Kulturpessimismus als Politische Gefahr
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94136-4 (ISBN)
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Erstmals fassen Historiker die Anfänge der abendländischen Vorstellungen von Zeit, Gedächtnis und Handlung zusammen. Im Mittelpunkt stehen dabei schriftlose Gesellschaften, das Alte Ägypten und das archaische Griechenland. Grundlegend für kulturgeschichtlich interessierte Leser.
In seinem wegweisenden, "klassischen Buch" (Karl Dietrich Bracher) aus dem Jahr 1961 beschreibt Fritz Stern am Beispiel früher ideologischer Vorbereiter des Dritten Reiches den Kulturpessimismus auch als gesamteuropäisches Phänomen. Zugleich zeigt Fritz Stern uns heute die Gefährdungen auf, die den modernen, liberalen und demokratisch verfaßten Gesellschaften aus der Verzweiflung an der Kultur und aus der Ablehnung der kapitalistischen Welt erwachsen.
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Fritz Stern, geb. am 2. Februar 1926 in Deutschland, emigrierte mit seinen Eltern unter dem Druck der Nazis 1938 in die USA. Er war Professor für Geschichte an der Columbia University und lehrte früher in Paris, Konstanz, an der Yale University und der FU Berlin. 1993/94 war er Berater des damaligen US-Botschafters in Deutschland Richard Holbrooke; 1990 prägte Fritz Stern, während sich in Großbritannien unter Maggie Thatcher Ängste vor einem wiedererstarkenden Deutschland verbreiteten, die Formulierung von der »zweiten Chance« für das demokratische Deutschland. Kurz vor seinem 90. Geburtstag äußerte Fritz Stern seine große Sorge über den Aufstieg von Donald Trump und den Rechtsruck in europäischen Ländern wie Ungarn, Polen und Österreich und sprach von einem neuen »Zeitalter der Angst«. Fritz Stern war u.a. Ehrendoktor der Universitäten Oxford und Princeton sowie Mitglied des Ordens Pour le mérite, wurde neben zahlreichen anderen Auszeichnungen 1999 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2004 mit der Leo-Baeck-Medaille und 2005 mit dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung geehrt. Fritz Stern lebte in New York, wo er am 18. Mai 2016 starb.
Vorwort von Norbert Frei Anfang der fünfziger Jahre war das Wort von der »deutschen Katastrophe«, mit dem Friedrich Meinecke die Erfahrung des »Dritten Reiches« auf einen für seine Zeitgenossen zwar kritischen, aber halbwegs erträglichen Begriff gebracht zu haben schien, noch in vieler Munde. Doch es stand bereits in Konkurrenz sowohl mit der auf aktuell-politische Parallelen zielenden Totalitarismustheorie als auch mit offen apologetischen Deutungen, nach denen die Deutschen 1933 Opfer eines »Dämons« geworden waren. Andere, freilich eher im Ausland geläufige Interpretationen knüpften mehr oder weniger grobe Kausalketten und zeichneten Kontinuitätslinien von Hitler zurück auf Bismarck oder gar auf Luther. Die seriöse geistesgeschichtliche Forschung hingegen befand sich, ebenso wie die zeitgeschichtliche Empirie, noch in ihren Anfängen. In dieser Situation begann ein junger Doktorand der Columbia University die Schriften jener »konservativen Revolutionäre« zu studieren, die, als er 1926 in Breslau geboren wurde, gerade den Höhepunkt ihrer Resonanz erlebten und deren Bedeutung es nun, im Rückblick auf die Zerstörung der Weimarer Demokratie und deren fürchterliche Folgen, genauer zu bestimmen galt. Fritz Stern, seit 1938 in New York, gehörte zu dem kleinen Zirkel hoch motivierter und nicht minder hoch begabter Nachwuchskräfte auf beiden Seiten des Atlantiks, die sich dieser Aufgabe stellten. Aus dezidiert kritisch-liberaler Perspektive entwickelte er eine moderne Ideengeschichte des politischen Ressentiments in Deutschland, ohne sich in den Aporien einer bald so genannten Sonderwegsthese zu verlieren. Sterns hier nach vielen Jahren wieder vorgelegtes Buch, hervorgegangen aus seiner bereits 1953 angenommenen