Spiel, ein Zeitvertreib, eine Dienstleistung, bei der sie selbst allerdings die Regeln vorgeben und für viel Geld fordern, was andere ihnen antun sollen.

»Was soll das mit Herrschaft, mit Dominanz, mit Unterwerfung zu tun haben?«, kritisiert Thomas. Das interessiert ihn nicht. Er ist kein normaler Kunde. Er ist Sklave. Und als solcher will er auch behandelt und »als das, was ich bin, gesehen« werden. Dafür putzt er im Studio, übernimmt alle Aufgaben, die ihm die Frauen auftragen, lässt sich herumkommandieren, holt bei Bedarf auch Journalistinnen vom Bahnhof ab. Alles, was die Herrinnen von ihm verlangen. Ohne Entlohnung. Wie ein Sklave eben. Das Halsband mit den Initialen trägt er nun seit 15 Jahren.

»Masochismus ersetzt das Begehren des Weiblichen durch die Anbetung des Weiblichen«, erklärt er. Er zeigt auf seinem Smartphone ein Foto, um zu konkretisieren, was er damit meint. Zu sehen ist eine wunderschön geschminkte...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7011-8339-2 / 3701183392
ISBN-13 978-3-7011-8339-5 / 9783701183395
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