Vom Jobcenter unabhängige Sozialberatung -  Sarah Schirmer

Vom Jobcenter unabhängige Sozialberatung (eBook)

Eine Ethnografie mit Blick auf Adressat*innen, Sozialberatung und Jobcenter
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
235 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8069-8 (ISBN)
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Der Umgang mit dem Jobcenter kann mit Schwierigkeiten verbunden sein, wenn man Leistungen nach dem SGB II beantragen möchte oder diese bereits bezieht. Einige Menschen nehmen zur Unterstützung Beratungsangebote in Anspruch. In der ethnografisch angelegten Studie werden vom Jobcenter unabhängige Sozialberatungsangebote untersucht. Im Zentrum steht dabei die Dreiecksbeziehung von Adressat*innen, Sozialberatung und Jobcenter. In der Beratungssituation zeigt sich die Selbstkonstruktion der unabhängigen Sozialberatung und es ergeben sich verschiedene Modi des Herausarbeitens des Bearbeitbaren.

Sarah Schirmer, Jg. 1986, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Department Erziehungswissenschaft der Fakultät II an der Universität Siegen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziale Ungleichheit, Sozialpolitik, Forschung zu Stigmatisierung und Kriminalisierung sowie zu Armut.

2Die Entstehung der Fürsorge bis zu ‚Hartz IV‘


Ziel dieses Kapitels ist es einerseits, die Geschichte der staatlich organisierten Fürsorge nachzuzeichnen, um in die Thematik einzuführen. Andererseits soll aufgezeigt werden, dass es Parallelen zur Ausgestaltung zum heutigen steuerfinanzierten Sozialleistungssystem in der Bundesrepublik Deutschland (BRD), namentlich die Grundsicherung für Arbeitssuchende, gibt. Die historische Entstehung der staatlich organisierten Fürsorge8 vom 15. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts soll dazu hier in Kürze umrissen werden, um dann genauer auf das 20. Jahrhundert und die ersten 22 Jahre des 21. Jahrhunderts zu blicken. Dies ist für die vorliegende Arbeit sinnvoll, da sich langfristige Linien abzeichnen, die heute noch immer argumentativ genutzt werden.

In der vorliegenden Arbeit geht es um die Beratung zu ALG II. Es handelt sich dabei um eine steuerfinanzierte Leistung, die eher mit der Fürsorge zu vergleichen ist. Da das ALG II aber als sogenannte Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe (ALH) und Sozialhilfe gesehen wird und u. a. zum Ziel hat, die Maßnahmen aus dem versicherungsbasierten Arbeitslosengeld (ALG)9 auch für Langzeit-Nicht-Erwerbstätige oder bisher noch nie Erwerbstätige zugänglich zu machen, muss auch die Entwicklung und Ausgestaltung des Arbeitslosenversicherungsprinzips betrachtet werden. Ein weiterer Punkt, der die Betrachtung beider Systeme notwendig macht, ist die Verwobenheit mit dem Begriff der (Lohnerwerbs-)Arbeit.

2.1Vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts


Es gibt verschiedene Komponenten, die auf die Entwicklung der staatlich organisierten Fürsorge Einfluss haben und eine steuerfinanzierte Grundsicherung für Arbeitslose überhaupt möglich machen. Diese hängen zusammen: Mit der Veränderung der Arbeit sind sowohl die Entstehung der abhängigen Lohnarbeit10, die Entstehung der Erwerbsarbeitsgesellschaft (inklusive veränderter Lebensformen) als auch die Zerlegung der Arbeit in unabhängige Teilschritte gemeint. Weiterhin spielen die Entstehung des (National-)Staates sowie die Organisation in Wirtschaftsordnungen eine Rolle.

2.1.1Staat. Wirtschaft. Arbeit. Armut.


Bevor auf die Entwicklung der Lohnarbeit bzw. die Veränderung von Arbeit eingegangen wird, soll kurz die Entstehung des Staates sowie der Wirtschaftsordnungen skizziert werden. Was der heutigen Vorstellung des Staates nahekommt, hat sich erst zum Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. Damit ist v. a. gemeint, dass sich der Staat im Unterschied zur Gesellschaft konstituiert hat (Sachße und Tennstedt 1998: 128). Allerdings hat sich bereits ab Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend eine „öffentliche Gewalt“ (ebd.: 85) gegenüber den Menschen durchgesetzt. Die Entwicklung des Staates ist insofern wichtig, als dieser als Vermittler zwischen Kapital und Arbeit betrachtet werden kann (Böhnisch und Schröer 2012: 19-20) – also die Risiken für die Unternehmen/Gewerbe und für die Arbeiter*innen abfedern soll. Fernab der Risiken ist eine Vermittlung zudem notwendig, weil es sich dabei auch um einen Verteilungskampf um den gesellschaftlichen Wohlstand handelt (Huster 2008a: 77). Diskutiert wird seit Jahrhunderten, wie weit die Vermittlerrolle des Staates gehen sollte. Diese Frage bzw. Antwort hängt von spezifischen Sichtweisen der jeweiligen Wirtschaftsordnung ab, die im Folgenden kurz vorgestellt und mit der Entwicklung in Deutschland verknüpft werden.

