Bewegung als Lernprinzip für Förderung und Unterricht (eBook)
168 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042379-4 (ISBN)
Richard Hammer, Diplom-Motologe, ist Gymnasiallehrer und Dozent der 'deutschen akademie für psychomotorik'. Jörg Schröder, Diplom-Motologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Michael Wendler ist Diplom-Motologe und arbeitet als Professor für Bewegungspädagogik und Motopädagogik an der ev. Hochschule in Bochum RWL.
Richard Hammer, Diplom-Motologe, ist Gymnasiallehrer und Dozent der "deutschen akademie für psychomotorik". Jörg Schröder, Diplom-Motologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Michael Wendler ist Diplom-Motologe und arbeitet als Professor für Bewegungspädagogik und Motopädagogik an der ev. Hochschule in Bochum RWL.
2 Bewegung als Voraussetzung für menschliches Lernen
2.1 Bildung, Lernen und Bewegung
In Deutschland haben die Begriffe Bildung und Lernen ihre eigene Tradition. Aber in der aktuellen Diskussion mehren sich die Auffassungen, nicht nur gesellschaftliche und naturwissenschaftliche Sachverhalte, sondern auch Selbstbildungspotentiale als Ausgangspunkt kindlicher Bildungsprozesse anzusehen. Bildung wird verstanden als bewusster, aktiver, reflexiver und handlungsbezogener Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, wie auch mit seiner gegenständlichen, sozialen und kulturellen Umwelt. Dabei bildet sich sein Selbst- und Weltverständnis ebenso heraus wie Sozial- und Handlungskompetenz (Buboltz-Lutz et al. 2010, S. 27). Zentrale Merkmale von Bildung sind Reflexivität und darauf bezogenes Handeln. Bildungspolitiker*innen, die unter Bildung lediglich aktive Aufnahme- und Verarbeitungsprozesse von Informationen verstehen (vgl. KfJS BW 2014, S. 8), wird ein komplexeres Bildungsverständnis ermöglicht. Ein solches setzt Beziehungen voraus, in denen – meist über Sprache – Bilder entstehen und Rückmeldungen über die eigenen Fähigkeiten (z. B. emotionale, kognitive oder soziale) und Fertigkeiten (Klavierspielen, Fußballspielen, Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen) gesammelt werden (Detes 2015, S. 7). Eine wesentliche Voraussetzung für Bildung ist, dass die Einzelnen darin einen Sinn für eigenes Handeln entdecken (ebd.).
Insofern ist zu unterscheiden zwischen der gesellschaftlichen Funktion des »Gebildet-Werdens« und dem »Gebildet-Sein« als subjektives »Begreifen« in der tätigen Auseinandersetzung mit der Welt. In Abgrenzung zum bisher üblichen Verständnis von Anleitung und Anweisung kristallisiert sich ein neues Bildungsverständnis heraus, das die bisherige Verwissenschaftlichung des Lernstoffs um die subjektive Dimension erweitert (Brandle-Bredensteck 2010, S. 118).
Lernen ist Grundlage für Bildung. Mit Faulstich (2013) wird Lernen »kritisch-pragmatistisch« gefasst, d. h. als praktische Tätigkeit (statt rein mentale Aktivität), als kontextuell gerahmt (statt isoliert) und als sozial (statt nur individuell) (Faulstich 2013, S. 213 f.). Innerhalb dieser Sichtweise beschränkt sich auch Lernen nicht auf die Instrumentalisierung und Reproduktion von Wissen, sondern beinhaltet selbstgesteuerte, emotional motivierende, kreative und kommunikative Prozesse in der aktiven Auseinandersetzung mit der Mitwelt (Voglsinger 2016, S. 42). Dem Vorwissen des Lernenden kommt in dieser Sichtweise entscheidende Bedeutung zu, da neues Wissen stets im Bezug darauf konstruiert wird und die Aktivierung von Vorkenntnissen, ihre Ordnung, Korrektur, Erweiterung, Ausdifferenzierung und Integration im Prozess des Erkenntnisgewinns die entscheidende Rolle spielen (Stangl 2010, o. S.). Durch Lernen werden individuelle Konstrukte aufgebaut, verknüpft, reorganisiert und modifiziert, und zwar stets unter dem Prinzip der aktuellen und zukünftigen Zweckmäßigkeit. Letztere stellt dabei als gesellschaftliche Notwendigkeit einen organischen Bezug zur sozialen Mitwelt her.
