Südkoreas Pfad zur Demokratie

Modernisierung, Protest, Regimewechsel

(Autor)

Buch | Softcover
305 Seiten
2023 | 2. Auflage
Campus (Verlag)
978-3-593-37862-6 (ISBN)
89,00 inkl. MwSt
In den letzten 100 Jahren hat sich die koreanische Gesellschaft mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt. Nach der Machtergreifung durch das südkoreanische Militär 1961 verzeichneten Wirtschaft, Politik, Bildung und Religion ein eindrucksvolles Wachstum. Thomas Kern geht der Frage nach, wie sich aus strukturellen Spannungen heraus in diesen Teilsystemen eine Demokratiebewegung formierte. Die Modernisierung Südkoreas, so sein Fazit, führte nicht per se zur Demokratisierung – sie war ebenso entscheidend vom strategischen Verhalten der beteiligten Akteure abhängig.

Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 2005

Thomas Kern, Dr. rer. pol. habil., ist wissenschaftlicher Referent am Institut für Asienkunde in Hamburg.

Einleitung: Die Zukunft der Demokratie
Wirtschaftliche Entwicklung und kultureller Widerstand
Institutioneller Wandel und Modernität
Tour d'Horizon

TEIL I: KONZEPTE

1 Modernisierung
1.1 Tradition und Moderne
1.2 Strukturelle Differenzierung

2 Klassentheoretische Ansätze der
Demokratisierungsforschung
2.1 Demokratie "von oben"
2.2 Demokratie "von unten"
2.3 Zwischen transitiver und intransitiver Ungleichheit

3 Strukturelle Differenzierung und Demokratie
3.1 Von der unipolaren zur multipolaren Ordnung
3.2 Demokratisierung als "Staatsmachtbegrenzung"
3.3 Grundrechte und Modernität
3.4 Demokratie
3.5 Zivilgesellschaft

4 Forschungsansatz
4.1 Analytische Komponenten
4.2 Erklärungsschema
4.3 Methodische Überlegungen

TEIL II: ERGEBNISSE

5 Differenzierung, Durchorganisierung, Wachstum
5.1 Aufbruch ins moderne Zeitalter
5.2 Koloniales Wachstum
5.3 Zeitenwende
5.4 Postkoloniales Wachstum
5.5 Der Staat als dominanter Steuerungsakteur

6 Strukturelle Spannungen
6.1 Politische Institutionen
6.2 Industrie
6.3 Universitäten
6.4 Kirchen
6.5 Strukturelle Spannungen und Protest

7 Koalitionsbildung
7.1 Elemente einer Theorie der Koalition
7.2 Koreas "Zeitalter der Extreme"
7.3 Koalitionshindernisse
7.4 Kanalarbeit
7.5 Legitimierungsarbeit
7.6 Themenarbeit
7.7 Erinnerungsarbeit

8 Regimewechsel
8.1 Politische Gelegenheiten und Protest
8.2 Wendepunkt am Abgrund
8.3 Verhandlungen, Repressionen, Regimewechsel

Ausblick: Modernisierung und Demokratie
Südkoreas "Pfad" zur Demokratie
Andere Pfade
Die Rolle der Kultur im Demokratisierungsprozess
Ein "neuer" Ansatz in der Demokratisierungsforschung?

Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis

Ungerechtigkeitsempfinden ist eine entscheidende Triebfeder für soziale Proteste. Von der Enttäuschung über eine Benachteiligung oder der Entrüstung über einen Normverstoß ist es oft nur ein kleiner Schritt bis zum konkreten Handeln (Elster 1989). Aus diesem Grund reicht es nicht aus, wenn Protestbewegungen überzeugende Problemdiagnosen und passende Lösungskonzepte (vgl. Abschn. 7.6) anbieten: Wollen sie ihre Anhänger erfolgreich zur Teilnahme an Protesten motivieren, müssen sie deren Gefühle ansprechen. "Terms such as exploitation, erosion of social security, unemployment, poverty, destruction, misery and starvation are value laden. They inherently convey a call to struggle against them as evils" (Gerhards und Rucht 1992: 583). Ein typisches Beispiel für einen solchen Koalitionsbildung 213 "Ausbruch" ist der folgende Bericht über einen Streik der so genannten "Bus Girls" im Anschluss an eine Razzia in einem Arbeiterinnenwohnheim, bei der von der Heimleitung willkürlich alle privaten Gegenstände durchsucht worden waren: Im Februar 1979 berichtete die Korea Times über einen Streik der so genannten "Bus Girls", die in den überfüllten Bussen mit der Eintreibung der Fahrgelder betraut waren. Anlass waren niedrige Löhne, Rationalisierungspläne und Misshandlungen durch Vorgesetzte. Die oft jungen Frauen, mit geringer Schulbildung vom Land, waren in Wohnheimen der Busgesellschaft untergebracht. Nach Dienstschluss wurden die Frauen regelmäßig durchsucht. Dabei wurde nachgeprüft, ob sie eventuell einen Teil der Fahrgelder gestohlen hatten. Nach einer Razzia der Heimleitung, bei der alle privaten Schränke ohne Einverständnis der Frauen durchsucht worden waren, hatten diese sich zum Streik entschlossen. Sie wollten damit auf ihr Schicksal aufmerksam machen und gegen ihre inhumane Behandlung protestieren (Korea Times, 17.02.1979). Emotionen spielen im Mobilisierungsprozess eine zentrale Rolle, weil sich unter ihrem Einfluss die Präferenzen von Akteuren - vor allem ihre Einschätzungen im Hinblick auf die Protestrisiken - verändern (Elster 2000). Protestbewegungen stimulieren deshalb starke Emotionen, um die Hemmschwelle für kollektives Handeln zu senken. Durch moralische Appelle werden aber nicht nur sporadisch auftretende Unzufriedenheits-, Wut- oder Enttäuschungsimpulse kanalisiert. Vielmehr bilden Protestbewegungen selbst eine Brutstätte für protestförderliche Gefühle (Taylor und Whittier 1995). Emotionssoziologen machen "intendierte Konstruktionen, die aus verpflichtenden und zwingenden Organisationsregeln hergestellt werden" (Flam 2002: 176), dafür verantwortlich. Das heißt, für ihren Protestzweck manipulieren, kontrollieren und konservieren sie die Gefühle ihrer Mitglieder: Sie stellen "quasi versteinerte Emotionen her, um die launischen und unvorhersehbaren, oft unbegrenzten Gefühle zu ersetzen" (Flam 2002: 175). In diesem Sinne verkörperten die Dissidentenorganisationen in Südkorea allein durch ihre Existenz die verbreitete Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen. Autoritäre Staaten erzeugen in ihrer Bevölkerung mitunter ein beträchtliches Maß an Unterdrückungsgefühlen: Gewalt, Ausbeutung, Demütigung, Hunger etc. führen zu Angst, Schmerz oder Wut, die nicht offen zum Ausdruck kommen, weil "eine unerhörte Energie [...] in emotionale Unterdrückung, in Selbstkontrolle investiert" (Flam 2002: 283) wird. Unter solchen Bedingungen bildet sich oft ein versteckter Diskurs, in dessen Verlauf die Unterdrückten in so genannten "hidden transcripts" (Scott 1990) ihren Gefühlen durch Gesten, Reden und Prak214 Südkoreas Pfad zur Demokratie tiken Ausdruck verleihen.108 Diese Inhalte haben im öffentlichen beziehungsweise "öffentlich erwünschten" Diskurs, dem so genannten "public transcript", 109 normalerweise keinen Platz; sie sind - mit Ausnahme besonderer Ritual- oder Festzeiten - hinter die Bühne des öffentlichen Theaters verbannt. Diese Praxis hat auch in Korea eine lange Tradition. Durch die Plausibilisierung und Inszenierung ihres Repräsentationsanspruchs machte die Demokratiebewegung das Leiden des Minjung jedoch sichtbar, formulierte einen eindeutigen Zusammenhang zwischen strukturellen Verhältnissen und emotionalen Zuständen und überführte auf diesem Weg das so genannte "hidden transcript" in den öffentlichen Diskurs. Eine besondere Rolle spielte dabei das Konzept der "Han-Gefühle" (vgl. Abschn. 7.5.2) als hochgradig ausgearbeitete und kulturell anschlussfähige Emotionstheorie der Minjung-Bewegung. Unter ihrem Einfluss entwickelte sich im Protestmilieu mit der Zeit eine "Leidenskultur", die auf entsprechende Reize von außen extrem sensibel reagierte. Dies führt uns wieder zum Repräsentationsanspruch der südkoreanischen Demokratiebewegung zurück. Sie definierte sich als Sprachrohr des unterdrückten Volkes gegenüber dem herrschenden Regime. Ihre kollektive Identität war vom Mythos des leidenden Minjung durchdrungen. Davon ausgehend, beobachteten und "scannten" die Protestorganisationen ihre Umwelt nach potenziellen Anlässen ab, die sich in dieses Interpretationsschema einfügten. Sobald sich in ihrer Wahrnehmung das Verhalten des Regimes in die Logik des "Minjung- Mythos" einfügte, appellierten sie an die Empörung ihrer Mitglieder und Sympathisanten. Dabei gilt: Je größer die Übereinstimmung zwischen mythischem Beobachtungsschema und konkretem Anlass war, desto größer war die Entrüstung und desto höher war die Mobilisierungskapazität des Master Frame unter den Protestgruppen.

Erscheint lt. Verlag 6.7.2023
Reihe/Serie Studien zur Demokratieforschung ; 8
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 380 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Systeme
Schlagworte Demokratie • Demokratietheorie • Demokratisierung • HC/Politikwissenschaft/Politisches System • Koloniales Wachstum • Modernisierung • Postkoloniales Wachstum • Regimewechsel • Südkorea • Südkorea; Politik/Zeitgesch. • Zivilgesellschaft
ISBN-10 3-593-37862-0 / 3593378620
ISBN-13 978-3-593-37862-6 / 9783593378626
Zustand Neuware
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