Dekolonisiert Selfcare (eBook)

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2024 | 1. Auflage
216 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
978-3-96054-345-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dekolonisiert Selfcare -  Alyson K. Spurgas,  Zoë C. Meleo-Erwin
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Für Schwarze Feministinnen des 20. Jahrhunderts war Selfcare ein Schlachtruf für körperliche Autonomie und politische Macht: »Meine Selbstfürsorge ist keine Selbstgefälligkeit, sondern Selbsterhaltung, und das ist ein Akt politischer Kriegsführung«, sagte Audre Lorde. Für heutige Lifestyle-Marken und Influencer*innen geht es hingegen darum, unter dem Selfcare-Label Yogakurse, Achtsamkeits-Apps, ausgefallene Ernährungs- und Körperprodukte und natürlich das dazugehörige Mindset zu einem hohen Preis zu verkaufen. Mittlerweile hat Selfcare als äußerst lukratives Geschäftsmodell nahezu jeden Bereich des Lebens infiltriert: Ernährung, Freizeit, Kultur. Sorge für dich selbst - weil du es dir wert bist (und gib dabei am besten möglichst viel Geld aus). »Dekolonisiert Selfcare« liefert eine soziologische Analyse und eine scharfe Kritik an den kapitalistischen, rassistischen Untertönen eines Konzepts, das sich von Schwarzer feministischer Überlebenstaktik in ein Businessmodell des weißen neoliberalen Feminismus gewandelt hat. Die Dekolonisierung der Selbstfürsorge, so die Autorinnen, erfordert eine umfassende Auseinandersetzung mit dem ausschließenden, aneignenden Charakter des Selfcare-Markts. Doch Aufklärung ist nur der erste Schritt in diesem Prozess. Wir müssen uns zu neuen Modellen von Selbst- und kollektiver Fürsorge bekennen, die Gesundheit, Vergnügen und Gemeinschaft ermöglichen - für alle.

Alyson Spurgas ist Professor*in für Soziologie am Trinity College in Hartford, Connecticut. Spurgas arbeitet zu Traumasoziologie, Politik des Begehrens und Care-Technologien. Zoë Meleo-Erwin ist Soziologin. Sie hat u.a. zur Bedeutung von Gesundheit und Krankheit, zu Gesundheitspolitik und zu den Effekten digitaler Technologien auf Community- und Identitätsbildung im Kontext von Gesundheit und Krankheit geforscht. Anne Emmert studierte Anglistik, Amerikanistik und Linguistik. Sie übersetzt vor allem Sachbücher aus den Bereichen Politik, Gesellschaft, Feminismus aus dem Englischen, u.a. die Bücher von Laurie Penny.

Alyson Spurgas ist Professor*in für Soziologie am Trinity College in Hartford, Connecticut. Spurgas arbeitet zu Traumasoziologie, Politik des Begehrens und Care-Technologien. Zoë Meleo-Erwin ist Soziologin. Sie hat u.a. zur Bedeutung von Gesundheit und Krankheit, zu Gesundheitspolitik und zu den Effekten digitaler Technologien auf Community- und Identitätsbildung im Kontext von Gesundheit und Krankheit geforscht. Anne Emmert studierte Anglistik, Amerikanistik und Linguistik. Sie übersetzt vor allem Sachbücher aus den Bereichen Politik, Gesellschaft, Feminismus aus dem Englischen, u.a. die Bücher von Laurie Penny.

Aus dem Inhalt: Wie du fantastischen Sex hast (und dabei dein bestes Selbst entfaltest): Nutze deine rezeptive Weiblichkeit und übe dich in Achtsamkeit! +++ Selfcare vermarken: Von Femtech und Biohacking bis zu Painmoons und Extremreisen +++ Ernähre deine Familie gesund und erklimme die Erfolgsleiter! Der weiße neoliberale Feminismus und die hippe Häuslichkeit der neusten Ernährungs- und Gesundheitstrends +++ Mehr Fürsorge, weniger Selbst? Wie wir (hoffentlich) über Klage, Kritik und Kolonialität hinauskommen

Kapitel 1


Wie du fantastischen Sex hast (und dabei dein bestes Selbst entfaltest): Nutze deine rezeptive Weiblichkeit und übe dich in Achtsamkeit!


Im Jahr 2013 lieferte ein schottisches Forschungsteam wissenschaftliche Belege zu einem Phänomen, an das viele schon sehr lange geglaubt hatten: Frauen seien besser im Multitasking als Männer. Seither haben andere Studien ergeben, dass es beim Multitasking keine geschlechtsbedingten Unterschiede gibt, doch uns interessiert, warum diese spezielle Studie so viel Beachtung fand und solche Zugkraft entwickelte. Die Forschenden stellen die Frage: Ist Multitasking überhaupt etwas Positives? Wie nützlich ist es? Seit der Veröffentlichung dieser Studie, die häufig zitiert wird, sind Hinweise darauf, dass es sich negativ auswirkt, wenn man zu viele Dinge auf einmal erledigt, und Ratschläge, wie sich negative Folgen auf die Gesundheit verhindern lassen, häufiger zu lesen.