Dissertation, wurde fast schlagartig berühmt. Dazu trug gewiß der griffig-anspruchsvolle Titel bei, unter dem das Werk 1961 in den USA erschien: »The Politics of Cultural Despair«. Wichtiger aber war am Ende wohl, daß der Autor sich in jugendlicher Kühnheit zu einer wirkungsvollen Beschränkung seines ungeheuren Stoffes entschlossen hatte. Statt auf erschöpfende Vollständigkeit setzte Stern nämlich - ohne darüber die Komplexität seines Arguments zu reduzieren - auf exemplarische Betrachtung: Mit Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck untersuchte er Leben, Werk und Wirkung dreier Vertreter jenes völkisch-nationalen Irrationalismus, der gewiß nicht zwangsläufig, aber noch viel weniger zufällig im »Dritten Reich« gemündet und gestrandet war.. Als das Buch nur zwei Jahre nach der Originalausgabe auch auf Deutsch erschien, bekannte sich sein Titel - wohl vom Verlag ersonnen - zu jenem pädagogischen Charme, den die junge, um ihre akademische Anerkennung durchaus noch ringende Teildisziplin der Zeitgeschichte damals verkörperte: »Kulturpessimismus als politische Gefahr«. Zusammen mit Kurt Sontheimers fast gleichzeitig veröffentlichter Habilitationsschrift über »Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik« und wie diese schließlich als Taschenbuch verfügbar, leistete Sterns Studie an Generationen von Studenten geistesgeschichtlichen Aufklärungsdienst.. Die Klarheit der Analyse und die Prägnanz des politischen Urteils waren es freilich auch, die beiden Werken anfangs nicht nur Zustimmung eintrugen. So bekundete etwa Sterns Rezensent in der Neuen Politischen Literatur - unfreiwillig höchst beredt -, warum er sich »eines leisen Unbehagens nicht ganz erwehren« konnte: Die von Fritz Stern herausgestellten Gemeinsamkeiten im ideologischen Habitus seiner Protagonisten und in ihren politischen Anschauungen erschienen dem Kritiker »entweder so allgemein (...), daß sie für tausend andere Akademiker des gleichen Zeitalters auch gelten würden, oder aber so herbeigezogen (...), daß man die Absicht des Verf. merkt, unbedingt eine Einheitlichkeit der Darstellung dort zu konstruieren, wo der Gegenstand sie im Grunde gar nicht zwingend hergeben muß«. Wem Sterns Interpretation zu sehr zu Lasten der Deutschnationalen und des revolutionären Konservatismus ging, der konzedierte ihm also scheinbar generös, drei »hervorragende Monographien über drei sicherlich in vieler Hinsicht verwandte Männer« geschrieben zu haben - um im übrigen alle demokratiepolitischen Schlußfolgerungen zu negieren. Aber pure Zustimmung erwartete wohl auch kaum, wer als Intellektueller der »skeptischen Generation« in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in aufklärerischer Absicht über den Nationalsozialismus und seine völkische Vorgeschichte forschte und publizierte. Mochte Stern schon aufgrund seines Selbstverständnisses als Amerikaner, das er als junger Emigrant vergleichsweise leicht und dankbar angenommen hatte, die Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland um ein Gran gelassener betrachten als seine dortigen Freunde, so gab er sich doch keinen Illusionen hin: Fritz Stern wußte, wie sein noch um drei Jahre jüngerer Kollege Ralf Dahrendorf im Vorwort zur deutschen Erstausgabe schrieb, daß das »pathologische Syndrom« des Kulturpessimismus »älter ist als der Nationalsozialismus und daß es diesen zugleich überlebt hat«. Im Abstand fast eines halben Jahrhunderts und nach über fünfzig Jahren stabiler Demokratie im westlichen Deutschland ist es vielleicht nicht mehr so einfach zu verstehen, was Stern und die ihm Gleichgesinnten damals umtrieb. Doch die Zuversicht, daß Bonn nicht Weimar werde, wie Fritz René Allemann schon 1956 zu wissen glaubte, war unter denen, die mit einem ausgeprägten Sinn für Freiheit und Liberalität auf die frühe Bundesrepublik blickten, nicht ganz so groß wie bei den Robusteren in der Politik und ihren publizistischen Interpreten. Eine Minderheit der kommentierenden Klasse blieb noch lange vorsichtig, und zu ihr zählte zum Beispiel Harry Pross, der Sterns Darstellung für die Zeit besprach: »Dieses Buch erscheint zur rechten Zeit, denn die hohe Entwicklungsstufe, die Deutschland im Rahmen Westeuropas seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht hat, enthält keine Versicherung gegen Rückfälle. