Vom Stürzen und Wiederaufstehen (eBook)
220 Seiten
Verlag Carl Ueberreuter
978-3-8000-8233-9 (ISBN)
Anna Badora wurde in Polen geboren und absolvierte als erste weibliche Regie-Studentin das Max Reinhardt Seminar in Wien. Sie war zunächst Hospitantin bei Giorgio Strehler in Mailand sowie Assistentin von Peter Zadek und Jürgen Flimm und wurde später Generalintendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dann Direktorin des Schauspielhauses Graz und schließlich des Wiener Volkstheaters. Für ihre Arbeit hat sie zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland erhalten. Bis 2021 war sie Vizepräsidentin der Europäischen Theaterunion und ist jetzt 'Honorary Member'. Bereits bei Ueberreuter erschienen: »Dreizehn Leben.Frauenporträts, inspirierend und wegweisend.« (2022). Anna Badora lebt und arbeitet in Wien und Düsseldorf.
Anna Badora wurde in Polen geboren und absolvierte als erste weibliche Regie-Studentin das Max Reinhardt Seminar in Wien. Sie war zunächst Hospitantin bei Giorgio Strehler in Mailand sowie Assistentin von Peter Zadek und Jürgen Flimm und wurde später Generalintendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dann Direktorin des Schauspielhauses Graz und schließlich des Wiener Volkstheaters. Für ihre Arbeit hat sie zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland erhalten. Bis 2021 war sie Vizepräsidentin der Europäischen Theaterunion und ist jetzt "Honorary Member".
Der Mann auf der Motorhaube
Eni K., Justizvollzugsanstalt Willich II, Nordrhein-Westfalen
Das wutentbrannte Gesicht eines Mannes, seine Fäuste trommeln auf ihre Seitenscheibe, sie muss ihm entkommen. Sie gibt Gas, wechselt den Gang, aber sie bewegt sich keinen Meter vorwärts. Es wird nebelig im Auto. Sie sieht nichts, sie kann nicht atmen, der Rauch, woher kommt er? Jetzt rüttelt der Wagen heftig, dann kippt er um …
Sie schreckt aus dem Schlaf hoch. Aber der Albtraum geht weiter. Sie liegt auf der Pritsche in einer engen Gefängniszelle, wie in US-Fernsehserien. Eine Frau bläst ihr Zigarettenqualm ins Gesicht: „Hey du, wach auf! Wo hast du dein Geld versteckt? Oder hast du Wertsachen mit rein geschmuggelt? Du musst sie mir geben. Ich schwöre, sonst bringe ich dich um.“ Sie fuchtelt mit einer abgebrochenen Gabel vor Eni herum. Jetzt schluchzt sie, fleht: „Bitte, bitte, bitte! Meine Medikamente! Die muss ich bezahlen!“ Die beiden anderen Insassinnen schauen regungslos zu, rauchen, kommentieren alles in einer ihr unverständlichen Sprache. Eni hat zu Hause gelernt, den Menschen zu vertrauen. Nein zu sagen, wenn Menschen in Not sind, hat man ihr nicht beigebracht. Sie greift nach dem goldenen Kettchen an ihrem Fußknöchel, gibt es der Frau. Jetzt springen die beiden anderen interessiert auf …
Es war kein Traum. Sie ist wach.
Diese Geschichte ihrer ersten Nacht im Gefängnis erzählt Eni Jahre später, als ich sie zu unserem ersten Interview in der Justizvollzugsanstalt Willich II in Nordrhein-Westfalen besuche.
Am Anrather Bahnhof angekommen, er besteht aus zwei Gleisen und einer Tafel mit dem Ortsnamen mitten in Äckern und Feldern, frage ich nach dem Weg.
