Sozialpädagogik und ihre Didaktik (eBook)
358 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8134-3 (ISBN)
Manuela Liebig, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Sozialpädagogik einschließlich ihrer Didaktik an der TU Dresden. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Didaktik der Sozialpädagogik, Ausbildung von Lehrenden für berufsbildende Schulen/BFR Sozialpädagogik sowie Frühkindliche Bildung. Marcel Schweder, Jg. 1977, Dr.?phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Bautechnik, Holztechnik sowie Farbtechnik und Raumgestaltung/Berufliche Didaktik der TU Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind berufliche Didaktik, berufliche Lehrer*innenbildung, Bildung/Erziehung im Jugendstrafvollzug sowie systemtheoretisch informierte Analysen.
Lebensweltorientierung revisited
Akzentuierungen im Konzept und einige Bemerkungen aus Anlass der Corona-Pandemie
Hans und Renate Thiersch
Im Jahre 2020 erschien eine breiter angelegte Darstellung des Konzepts Lebensweltorientierung von Hans Thiersch. Renate Thiersch führte mit ihm im März 2021 ein Gespräch darüber, warum es ihm wichtig war, das Konzept noch einmal zu beschreiben und was ihm dabei besonders am Herzen lag.
Renate: „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited“ heißt das Buch, in dem Du das Konzept Lebensweltorientierung noch einmal darstellst. Ist denn zur Lebensweltorientierung in den letzten 30 Jahren nicht schon alles gesagt worden? Ist das Konzept seit dem Achten Jugendbericht nicht schon in unterschiedlichen Formaten und in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen zureichend dargestellt worden? Warum dachtest Du, dass es sinnvoll sei, das Konzept Lebensweltorientierung und die Ausformungen einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit noch einmal darzustellen?
Hans: Ja, in der Tat gibt es schon ziemlich viele Darstellungen des Konzepts und in den letzten Jahren hat es sich ergeben, dass ich – zusammen mit unterschiedlichen Partner:innen – das Konzept in seinen Grundzügen immer wieder neu zusammengefasst habe. Aber diese Darstellungen waren aufgrund der vorgegebenen Formate immer eher knapp und gedrängt. Gleichzeitig habe ich in den letzten Jahren am Konzept weitergearbeitet, dabei haben sich Differenzierungen und Erweiterungen ergeben, für die ich mehr Platz brauchte.
Renate: Nun hast Du diese Darstellung ja aber doch noch einmal eher systematisierend angelegt, darin – so scheint es mir – sind die neuen Akzentuierungen und Erweiterungen in die Grundmuster des Konzepts gleichsam eingebaut und deshalb als Neuerung vielleicht nicht so deutlich geworden, wie Du sie gemeint hast. Deshalb müsste man – und jetzt vielleicht aus dem Abstand zu dem abgeschlossenen Buch – skizzieren, wo für Dich innerhalb des Ganzen die Weiterführungen im Konzept liegen.
Hans: Gern, ich denke auch, dass es gut ist, innerhalb des Ganzen das Neue noch einmal besonders herauszuheben. Die neuen Akzentuierungen sind Ergebnisse der Auseinandersetzung mit den Kritiken am Konzept, sie sind aber auch Ergebnisse des Nachdenkens und meiner Arbeits- und Lebenserfahrungen der letzten Jahre. Sie verfolgen zwei Interessen: Zum einen schien es mir notwendig, einige der Grundannahmen des Konzepts nach einmal zu verdeutlichen, zum anderen wollte ich Herausforderungen, die die Veränderungen der Verhältnisse in der Zweiten Moderne mit sich gebracht haben, deutlich markieren. Ich wollte darstellen, dass das Konzept Lebensweltorientierung gegebene Probleme in der Zweiten Moderne aufschließen und für das Handeln der Sozialen Arbeit relevant sein kann.
Renate: Ja, aber was meinst Du im Konkreten?