Evolutionspsycholog*innen behaupten seit langem, Frauen betrieben seit Urzeiten Multitasking. Oft hört man, Frauen beherrschten das eben von Natur aus besser, und Multitasking sei somit ein typisch weibliches Merkmal. Manchmal heißt es, das rühre aus einer uralten Veranlagung der Höhlenmenschen her, da Frauen damals mit mehreren Aufgaben gleichzeitig jonglieren mussten: sich um die Kinder kümmern, nach Raubtieren Ausschau halten und sammeln (Beeren? Kinder? Steine, also Kinderspielzeug?). In einem Interview mit dem National Geographic antwortete der Leiter der schottischen Studie aus dem Jahr 2013 auf die Frage, warum Frauen besser multitasken: »[…] wir waren im Wesentlichen darauf angepasst, die Gefahren unserer Steinzeitumgebung zu überleben. In dieser Welt kümmerten sich die Frauen nicht ausschließlich um ihre Kinder. Sie konnten sich auch nicht nur darauf konzentrieren, Kleidung herzustellen oder Nahrung zu finden. Trotzdem mussten sie ihren Nachwuchs ständig im Auge behalten; andernfalls wären die Kinder von wilden Tieren gefressen worden, und die Menschheit wäre ausgestorben. Wir sind das Resultat dieses erfolgreichen Verhaltens.«13 Es wurden schon viele »adaptive« oder »evolutionäre« Gründe dafür angeführt, dass Frauen angeblich so hervorragend mehrere Aufgaben auf einmal meistern. Doch aus unserer Sicht muss man das Phänomen gar nicht mit der hochspekulativen Evolutionspsychologie erklären. Zahlreiche neuere Studien zu Arbeit, Fürsorge und Selbstfürsorge haben das Multitasking, seine geschlechtsspezifischen Ursprünge und seine (negativen) Wirkungen untersucht.

So wurde vor nicht allzu langer Zeit, nämlich im 20. Jahrhundert und besonders während des Wirtschaftsaufschwungs in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Trennung zwischen der sogenannten privaten und der öffentlichen Sphäre hergestellt. Die öffentliche Sphäre assoziierte man mit der Welt der »Arbeit«, »Politik« und »Produktion«, die private mit »Intimität«, »Häuslichkeit« und »Reproduktion«. So wurde der öffentliche Raum zur Welt der Männer, der private zur Welt der Frauen erklärt – und klar unterschieden, wer in diesen beiden Sphären wofür verantwortlich war.14 Die Trennung der Sphären brachte eine geschlechtsspezifische Aufteilung der Arbeit wie auch der Erholung von dieser Arbeit mit sich: Für die Arbeiten in der privaten Sphäre ordnete man den Frauen spezifische Formen der Vor- und Nachsorge (letztendlich der Selbstfürsorge) zu.

Das Multitasking, das aus dem Häuslichkeitskult nicht wegzudenken war, zog mutmaßlich ein potenzielles Übel nach sich: Es konnte das sexuelle Verlangen der Frau hemmen. Dieser misslichen Nebenwirkung galt es natürlich gegenzusteuern: Der Zusammenhang zwischen Multitasking, Stress, Ablenkbarkeit und geringem sexuellen Verlangen bei Frauen wird im Kontext der Selbstfürsorge und Selbsthilfe noch heute ausgiebig diskutiert (und häufig wird dann Sex als eine Form der Selbstfürsorge dargestellt). Bevor wir jedoch zum Zusammenhang zwischen Selfcare und der Steigerung sexueller Lust kommen, sollten wir uns ansehen, wie Multitasking an Haushaltsmanagement, Hauswirtschaft und Haushaltshygiene gekoppelt, Heim und Herd für (weiße) Frauen zur »Berufung« erklärt wurde – und vielleicht sogar als erstes Beispiel für eine persönliche oder Lifestyle-Marke gelten kann.

Die Optimierung der Hausfrau: Seit wann soll Achtsamkeit die Produktivität steigern?


Im Zusammenhang mit öffentlicher Sphäre und Arbeit in Fabrik oder Werkstatt wird häufig auf das sogenannte Scientific Management, auch Taylorismus genannt, verwiesen.

Diesem Managementkonzept zufolge lässt sich die Produktivität von Arbeitern steigern, wenn die Arbeitsabläufe genau gemessen werden: Wie viele Handbewegungen sind zum Beispiel nötig, um ein Werkstück auf dem Fließband zu montieren?

Wie viele Anschläge sind nötig, um ein Dokument zu tippen?

Wie schnell und effizient kann eine bestimmte Aufgabe in der Industrie erledigt werden?