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß in der permanenten Krise, die der Begriff der Wiedervereinigung bezeichnet, Losungen wieder aufkommen werden, die dem Arsenal des Kulturpessimismus entstammen. Sie zu durchschauen, kann dieses dankenswert nüchterne Buch des amerikanischen Historikers wohl helfen.« Wenn Sterns Verlag Alfred Scherz (Bern/Stuttgart) ein solches Zitat in der Anzeigenwerbung verwenden ließ - zeigte das nicht eindrucksvoll, wie sehr zu Anfang der sechziger Jahre doch schon gesellschaftlich akzeptiert, ja erwartet wurde, daß eine moderne Zeit- und Ideengeschichte mit praktischem Sinn und mit Talent zu wohlverstandener politischer Pädagogik zu Werke ging? Die Besten ihres Faches, und Fritz Stern gehörte sogleich dazu, hielten solche Erwartungen nicht nur für völlig legitim; sie entsprachen ihnen aus eigener Überzeugung. Doch diese Bereitschaft, aufklärerisch zu wirken, ging keineswegs zu Lasten der Wissenschaftlichkeit. Mancher Schwerpunkt, den die frühe zeitgeschichtliche Forschung setzte, mag uns heute weniger bedeutsam erscheinen, manche Fragestellung auch überholt - wirklich veraltet jedoch sind die wenigsten ihrer Ergebnisse. Hingegen haben einige der damals entstandenen Arbeiten, entgegen den Unkenrufen derer, die Zeitgeschichte als Wissenschaft seinerzeit noch für unmöglich hielten, längst den Status von Klassikern der Geschichtsschreibung erreicht. Einer dieser Klassiker ist Fritz Sterns »Kulturpessimismus als politische Gefahr«. Jenseits seiner zeitdiagnostischen Erhellungskraft, die das Buch auch heute noch oder wieder zu entfalten vermag - man denke nur an die in vielen Varianten vazierenden Ideologeme aus Globalisierungskritik, Antisemitismus und antiamerikanischen Affekten -, hat es der in vier Jahrzehnten natürlich weiter vorangetriebenen Detailforschung in bemerkenswerter Weise standgehalten. Zweifellos setzt die Intellectual History gegenwärtig an einigen Punkten andere Akzente. So wird zum Beispiel die Frage der Modernitätsfeindlichkeit der »konservativen Revolution« unterdessen stärker diskutiert, und die bereits von Stern betonte Transnationalität dieser Strömungen tritt mit zunehmendem Wissen über ihre außerdeutschen Vertreter noch deutlicher hervor. Zu den Erkenntnissen jedoch, die Stern mit seiner subtilen (und später nicht nur von ihm selbst immer wieder praktizierten) porträtistischen Methode über Langbehn, de Lagarde und Moeller van den Bruck zusammentrug, ist nur noch wenig hinzugekommen. So bleibt Fritz Stern brillantes erstes Buch am Ende beides: ein eindrucksvolles Zeugnis der Leistungsfähigkeit der frühen Zeitgeschichtsforschung - und eine gültige Analyse der Gefahren einer Politik, die sich aus der Verzweiflung an der Kultur des Westens nährt. Jena, im August 2005, Norbert Frei Einleitung Alles beginnt als Mystik und endet als Politik. Charles Péguy In der Regel ... bringt es mir keinen Gewinn, Jeremiaden gegen das Böse zu lesen - das Beispiel von ein wenig Gutem ist wirksamer. William James 1. Die Pathologie der Kulturkritik - dies ist das Thema meiner Untersuchung. Durch die Analyse des Denkens und Einflusses dreier führender Kritiker aus der jüngeren Vergangenheit des modernen Deutschland will ich die Gefahren und das Dilemma einer bestimmten Art von Kulturpessimismus aufzeigen. Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck, deren Leben und Wirken uns von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis an die Schwelle des Dritten Reiches führt, griffen - oft sehr scharf und durchaus zu Recht - die Schwächen deutscher Kultur und deutschen Geisteslebens an. Sie waren jedoch mehr als nur die Kritiker der kulturellen Krise Deutschlands: sie waren ebenso deren Symptome und Opfer. Sie konnten das Übel, das sie diagnostizierten und in ihrem eigenen Leben erfuhren, nicht bannen, und so suchten sie Propheten zu werden, einen Weg zur nationalen Wiedergeburt aufzuzeigen. Zu diesem Zweck schlugen sie Reformen vor, die rücksichtslos und brutal und gleichzeitig idealistisch, nationalistisch oder auch völlig utopisch waren. Es war dieser sprunghafte Übergang von Verzweiflung zu Utopie, der ihre Gedankenwelt so phantastisch machte. Als Ethiker und Wahrer dessen, was sie als altüberkommene Tradition ansahen, bekämpften sie die sich stetig ausbreitende Modernität, die wachsende Macht von Liberalismus und Verweltlichung. Sie stellten all das zusammen, was an der industriellen Zivilisation Deutschlands unbefriedigend war, und warnten eindringlich vor dem Verlust von Glauben, Einheit und »kulturellen Werten«. Alle drei wandten sich gegen die zunehmende Kommerzialisierung und Verstädterung - heroische Vitalisten, die gegen die Vorherrschaft von Vernunft und Routine ankämpften. Zutiefst unbefriedigt von der Situation Deutschlands, sagten sie voraus, daß unter der Angst, die sie gepackt hatte, bald alle Deutschen leiden würden. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts verkündete Lagarde, ein hervorragender Orientalist und Religionswissenschaftler, als Mensch jedoch vereinsamt und verbittert, den Niedergang des deutschen Geisteslebens und den Verfall seines Ethos. Später war er einer der schärfsten Kritiker der politischen Erfolge Bismarcks und ein brillanter Polemiker gegen den modernen Protestantismus. 1890 schrieb Langbehn, ein Gescheiterter, ein Psychopath, ein sensationelles Erfolgsbuch, eine Rhapsodie der Irrationalität; darin stellte er die ganze verstandesmäßige und wissenschaftliche Tendenz der deutschen Kultur, die allmähliche Vernichtung von Kunst und Individualität und den Zug zum Konformismus an den Pranger. In den folgenden beiden Jahrzehnten griff Moeller van den Bruck, ein eigenwilliger Außenseiter und hochbegabter Schriftsteller, das Spießertum und den Liberalismus der Wilhelminischen Zeit an. Nach dem ersten Weltkrieg wurde er der führende Vertreter der Jungkonservativen, und sein bekanntestes, 1922 veröffentlichtes Werk, Das dritte Reich, gab der deutschen Rechten ihren bedeutsamsten politischen Mythos. Obwohl ihre Schriften um Jahrzehnte auseinanderliegen, greifen alle drei darin doch weitgehend auf die gleiche Weise dieselben kulturellen Kräfte an. Unermüdlich brandmarkten sie, was sie als Mängel des deutschen Lebens betrachteten; ihre Äußerungen zeichnen ein recht aufschlußreiches Bild der Schattenseiten deutscher Kultur. In ihrem Kulturpessimismus spiegelt sich in verschärfter Form die Verzweiflung ihrer Landsleute wider, und so können wir am Beispiel dieser drei Männer verfolgen, wie in Deutschland das Mißvergnügen immer weiter um sich griff, bis es schließlich in den Nihilismus des Nationalsozialismus einmündete. Vor allem haßten diese Männer den Liberalismus: Lagarde und Moeller sahen in ihm die Ursache und Verkörperung allen Übels. Es mag merkwürdig erscheinen, daß sie sich ausgerechnet gegen den Liberalismus wandten, gegen jene politische Kraft, die in Deutschland ewiger Verlierer war. Die Frage, warum sie dies taten, führt uns in das Zentrum ihrer Gedankenwelt. Sie griffen den Liberalismus deshalb an, weil sie in ihm die wichtigste Voraussetzung der modernen Gesellschaft sahen. Alles, was sie fürchteten, schien in ihm zu wurzeln: die Bourgeoisie, das Manchestertum, der Materialismus, der Parlamentarismus und das Parteiwesen, der Mangel an politischer Führung. Ja, sie machten den Liberalismus für all das