„Ach, Sie wollen in den Knast?“
Unter den neugierigen Blicken der Ortansässigen überquere ich den Parkplatz, am „Palast der Träume“ vorbei, einer pittoresken Eventlocation mit kitschiger Außenfassade, gehe fast endlos an einer grauen Gefängnisaußenmauer entlang. Irgendwo hängt daran ein Schild: Einbahnstraße. Das ist es wohl für einige Insassinnen auch, kommt mir in den Sinn. Ich schließe meine Tasche mit meinem Handy in einem Schließfach außerhalb der JVA ein, betrete den Besuchereingang, registriere mich beim Justizvollzugsbeamten, passiere zwei Schleusen mit hohen, durch Panzerglas gesicherten Türen, die so langsam nacheinander auf- und zugehen, dass gehetzte Menschen von „draußen“ notgedrungen einen Gang runterschalten müssen. Dann nimmt mich Frau S., die Gefängnispsychologin, die mir schon durch die Scheiben ermunternd zugewunken hat, in Empfang. Wir gehen durch die nicht enden wollenden Gefängnisgänge, überqueren einen Innenhof, wechseln die Stockwerke. Immer wieder zieht Frau S. einen Bund Schlüssel aus der Tasche, sperrt schwere Eisentüren auf und hinter uns wieder zu. Schließlich betreten wir ihr Büro, das für meine Interviews mit den Insassinnen vorgesehen ist.
Über Eni weiß ich gar nichts. Ich kenne nicht einmal ihren vollen Namen. Datenschutz wird in deutschen Justizstrafanstalten sehr ernst genommen. Frau S. hat mir von meiner Gesprächspartnerin noch gar nichts verraten. Weder ihre Herkunft noch das Vergehen, für das sie eingesperrt wurde. Für wie lange? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie „sehr gut“ in das von mir beschriebene Profil passt. „Du sollst dir kein Bildnis machen …“ – das zweite Gebot aus dem Alten Testament fällt mir ein. Hier gilt es. Entsprechend habe ich keine bestimmte Erwartung und werde überrascht, staune, als meine Gesprächspartnerin hereinkommt: eine wache, unaufdringliche Frau mit positiver Ausstrahlung und dem beherrschten Auftreten einer Managerin. Ihre Erscheinung passt nicht zu diesem Ort. Auch ihre Biografie nicht, wie ich später immer wieder feststellen werde. Sie hat traditionelle bürgerliche Werte bereits mit der Muttermilch verinnerlicht.
Sie erzählt von ihrer strengen Erziehung in einem kleinem nordrheinwestfälischen Ort. Vater Berufskraftfahrer, nur an Wochenenden zu Hause, Mutter Schneiderin, de facto alleinerziehend. Die beiden Töchter, Eni und ihre vier Jahre jüngere Schwester, lernen strikte Verhaltensregeln: wenig und nur an Sonntagen fernsehen, Mitverantwortung für die Haushaltsführung, keine kurzen Röcke, abends kein Ausgang.
„Damals als Kind fand ich das blöd“, sagt Eni, „wir durften nichts, und Geld war immer knapp. Modische Kleidung wie andere Kinder? Davon konnten wir nur träumen. Heute finde ich es gar nicht so schlecht. Wir waren kaum konsumorientiert, jeder nach langem Sparen endlich gekaufte Wunschartikel bekam dadurch einen ganz besonderen Wert. Wir lernten, anderen Menschen mit Vertrauen zu begegnen, hilfsbereit zu sein und daraus Freude zu schöpfen.“ Sie erzählt von ihrer Großmutter, die ihren Mann im Krieg verloren, allein zwei Kinder großgezogen und ein Haus gebaut hat. „Sie war immer gut gelaunt, hat immer viel gelacht, ihre positive Grundhaltung war für mich ein Vorbild“, schwärmt sie. Von ihr lernt sie, „immer, immer weiterzumachen und aus jeder Situation das Beste rauszuholen“.
Enis Mutter erweitert die Lebensphilosophie der Oma um eigene, sehr preußisch anmutende Grundsätze: „Man muss alles akzeptieren, was auch kommt, sich selber immer hinten anstellen, darf sich nie auflehnen, soll die eigene Meinung für sich behalten.“ Auseinandersetzungen, Diskussionen gibt es in Enis Elternhaus nicht, nicht einmal über alltägliche Themen, schon gar nicht über Wirtschaft oder Politik. Kritik wird als Störung der Familienharmonie angesehen, Veränderungen oder Innovationen als Bedrohung. „Die Mutter hat bestimmt, und wir hatten zu gehorchen“, sagt Eni. Jedem Versuch, aus dieser Ordnung auszubrechen, setzt ihre Mutter irgendein altes Sprichwort entgegen, das Lebenserfahrung ausdrückt und entsprechend nicht zu hinterfragen ist. Es gab viele davon.
