Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit - Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg -  Martin Klein

Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit - Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
137 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8075-9 (ISBN)
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Die Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit ist nicht nur lang, sondern auch spannend. In diesem Buch wird der Fokus auf die Zeit des Ersten Weltkriegs gelegt. Diese Zeit, in der Alice Salomon, Gertrud Bäumer oder Helene Lange sehr aktiv wirkten, ist nicht nur für die Entwicklung der Betrieblichen Sozialen Arbeit von großer Bedeutung, sondern auch für die Frauenbewegung und für die Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit insgesamt. Durch das Auffinden des Tagebuchs der Fabrikpflegerin Lina Klingspor über ihre Tätigkeit in einer Munitionsfabrik in den letzten beiden Kriegsjahren liegt ein einzigartiges Zeitzeugnis vor, das einen ungeschminkten Einblick in die Tätigkeit der Fabrikpflege ermöglicht. Anhand dieser exemplarischen Biographie wird die Geschichte der Fabrikpflege zu dieser Zeit beleuchtet. Wer dieses Buch liest, versteht die Wurzeln der Betrieblichen Sozialen Arbeit besser.

Dr. Martin Klein ist Professor für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW und 1. Vorsitzender des Vorstands des Bundesfachverbandes Betriebliche Sozialarbeit e.V. (bbs).

Sommer 1914 bis Winter 1916/1917 


Auch Linas Ehemann Ernst ging als Soldat in den Krieg, kämpfte und starb, wie mehr als zwanzig Millionen andere militärische und zivile Opfer (vgl. Clark 2014, S. 9). Er fällt im Mai 1915 bei Neuville in Frankreich. Sie ist 27 Jahre alt und kehrt als Kriegerwitwe zu ihren Pflegeeltern Karoline und Heinrich Schnell nach Siegen zurück (vgl. Neuhaus 2008, S. 133).

Während sich im Osten die Lage für Deutschland und Österreich-Ungarn günstig entwickelte, da Russland militärische Rückschläge erlitt und in eine schwere innere Krise geriet, zeigte sich im Westen eine ganz andere Situation. Seit der Marneschlacht vom September 1914 war der Frontlauf erstarrt und der Krieg zum Stellungskrieg geworden. Nach dem Scheitern der französisch-britischen Somme-Offensive und den verlustreichen Kämpfen um Verdun im Herbst 1916 fiel die Entscheidung für den unbeschränkten U-Boot-Krieg, die dazu führte, dass auch die USA Deutschland den Krieg erklärte. Damit hatte sich die Chance, den Krieg zu gewinnen, erübrigt. Die anfängliche Kriegsbegeisterung wich der Enttäuschung der Hoffnungen auf einen schnellen Sieg (vgl. Winkler 2006, 339 ff.). Der „Hunger im Gefolge der alliierten Seeblockade und der dadurch verursachten Abschnürung Deutschlands von Lebensmittelimporten, die Verschärfung der Klassengegensätze im Zeichen von Schleichhandel und Wucher: all das förderte die politische Unzufriedenheit (ebd., S. 344).

Es dauerte insgesamt zwei Jahre, bis die Erkenntnis reifte, dass die militärischen und zivilen Reichsbehörden der Kriegswirtschaft den Bedarf an Kriegsmaterial, Soldaten und Arbeitskräften unterschätzt hatten und mehr schlecht als recht improvisierten.

Am Beispiel der Firma Siemens lassen sich diese Entwicklungen gut veranschaulichen. Zu Beginn des Kriegs beschäftigte Siemens in Deutschland knapp 60.000 Menschen, aber bereits nach einem Monat reduzierte sich diese Zahl um etwa 23.000 Personen, die in den Heeresdienst eintraten, sich der Krankenpflege widmeten oder Landarbeit übernahmen.

Bereits 1915 begann Siemens mit Planungen zum Ausbau der Arbeiterinnenfürsorge. Fünf Pflegerinnen sorgten sich um die Gesundheit, die Vermittlung zwischen Arbeiterinnen und Werksleitung und trugen Sorge für die Erkrankten und das Arbeiterinnenheim in Siemensstadt (für erholungsbedürftige und vorübergehende unterkunftslose Arbeitnehmerinnen). Als die Versorgung mit Lebensmitteln schwieriger wurde, richtete Siemens Lebensmittelverteilungsstellen im Betrieb ein, damit die Mitarbeiter ihre Besorgungen während der Arbeitszeit tätigen konnten (Seibert 2011, S. 7 ff.).

Die mittlerweile dritte Oberste Heeresleitung wurde ab August 1916 vom sehr populären Generalfeldmarschall, dem „Sieger von Tannenberg“ und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und dessen Stabschef, Erich Ludendorff, angeführt.

Sie stellten im Dezember 1916 die strukturellen Veränderungen der Kriegswirtschaft mit dem Vaterländischen Hilfsdienstgesetz auf eine neue normative Basis. Das Hilfsdienstgesetz wurde zur Magna Charta einer Umstellung der deutschen Wirtschaft auf Rüstungszwecke. Das als „Hindenburg-Programm“ bezeichnete Vorhaben führte eine allgemeine Dienstpflicht für Männer vom 17. bis zum 60 Lebensjahr ein, sofern sie nicht zum Wehrdienst einberufen waren, sah für Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigte die Bildung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen vor und oberhalb der Betriebsebene wurden Schlichtungsausschüssen eingerichtet, die paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt waren. Die Gewerkschaften gewannen durch dieses Gesetz einerseits an Einfluss, rückten aber aus Sicht vieler Arbeiter zu nah an den Staat und die Unternehmerschaft heran, um noch eine proletarische Interessensvertretung zu sein (vgl. Winkler 2006, S. 346; Daniel 1989, S. 51).