Hans: In Bezug auf die Darstellung der Lebenswelt und den für sie konstitutiven Zusammenhang von Lebenslagen und Bewältigungsmustern, von allgemeinen Strukturen und Alltagsverhältnissen – für den Zusammenhang also von Hinterbühne und Vorderbühne, wie ich es immer bezeichnet habe – schien es mir wichtig, auch die Hinterbühne der gleichsam existenziellen Rahmenbedingungen der alltäglichen Lebensverhältnisse deutlich zu machen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Machtstrukturen, die herrschenden Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen, die Verhältnisse von Arm und Reich, aber auch die Verhältnisse von genderbedingten Differenzen und die von Interkulturalität und allgemeiner von Diversität werden ja zunehmend breit und differenziert und auch in meinen bisherigen Texten dargestellt. Daneben scheint es mir sinnvoll, daran zu erinnern, dass das menschliche Leben hinter und in all diesen Strukturen durch die menschliche Grundsituation bedingt ist, also – etwas pathetisch und mit Erich Fromm gesagt – durch das Leben des Menschen in der Zeit und in einer Welt, die menschliches Verstehen übersteigt, und durch das Faktum, dass der Mensch sich im prinzipiell nicht Verstehbaren arrangieren muss, dass er – mit Heidegger geredet – ins Leben geworfen ist. Diese Situation – vielleicht zusammengefasst in dem alten Spruch: „Ich weiß nicht, woher ich komme, ich weiß nicht, wohin ich gehe, mich wundert’s, dass ich fröhlich bin!“ – gibt dem Alltag und seinen Bewältigungsmustern eine besondere Bedeutung. Der Alltag, die Welt des sozialen Umgangs in Zeit und Raum werden wichtig; Menschen bilden Routinen, auf die sie sich verlassen können, sie trauen einer Pragmatik, in der es um das Überstehen in der Situation geht. Alltäglichkeit ist – so gesehen – wie der Ritt auf dem Eis über den Bodensee, ist ein Versuch, zu bestehen und voranzukommen, ohne sich von den Abgründen, über die und in denen man sich bewegt, irritieren zu lassen. Schon Alfred Schütz (Schütz/Luckmann 1979) hat dies betont und es scheint mir wichtig, dies aufzunehmen. – Die Konstellation, im Offenen Sicherheiten zu suchen, Sicherheiten riskieren zu müssen, ist die generelle Struktur in menschlichen Begegnungen; sie wird besonders deutlich in Situationen der Hilfe und Unterstützung, in denen die eine sich trauen muss, dem anderen Vorschläge und Hinweise zu geben, in denen sie sich in das Leben des anderen einmischt und darin doch um die Schwierigkeiten und Risiken solcher Einmischung weiß. In der Sozialen Arbeit wird diese Konstellation in Grenzsituationen im Umgang mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod, aber generell mit dem vierten Alter und seinen Verlusten immer wieder besonders drastisch. Es geht um das Wissen, dass alle Sicherheiten vorläufig sind, Sicherheiten auf Probe, in denen die Anstrengung um Sicherheiten das Wissen um die Unsicherheit nicht verdrängen darf.
Renate: Verstehe ich es richtig, dann wird dieses gleichsam existenzielle Moment auch gerade in den Corona-Diskussionen, in denen ja vieles der allgemeinen gesellschaftlichen Situation wie in einem Brennspiegel deutlich wird, noch einmal offenkundig: Die Corona-Pandemie hat ganz plötzlich auf der Hinterbühne Veränderungen erzeugt, aus denen sich Veränderungen auf der Vorderbühne, also in unserem Alltagsleben ergeben, und zwar in einem bis dahin nicht gedachten Ausmaß. Die Signale sind allerdings uneindeutig, die Situation ist prinzipiell ungewiss, so sehr und vielfältig sich die Experten um Klärungen bemühen. Das Handeln verlangt immer wieder die Neubestimmung von Prioritäten unter den Bedingungen von Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Können. Es ist ein Handeln in der Unmittelbarkeit der jetzt gegebenen Herausforderungen, das sich nicht in verbindliche Perspektiven einordnen lässt. Es bräuchte neue Routinen, die aber immer wieder den Gegebenheiten (z. B. neuen Mutanten) neu angepasst werden müssten; es bräuchte den Mut zu einer Pragmatik, der jedoch oft in den Notwendigkeiten von Rechtsvorschriften und Verwaltungssicherheiten schwer zu verantworten und durchzuhalten ist.
Hans: Ja, dem ist so. Auch mir scheint es so, dass viele Aspekte der Corona-Situation sich mit Kategorien der Lebensweltorientierung gut fassen lassen. Aber das konnte ich in meinem Buch noch nicht berücksichtigen; das Manuskript wurde ja Ende Februar 2020 abgeschlossen, als noch nicht zu erkennen war, was kommen würde. Ich möchte das deshalb so stehen lassen und auf das Buch und andere Momente in der Darstellung der alltäglichen Lebenswelt zu sprechen kommen, die mir wichtig sind.
Zum einen habe ich die verschiedenen Dimensionen der Alltagserfahrungen und des Alltagshandelns unter dem Titel eines Alphabets der Alltäglichkeit zusammengefasst, um deutlich zu machen, dass dies ein in sich konsistentes Gefüge von Erfahrungs- und Handlungsmustern ist, das man als solches kennen muss, um in der Vielfältigkeit des konkreten Alltags nicht unterzugehen. In den verschiedenen Lebenswelten von Familien oder Arbeitsverhältnissen bilden sich dann jeweils für das Lebensfeld aus den Grundmustern der Bewältigung die konkreten Verständigungs- und Handlungsmuster. – Zum anderen ist mir deutlich geworden, dass die Frage nach alltäglichen Lebenswelten sich für Menschen nicht nur im Nebeneinander der Vielfältigkeit unterschiedlicher Konstellationen zeigt, sondern immer auch in ihrer spezifischen Bedeutung im Kontext ihres Lebenslaufs, ihrer Biografie. Die Frage also nach der Geschichte des Menschen in der Biografie,...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8134-3 / 3779981343 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8134-3 / 9783779981343 |
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