Menschlicher Bewegung als Bestandteil von Bildungs- und Lernprozessen wird in unserer Kultur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen und damit nachhaltig unterschätzt. Entsprechend wurden Theoriediskurse zur körperlichen Bewegung und leiblichen Erfahrung lange Zeit vernachlässigt, ignoriert oder marginalisiert (Laging 2020, S. 181). Gleichzeitig verweisen Erkenntnisse der pädagogischen Anthropologie schon seit längerer Zeit auf die Bedeutung von Bewegung in Bildungsprozessen. Die Marginalisierung von Bewegung hängt auch damit zusammen, dass sie z. B. in der Motorikforschung lediglich als Wechselwirkung mechanischer Kräfte zwischen Organismus und Umwelt gilt (Meinel 1998, S. 33). Gleichzeitig wird Bewegung und Bewegungsförderung u. a. auf Aktivitäten der Skelettmuskulatur und Zusammenziehen oder Anspannen der Muskeln verengt (Pfeifer et al. 2016, S. 19). Die komplexe Verflechtung von Bewegung, Wahrnehmung, Gefühlen, Erfahrungen, Einsichten und absichtsvoll gestaltete Handlungen geht bei diesem verkürzten Begriffsverständnis verloren.
Aus sport- und bewegungspädagogischer Perspektive bedeutet Bewegung den ersten und wichtigsten Zugriff des Kindes im Vor- und Grundschulalter auf Möglichkeiten der Entwicklung seiner Selbst. Kinder setzen sich mittels ihrer Bewegung mit der Welt auseinander, eignen sich die Welt qua Bewegung an. Indem sie sich bewegen, bilden sie sich. Die Erkenntnis der Weltelemente und ihrer selbst stehen in engem Wechselbezug. Bedingung der Möglichkeit, um Mensch-Welt-Bezügen Bildungsrelevanz zuschreiben zu können, sind Situationen, die eine selbstständige Reflexion des Subjekts herausfordern oder zumindest zulassen (Giese 2014, S. 476).
Bewegung, Körper und spielerische Eigenaktivität werden daher als zentrale Medien des (früh-)kindlichen Lernens angesehen. In zielgerichteten Bewegungshandlungen findet ein impliziter und expliziter Dialog mit Personen und Gegenständen in Situationen statt. Die damit verbundenen Lernprozesse beinhalten kognitive, emotionale und soziale Aspekte des Erfahrens und Denkens, die miteinander verbunden werden. Der besondere Bildungsbeitrag von Sich-Bewegen liegt in dessen speziellen Möglichkeiten als »leiblich-sinnliche Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Gestaltungsquelle« (Prohl 2010, S. 144). Bereits in frühkindlichen Entwicklungs- und Bildungsprozessen kommt dem Sich-Bewegen eine zentrale Bedeutung zu: als Weltzugang, Entwicklungsbedingung und Persönlichkeitsentwicklung (Krist 2006; Fogel 2011; Gallagher 2012; Prohl 2010, S. 182).