Die Nachfrage nach gelernten und ungelernten Arbeitern konnte auch mit der Einführung dieser Dienstpflicht für alle Männer nicht mehr gedeckt werden. Die eingezogenen Männer ließen ihre Familien sehr häufig ohne Unterstützung zurück. Lohn- und Gehaltsfortzahlungen gab es nur selten, der Wehrsold reichte zur Versorgung der Familien nicht aus. Die Familien waren daher auf öffentliche Unterstützung angewiesen, die sie bekamen, wenn sie einen Rechtsanspruch darauf hatten, aber dass „zum Leben in keiner Weise ausreichten“ (Sachße 2005, S. 136). Der Krieg veränderte die Bedeutung der Armen- und Wohlfahrtspflege. Spenden gingen überwiegend an die Kriegswohlfahrtspflege und weniger an andere Vereine, die sich auch um bedürftige Menschen kümmerten. Gleichzeitig verlor die „Wohlfahrt“ aber auch ihren diskriminierenden Charakter, da nicht mehr Wenige Almosen bekamen, sondern Viele Hilfe und Unterstützung benötigten (vgl. Kuhlmann 2007, S. 118 f.). Die Möglichkeit in eine Notlage zu geraten, wurde somit für eine breite Öffentlichkeit kriegsbedingt zu einer nachvollziehbaren Realität.

Sieben bis acht Millionen Frauen (Wunderlich 1926, S. 4) ersetzten in den Fabriken die einberufenen Männer und wurden mit der Fabrikarbeit und der Hausarbeit doppelt belastet. „Die wachsende Teuerung, die geringen, nicht zum Lebensunterhalt ausreichenden Sätze der Kriegsunterstützung und die hohen Löhne der Rüstungsindustrie hatten weite Kreise sonst nicht erwerbstätiger Frauen in die Fabriken gezogen“ (ebd.). Diese Arbeitsverhältnisse waren in der Regel kein Schritt zur Emanzipation, sondern sie wurden nur eingegangen, um das Überleben für sich selbst und für die Familie zu sichern. Der Erste Weltkrieg veränderte die sozialen und materiellen Lebensverhältnisse massiv. Die im wahrsten Sinne des Wortes „notwendige“ zunehmende Frauenarbeit hatte Folgen. So verursachte die ungewohnte, sehr schwere und anstrengende Industriearbeit bei häufig sehr langen Arbeitszeiten gesundheitliche Schäden und Geburtenrückgang (Sachße 2005, S. 133).

Einstellung von Fabrikpflegerinnen


Im Sommer 1917 verfügte das Preußische und später auch das Bayerische Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, „daß in allen militärischen Instituten und Depots, in denen Arbeiterinnen beschäftigt werden, je eine Fabrikpflegerin, bei Dienststellen mit sehr vielen Arbeiterinnen mehrere Fabrikpflegerinnen einzustellen sind“ (Caemmerer 1919, 214 f.). Betriebe, die staatliche Aufträge bekommen wollten, mussten Fabrikpflegerinnen einstellen, sofern mehr als 200 Arbeitende beschäftigt wurden (vgl. Ganzert 1929, S. 342). Die Fabrikpflegerinnen sollten dafür sorgen, dass die Arbeiterinnen reibungslos produzierten. Kleine Betriebe schlossen sich zusammen und stellten eine Fabrikpflegerin entweder gemeinsam ein oder sie organisierten sich Unterstützung von einer externen „sozial arbeitenden Persönlichkeit“ (Wunderlich 1926, S. 5).

Mittels sogenannter „Kriegsamtsstellen“ sollten flächendeckend die erforderlichen Maßnahmen zur Mobilmachung der Wirtschaft für den Krieg im Zuge des Hindenburg-Programms umgesetzt werden. Diese Kriegsamtsstellen unterstanden dem Generalkommando. Die Fabrikpflege wurde in den Frauenreferaten der Kriegsamtsstellen angesiedelt, die auf örtlicher Ebene von bekannten Persönlichkeiten in der Geschichte der Sozialen Arbeit geleitet wurden. Dazu zählte u. a. Alice Salomon, die bereits 1908 die erste soziale Frauenschule in Berlin Schöneberg gegründet hatte, oder Gertrud Bäumer (Schüler 2004, 273 f.), die 1917 die soziale Frauenschule in Hamburg gemeinsam mit der erfahrenen Gewerbeinspektorin Dr. Marie Baum leitete. Die Haltungen von Gertrud Bäumer (vgl. Bäumer 1989) und Alice Salomon (vgl. Salomon 2008) unterschieden sich dabei grundlegend und können als zwei Spannungspole betrachtet werden. Während Salomon international dachte und für die Soziale Arbeit die Idee der geistigen Mütterlichkeit deklarierte, war Bäumers Perspektive national ausgerichtet und sie formulierte im Gegensatz zu Salomon eine Idee des geistigen Kämpfertums (vgl. Toppe 2009).

Die sozialen Frauenschulen, so unterschiedlich die Leitungen auch sein mochten, boten reguläre Ausbildungen an, aber auch zwei- bis sechswöchige Ausbildungskurse für nicht ausgebildete Helferinnen in der Kriegswohlfahrtspflege. Der Bedarf wurde durch den Krieg so groß, dass allein in den...

Erscheint lt. Verlag 7.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8075-4 / 3779980754
ISBN-13 978-3-7799-8075-9 / 9783779980759
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