verantwortlich, worunter sie im Innersten litten. Ihr Ressentiment entsprang ihrer Vereinsamung; ihr ganzes Sehnen war auf einen neuen Glauben gerichtet, auf eine neue Glaubensgemeinschaft, eine Welt mit festen Werten und ohne Zweifel, eine neue nationale Religion, die alle Deutschen einen sollte. All dies lehnte der Liberalismus ab, und deshalb haßten sie ihn, warfen ihm vor, er mache sie zu Ausgestoßenen und entfremde sie ihrer vermeintlichen Vergangenheit und ihrem Glauben. Die von ihnen vorgeschlagenen Reformen, ihre Utopien, sollten diese liberale Welt überwinden. Sowohl ihre Reformvorschläge als auch ihre Kritik lassen erkennen, wie subjektiv sie dachten. »Ich habe schlechterdings keinen Sinn für theoretische Wahrheit. Ich will mein Volk binden und befreien«, verkündete Lagarde, und wie die beiden Kulturkritiker nach ihm, sah er im Nationalismus und in einem neuen Volkstum das einzige Mittel zum Heil (1). Alle drei waren fest davon überzeugt, daß nur irgendeine äußere Ursache, eine Verschwörung die frühere völkische Einheit gesprengt haben konnte; wenn diese Wurzeln der Zwietracht ausgerottet und eine Reihe von Reformen durchgeführt würden, müßte es möglich sein, die frühere Gemeinschaft wiederherzustellen. Obwohl Individualisten und ausgesprochene Gegner des Staates, glaubten sie zutiefst an die Wirksamkeit politischer und kultureller Planung. In ihren Schriften vertraten sie einen Rassismus auf nicht biologischer Grundlage; Lagarde und Langbehn waren entschiedene Antisemiten und sahen in den jüdischen »Bazillen« die heimtückischen Kräfte der Zersetzung. Die nationale Uneinigkeit, die Lagarde spürte und Moeller im Geschehen seiner Zeit erlebte, erschreckte sie, und so erhoben sie die laute Forderung nach einem »Führer«, der die Einheit des Volkes verkörpern und erzwingen und alle inneren Streitigkeiten schlichten sollte. Ihre Sehnsucht gipfelte in der Vision einer neuen deutschen Sendung, eines Deutschlands, das, sauber und zuchtvoll im Innern, als größte Macht der Welt endlich auch die Germania irredenta zusammenfassen könnte. Dies waren, kurz gesagt, die Elemente ihres kulturellen Denkens. Sie bildeten in ihrer Gesamtheit eine Ideologie - Anklage, Programm und Mystik zugleich. Ich bezeichne diese Ideologie als völkische Ideologie, weil ihre wichtigsten Ziele die Wiederbelebung eines mystischen Deutschtums und die Schaffung von politischen Institutionen waren, die diese deutsche Eigenart verkörpern und wahren sollten. In allen ihren Schriften findet sich diese Verquickung von Kulturpessimismus und mystischem Nationalismus, der sich vom offenen Nationalismus ihrer Zeitgenossen grundlegend unterschied. Das Wesen ihres Denkens und ihrer Wirkung auf die deutsche Gesellschaft entsprach jener Definition von »Ideologie «, die Eduard Spranger gegeben hat: »Eine politische Ideologie [hat] immer die Temperatur der Leidenschaft, des affektgeladenen Beteiligtseins. Sie ist etwas Antreibendes, ein Impuls, ein geistiger Motor ... Eine echte Ideologie drückt aus, wofür man lebt(2).« Noch zutreffender ist vielleicht der von Alfred Fouillée geprägte Begriff der idées-forces, Ideen, die »Phantasie und Willen, Vorherschau und Verwirklichung der Dinge vereinen« (3). Wenn auch die Ideen von Lagarde, Langbehn und Moeller nicht zu einem geschlossenen System zusammengefaßt wurden, so beeinflußte doch ihr Sinngehalt das »Lebensgefühl« zweier Generationen achtbarer Deutscher vor Hitler. Zwar blieben diese idées-forces meist im Hintergrund; sie waren eine Unterströmung im Bereich des Glaubens, die nur in Krisenmomenten sichtbar wurde. Aber sie nährten die Ablehnung der modernen Gesellschaft durch »deutsche Idealisten« und deren Ressentiment gegen die Unzulänglichkeiten »westlicher« Ideale und Institutionen, woraus der Demokratie in Deutschland so großer Schaden erwuchs. Noch schlagkräftiger wurde diese Ideologie durch den Stil