Enis Fragen zu ihrer Ausbildung? – „Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Da musste durch. Faust in der Tasche ballen und weiter.“
Ihr Wunsch nach modischerer Kleidung? – „Der Mensch ist wichtig, nicht die Hülle.“
Lust, sich auszuprobieren, eigene Vorstellungen durchzusetzen? – „Solange du deine Füße unter unseren Tisch streckst, tust du, was wir sagen.“
Doch Eni hat eigene Vorstellungen, träumt von einem eigenen Leben, von Freiheit. Also muss sie ihre Füße unter dem elterlichen Tisch hervorziehen und gehen. Nach dem Realschulabschluss absolviert sie eine Lehre als Friseurin und zieht in ein Städtchen um, wo sie niemanden kennt, 25 Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Sie mietet ihre ersten eigenen vier Wände. An ihre damalige Euphorie erinnert sie sich noch heute: „Frei entscheiden zu dürfen, was ich mache, wie ich es mache, wie ich mich anziehe, wie lange ich wegbleiben kann, das war unglaublich befreiend. Und der Friseurberuf war so kreativ!“ Sie jobbt am Wochenende zusätzlich als Kellnerin. „Da habe ich natürlich sehr schnell unglaublich viele Bekanntschaften gemacht, Freunde gewonnen. Das war toll, das war eine schöne Zeit. Richtig, richtig schön!“, schwärmt sie. Sie denkt an einen eigenen kleinen Frisiersalon. Später plant sie, nach einer Fortbildung zur Visagistin als Maskenbildnerin beim Theater unterzukommen. Sie verdient ganz gut, bessert ihren Lohn zusätzlich durch „ein bisschen Haare schneiden da und dort“ auf.
Eines Tages entdeckt sie Rötungen, Schwellungen, Bläschen und Schuppenbildung an den Händen, eine akute Ekzemreaktion, die sie lange ignoriert. Diese entwickelt sich zu einer chronischen Allergie, die sie zwingt, ihren Beruf aufzugeben. Ihre positive Lebenshaltung verhindert, dass sie mit ihrem Schicksal hadert. Sie beginnt sofort in Düsseldorf an einer Handels- und Wirtschaftsschule eine Umschulung zur Bürokauffrau, wird nach ihrem Abschluss von einer örtlichen Immobilienfirma angestellt. Und wieder macht ihr der neue Job, der Umgang mit der Kundschaft große Freude: „Ich arbeite für mein Leben gern, Arbeit ist für mich eine Erfüllung und keine Pflicht. Ich bin ein Arbeitstier durch und durch. Auch Überstunden machen mir nichts aus“, erzählt sie.
Bei einer Wohnungsbesichtigung lernt sie ihren späteren Ehemann kennen. Er kommt aus einer vermögenden Familie, arbeitet in einer der Autofirmen seiner Eltern. Die beiden ziehen zusammen, heiraten, bekommen zwei Kinder. Eni lernt plötzlich „ein ganz anderes Leben“ kennen: „Locker und lustig, ohne diese Strenge wie bei mir zu Hause, und es war alles in Hülle und Fülle da.“ Sie erzählt darüber so begeistert, dass man in ihr dabei plötzlich die junge Frau von damals sieht: „Mein Leben war auf der Sonnenseite: Ein liebender Mann, gesunde Kinder, wir waren der Inbegriff einer glücklichen Familie. Ich bekam in der Firma meines Mannes einen tollen Job, der sich gut mit meinen...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2024 |
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Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Der Knacks • Gefängnis • Gefängnisse • Häfen • Häfn • Justizvollzugsanstalt • JVA • Lebensbeichten • Lebensgeschichte • Moers-Kapellen • Resozialisierung • Straffälligkeit • Straftäterin • Straftäterinnen • Strafvollzug • True Crime • Verbrechenskarriere • Willich 2 |
ISBN-10 | 3-8000-8233-0 / 3800082330 |
ISBN-13 | 978-3-8000-8233-9 / 9783800082339 |
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