Am tayloristischen Arbeitsplatz des Scientific Management standen (auch schon vor dem Fließband in Fords Automobilfabrik) Automation und Optimierung oder Leistungssteigerung im Mittelpunkt. Wenn der Manager ausrechnen konnte, wie lange es dauern sollte, einen bestimmten Arbeitsablauf zu erledigen, konnte er auch dafür sorgen, dass alle Arbeiter auf diesen Standard verpflichtet wurden. Außerdem konnte er die Zeiten der Arbeiter vergleichen und diese anspornen, die eigenen Rekorde zu brechen, also stets »ihr bestes Selbst« zu sein.

Diese Logik, die Leistung der Arbeiter zur Effizienzsteigerung miteinander und sogar mit sich selbst zu vergleichen, war natürlich per se ableistisch: Man legte ein Ideal fest und zwang im Namen der Produktivität den Beschäftigten normativ vorgegebene Verkörperlichungs- und Verhaltensmodi auf. Man beachte: Dieses Konzept besteht heute mit allen rassistischen, sexistischen, ableistischen, klassistischen und nationalistischen Konsequenzen in der Selbsthilfe und Selbstoptimierung der neoliberalen Wellness-Sphäre (»Sei dein bestes Selbst«) fort.

Abseits der öffentlichen Arbeitswelt und ihren Entwicklungen verrichteten andere (die wir überwiegend als Frauen bezeichnen würden) in der privaten, »intimen« Welt der eigenen Wohnung die Reproduktionsarbeit. Anders als die Männer in der fordistischen Fabrik oder im Büro erledigten sie nicht spezialisierte Arbeiten, sondern mussten sich ihre Aufgaben selbst geben. Weiße Hausfrauen aus der Mittelschicht waren Managerinnen ihres Haushalts; sie hatten die Aufgabe, Arbeiten, die im Haus erledigt werden mussten, zu hierarchisieren und diejenigen, die sie nicht selbst erledigen konnten, zu delegieren.

Die Sozialtheoretikerin Melissa Gregg, die auch in der Hightechbranche forscht, legt in Counterproductive (2018), ihrem Buch über Zeitmanagement und Wissensökonomie, dar, dass weiße Hausfrauen Anfang des 20. Jahrhunderts als Managerinnen wie auch als Arbeiterinnen tätig waren und, um ihre Aufgaben in den eigenen vier Wänden zu erledigen, multitasken und den Überblick behalten mussten. Diese Art des Multitasking gilt oft als moderneres Phänomen: Wir praktizieren es im Plattform- oder im Kognitiven Kapitalismus (einer von Software-Ingenieur*innen gestalteten und zunehmend dezentralisierten Wirtschaft und Gesellschaft). Viele Jobs werden heute ja auch online nach den Vorgaben der »Just in time«-Managementstrategien und einer ständig wachsenden Gig- oder »Sharing«-Ökonomie erledigt. Dabei ist die Fixierung auf das Multitasking – und seine weibliche Markierung – kein neues Phänomen (und auch nicht evolutionär bedingt).

Gregg legt überzeugend dar, dass Hausfrauen, um mit der beliebten Autorin Jia Tolentino zu sprechen, schon seit jeher »Optimierung ohne Ende« betreiben. In den 1950er Jahren waren sie klassische Managerinnen. Natürlich kommt so gut wie nie zur Sprache, welche Rolle arme Frauen, Frauen mit Behinderung, trans Frauen und Frauen of Color in diesem System des Delegierens spielten. Marginalisierte Frauen waren (in Haushalt und Alltag) fest in die Reproduktion eingebunden, und wenn sie sich zusätzlich zu ihren eigenen Aufgaben auch um die Kinder und Familien weißer Frauen kümmerten, mussten sie häufig im Verborgenen multitasken, es war für sie eine Frage des Überlebens. Neben der öffentlichen Sphäre mit ihren männlichen Arbeitern – später auch Angestellten – fand das verborgene private oder häusliche Management im frühen 20. Jahrhundert somit in Wahrheit auf zwei Ebenen statt: Da waren zum einen die weißen Frauen, die ihre Männer unterstützten, und zum anderen Frauen of Color, die hinter den Kulissen die Show am Laufen hielten.

Dennoch hieß es, die bürgerliche weiße Hausfrau habe für effizientes Haushaltsmanagement eine...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2024
Übersetzer Anne Emmert
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Achtsamkeit • Audre Lorde • Ausbeutung • Care • Care-Arbeit • Community • Dekolonisation • Dekolonisierung • Ernäherung • Feminismus • Fürsorge • Gesundheit • Gwyneth Paltrow • Individualismus • influencer • Kapitalismus • Kim Kardashian • Kollektiv • Kolonialismus • Konsum • Kultur • Kulturelle Aneignung • lifestyle • Luxus • Neoliberalismus • Paleo • Privilegien • Rassismus • Schwarzer Feminismus • Selbstfürsorge • Selfcare • Social Media • Weiße Vorherrschaft • Wellness • white supremacy • Yoga
ISBN-10 3-96054-345-X / 396054345X
ISBN-13 978-3-96054-345-9 / 9783960543459
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