von Lagarde, Langbehn und Moeller: alle drei schrieben mit großer Eindringlichkeit und Leidenschaft. Ihnen ging es weniger um die Klarlegung und Analyse von Tatbeständen als vielmehr darum, Verdammungsurteile zu fällen und Prophezeiungen zu äußern; alle ihre Schriften zeigen, daß sie wissenschaftliches Denken und die Vernunft ganz allgemein gering einschätzten - weit bedeutsamer als diese war ihrer Meinung nach die Intuition. Humorlos und oft schwer verständlich, wird ihre Prosa nur gelegentlich durch mystische, apodiktische Epigramme aufgelockert. Jahrzehntelang wurden sie als Zeitkritiker und Propheten deutschen Volkstums gefeiert. Ich habe diese drei Männer nicht deshalb ausgewählt, weil ihre Ideen besonders originell waren, sondern weil ihr Denken und ihr Einfluß auf das deutsche Leben deutlich die Existenz einer kulturellen Krise im modernen Deutschland erkennen lassen. Sie waren - selbst krank - die Analytiker einer zumindest zum Teil kranken Gesellschaft, und als solche spielten sie in der deutschen Geschichte eine wesentliche, bisher nicht genügend erkannte Rolle. Mit der üblichen Methodik der Geistesgeschichte läßt sich dieses Problem nicht angehen. Die Ideengeschichte ist nicht imstande, Geist und Wesen des Wirkens dieser Männer zu erfassen und ihre Ideenwelt im Zusammenhang mit ihrer Zeit darzustellen. Was sie geschrieben haben, wurzelt in ihrem eigenen Leiden, in ihren Erfahrungen, und daher ist der psychische Faktor in ihrer Lebensgeschichte für ihr Werk äußerst aufschlußreich. Ich habe versucht, die wichtigsten Stationen ihres Lebens zu skizzieren, ohne auf Gebiete abzuschweifen, die dem Psychologen vorbehalten bleiben müssen. Ich habe ferner versucht aufzuzeigen, welche Bedeutung dieser besonderen Form von Kulturpessimismus zukommt und wie sie das Eindringen wesensmäßig unpolitischer Ressentiments in die Politik begünstigt hat. Thema dieses Buches sind also Ursprung, Gehalt und Auswirkung einer Ideologie, die nicht nur dem Nationalsozialismus ähnlich ist, sondern sogar von den Nationalsozialisten selbst als wesentlicher Bestandteil ihres politisch-kulturellen Erbes anerkannt wurde. Aber ich werde noch eine weitere, wenngleich weniger deutliche Verbindung zwischen dieser Ideologie und dem Nationalsozialismus aufzeigen - die Tatsache nämlich, daß die völkischen Kritiker mit der ihnen eigentümlichen Spannung zwischen persönlichem Leben und ideologischer Zielsetzung jene Art von Unzufriedenheit vorwegnahmen, deren Träger nach 1920 in dem »Idealismus « der Hitlerbewegung ihre Rettung suchten. Während die Historiker bei dem Versuch, den Siegeszug Hitlers zu erklären, alle nur denkbaren Tatsachen berücksichtigt haben, von den Gefahren des Artikels 48 in der Weimarer Verfassung bis zur Rolle der Großindustrie und Finanz, ist doch der Schluß erlaubt, daß sie zu wenig die Unzufriedenheit in Betracht gezogen haben, die schon viel früher im kulturellen Leben Deutschlands mehr oder weniger offen vorhanden war und in politische Münze umgesetzt werden konnte. Amerkungen 1 Paul de Lagarde, Symmicta, Göttingen 1880, II, 106. 2 Eduard Spranger, »Wesen und Wert politischer Ideologien« in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 11,2 (April 1954), 122f. 3 Alfred Fouillée, Morale des Idées-Forces, Alcan, Paris 1908, S. 353.
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2015 |
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Übersetzer | Alfred P Zeller |
Vorwort | Norbert Frei |
Sprache | deutsch |
Maße | 136 x 210 mm |
Gewicht | 620 g |
Einbandart | gebunden |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Deutschland • Deutschland, Geschichte • Gesellschaft • Kultur • Kulturpessimismus • Nationalsozialismus (Ideologie) • Politik |
ISBN-10 | 3-608-94136-3 / 3608941363 |
ISBN-13 | 978-3-608-94136-4 / 9783608941364 |
Zustand | Neuware |
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