Im 17. und 18. Jahrhundert übernimmt der Staat immer weiter die Gestaltung der Wirtschaft (Sachße und Tennstedt 1998: 86; Rössner 2017: 158-160). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt sich der Merkantilismus als Wirtschaftsform ein, mit einem „Machtmoment, die Suprematie des Staates über die Wirtschaft“ (Kolb 2017: 17). Neben des Ausbaus der Macht geht es ebenso um die Vermehrung des Reichtums (Krobath 2020: 14). Die vorherrschende Produktionsweise, für die Arbeitskräfte dringend gebraucht werden, ist die Arbeit in Manufakturen. Dabei werden Arbeitsschritte geteilt11 und zum Teil ausgelagert, sodass diese im eigenen Zuhause erledigt werden können (Sachße und Tennstedt 1998: 92-93). Die Arbeitsteilung eröffnet die Möglichkeit, bestimmte Arbeiten auch von ungelernten/unqualifizierten Arbeiter*innen durchführen zu lassen, meist Frauen und Kinder (ebd.: 95). Der Reichtum der Gewerbe- und Manufakturbesitzer kann nur durch die Armut der Arbeiter*innen erreicht werden (ebd.: 99). Der Vorteil von ungelernten Arbeiter*innen (Frauen und Kinder) liegt sowohl darin, dass ihnen ein niedrigerer Lohn gezahlt wird, als auch darin, dass sie keiner Zunft, also keiner Interessensvertretung12, angehören (ebd.: 95, 97), sodass die Arbeitskraft gewinnbringend verwertet werden kann. Arbeit erfährt im 17. und 18. Jahrhundert eine Aufwertung13, da man diese als Zugang zu Wohlstand sieht, denn Reichtum wird nicht mehr als gottgegeben angesehen (Berthold und Oschmiansky 2020: o. S.). Allerdings sorgen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sinkende Reallöhne und steigende Preise von Nahrungsmitteln dafür, dass Lohnarbeiter*innen generell an der Grenze des „Existenzminimums“14 (Sachße und Tennstedt 1998: 98) sowie in der ständigen Gefahr leben, unterhalb dieser Grenze auskommen zu müssen (ebd.: 91, 98). Dass Arbeit die Antwort auf Armut wäre, lässt sich laut Sachße und Tennstedt (ebd.: 131) genau deshalb nicht halten.

Der Staat unternimmt seinerseits wirtschaftspolitische Steuerungsmaßnahmen (Kolb 2017: 17), damit sich die Wirtschaft entfalten kann (ebd.: 21). Einerseits möchte er eine starke Produktion im Inland erreichen und dazu die Volkswirtschaften regulieren, z. B. durch Ein- und Ausfuhrverbote (Sachße und Tennstedt 1998: 91-92). Andererseits herrscht zur Zeit des Merkantilismus Arbeitskräftemangel (ebd.: 94-95), der eben das merkantilistische Ziel gefährdet. Der Staat ist also nicht nur Vermittler zwischen Kapital und Arbeit, sondern verfolgt auch eigene Interessen. Die von den Manufakturbesitzern genutzte Möglichkeit, Frauen und Kinder einzusetzen, wird vom Staat unterstützt (Rössner 2017: 163). Außerdem ist dies eine Strategie15, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen16 (Sachße und Tennstedt 1998: 94). Die Vermittlertätigkeit kann hier v. a. zu Gunsten des Kapitals gesehen werden. Durch diese Strategie wurde auch der Kreis der lohnarbeitsabhängigen Menschen erweitert. Die Abhängigkeit von Lohnarbeit nimmt ab Mitte des 18. Jahrhunderts weiter zu (ebd.: 99). Bonß (2018: 397) geht davon aus, dass sich seit dem 18. Jahrhundert von „Arbeitsgesellschaften“ sprechen lässt – präziser von „Erwerbsarbeitsgesellschaften“ (ebd.: 398), Hausarbeit und Ehrenämter gehören nicht dazu. Erwerbsarbeit wird zum Normalzustand (ebd.: 400). Die Arbeitsgesellschaft nimmt Arbeit als Referenzpunkt für Normalität (ebd.). Menschen, die keine Arbeit haben, gelten nunmehr als abweichend – und das nicht nur von der Norm im beschreibenden Sinne. Vielmehr ist diese Abweichung moralisch aufgeladen, da unterstellt wird, der*die Abweichler*in wolle nicht arbeiten (ebd.). Arbeit wird dabei nicht nur als Mittel, um den Lebensunterhalt zu generieren, betrachtet, sondern als identitätsstiftend, sich auf das ganze Leben beziehend: Der Mensch wird zum homo faber (ebd.: 397). Allerdings finden sich Ende des 18. Jahrhunderts auch noch andere Bewertungen von Arbeit. So können die Adligen von ihren Privilegien leben und verstehen Arbeit deshalb nicht als lebenssinnstiftend und nicht standesgemäß (ebd.: 397-398) Bonß (ebd.) sieht Bettler als weitere Gruppe, die Arbeit als notwendiges Übel ansehen.

Sachße und Tennstedt (1998: 180) sehen am Beginn des 19. Jahrhunderts die Entstehung einer „kapitalistischen Wirtschaftsordnung“. Diese setzt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch (Kocka 2021: 72). Im Kapitalismus ist v. a. entscheidend, wer über die Produktionsmittel ...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8069-X / 377998069X
ISBN-13 978-3-7799-8069-8 / 9783779980698
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