2.1.1 Sich-Bewegen als relevanter Aspekt von Bildung
Vor allem in der Kindheit bilden Bewegungshandlungen die Basis, sich die Welt räumlich-dinglich und in ihren personellen Bezügen zu erschließen (Fischer 2009, S. 58). Als Grundkategorie vermittelt Bewegung soziale und körperliche Erfahrungen. »Über seinen Körper erlebt das Kind seine Fähigkeiten, aber auch seine Grenzen; es lernt sie zu akzeptieren oder sie durch Üben zu erweitern« (Zimmer 2010, S. 76). Im Bewegen erleben Menschen ihre körperliche Existenz und zugleich erschließen sie die Welt durch Bewegung, d. h., das Einwirken auf die Welt findet in der erlebten Körperlichkeit seine Resonanz (Laging 2017, S. 7 f.). Im konkreten Handeln erfahren wir etwas über die soziale und dingliche Welt und über uns selbst. »Unsere Identität gewinnen wir insofern erst im Handeln in der Reflexivität mit der Welt« (Laging 2017, S. 12).
»Bewegung« ist nicht zu verengen auf Fortbewegungsarten und sportlich-physische Betätigungen, sondern schließt auch Tätigkeiten, wie z. B. malen oder ein Instrument spielen, mit ein. Auch Gefühle und körpereigene Prozesse wie Herzschlag und Blutkreislauf können als eine Art »innere« Bewegung gefasst werden. In Abhängigkeit von Lebensbedingungen, Lebensalter und jeweiligen Situationen kommen der Bewegung unterschiedliche Bedeutungen zu. Gerade in der frühen Kindheit ist der explorativ-erkundende Bewegungsaspekt bedeutsam, weil Kinder hier Erfahrungen machen, die ihnen etwas über sich selbst und ihren Körper und über die gegenständliche und personale Beschaffenheit der Umwelt verraten. Bewegung als interaktive Dialogform macht sie zu einem Medium der Förderung von Kommunikation und Integration, von sozialen Kontakten und gesellschaftlicher Eingebundenheit und Partizipation.
Für Kinder stellt Bewegung also einen wesentlichen Zugang zur Welt dar: Durch das Medium Bewegung erwerben sie vielseitige Erfahrungen über sich selbst und die Umwelt und erweitern so ihre Handlungsfähigkeit. Für die Entwicklung von Kindern werden folgende Funktionen der Bewegung differenziert (Zimmer 2004, S. 17 f.; ▸ Abb. 1).
Abb. 1:Übersicht: Funktionen der menschlichen Bewegung
Die Differenzierung der Funktionen von Bewegung ist eine rein analytische Trennung. Mit ein und derselben Tätigkeit können mehrere Funktionen verbunden sein. So kann es z. B. sinnvoll sein, aus Ärger mit seiner Peergruppe einen Waldlauf (adaptive Funktion) zu machen und sich mit anderen Läufern zu messen (komparative Funktion). Diese Erfahrung kann nicht nur etwas im Körper des*der Läufer*in hervorbringen, wie etwa das Wissen um die eigene Leistungsfähigkeit (produktive Funktion), sondern auch Empfindungen wie Lust, Erschöpfung, Energie auslösen (impressive Funktion), die in Bewegung körperlich ausgelebt und verarbeitet werden (expressive Funktion). Bewusstsein und die Kenntnis dieser Funktionen haben Konsequenzen für die Auswahl der Bewegungsangebote im Hinblick auf die Bedürfnisse der Zielgruppe und die Ziele der Förderung (Zimmer 2004, S. 20).
Die jeweilige Bewegung in Bezug auf etwas verleiht dem Subjekt je nach Situation einen individuellen Sinn, ebenso wie die Umwelt/Gesellschaft, die durch die jeweils aktuellen Werte und Normen Rahmen und Bewertung der Bewegung beeinflussen. Das gilt besonders...
Erscheint lt. Verlag | 10.1.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Schulpädagogik / Grundschule |
Schlagworte | Bewegung • Didaktik • Lernen |
ISBN-10 | 3-17-042379-7 / 3170423797 |
ISBN-13 | 978-3-17-042379-4 / 9783170423794 |
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