Kriminalität -  Michael Lindenberg

Kriminalität (eBook)

Anforderungen an die Soziale Arbeit
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2024 | 1. Auflage
207 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-037657-1 (ISBN)
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Warum werden Menschen kriminell? Wie wird Kriminalität definiert und wie verändert sie sich? Welche Rolle spielen Politik, Gesetzgebung und Gesellschaft dabei? Diesen Fragen widmet sich dieses Buch. Ziel ist es vor allem, das Phänomen Kriminalität soziologisch und empirisch einzuordnen und dabei einen Gegenpol zu oft reißerischen medialen und gesellschaftlichen Debatten zu schaffen. Sozialarbeitende finden in diesem Buch Grundlagen für das Verständnis von Kriminalität, sie erfahren, wie Menschen kriminell werden, und auch, wie Menschen aufhören, kriminell zu sein. Zudem beleuchtet das Buch das grundlegende Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle besonders in der Straffälligenhilfe, der Bewährungshilfe und der Gerichtshilfe.

Prof. Dr. Michael Lindenberg lehrte an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg. Zuvor arbeitete er im Jugendvollzug und als Bewährungshelfer.

Prof. Dr. Michael Lindenberg lehrte an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg. Zuvor arbeitete er im Jugendvollzug und als Bewährungshelfer.

2 Müssen Strafe und Gefängnis sein? Überlegungen zum Konflikt mit einem Ausflug in die Vergangenheit


Was Sie im zweiten Kapitel erwarten können

Im ersten Teil dieses Kapitel wird die enge Verbindung von Strafe und Gefängnis besprochen. Es scheint uns kaum vorstellbar, dass staatliches Strafen auf diese stärkste Drohung verzichten kann. Weiter geht es mit dem Gedanken, dass in unserem heutigen Verständnis Strafen immer auch der Besserung zu dienen haben, und so auch das Gefängnis. Daran anschließend folgen Überlegungen zum Konflikt, denn bekanntgewordene Straftaten sind Ausdruck menschlicher Konflikte, die zum Streitfall geworden sind. Wie mit dem Konflikt umgehen? Dazu werden zunächst Mechanismen der Selbstregulation ohne Polizei und Gerichte in frühen segmentären Gesellschaften gezeigt (▸ Kap. 2.1.1). Dann wird besprochen, wie im Mittelalter Strafen als Ausgleich für einen Verstoß gegen eine göttliche Ordnung konzipiert wurden (▸ Kap. 2.1.2), und schließlich, wie sich dann die Missetat, auf die mit Ausgleich geantwortet wurde, zu einem Verbrechen wandelte, das nur durch die Bestrafung der jeweiligen Übeltäter gesühnt werden konnte (▸ Kap. 2.2). Das ist der Punkt, an dem wir heute stehen.

Müssen Strafe und Gefängnis sein? Die Zwecklosigkeit scheint dieser Frage auf die Stirn geschrieben. Sie scheint so überflüssig wie etwa die Frage danach, ob wir Essen und Trinken benötigen oder ob wir Schlaf brauchen. Es lässt sich also zunächst Folgendes festhalten: Unser Empfinden legt uns nahe, dass Strafe und Gefängnis ganz natürlich sind und daher selbstverständlich. Und ich will sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass wir dieses Paar aus Strafe und Gefängnis zu den Grundbedingungen des menschlichen Zusammenseins zählen. Sicher, nicht jede Strafe führt in das Gefängnis. Aber hätten wir das Gefängnis nicht als letzte und stärkste Drohung, dann, so scheint es, würde die Strafe zahn- und harmlos. Es ist die Angst vor der Strafe, so unser Empfinden, die dazu beiträgt, die Gesellschaft ganz maßgeblich zusammenzuhalten. Die Drohung mit dem Gefängnis bekräftigt die Ernsthaftigkeit der Strafe. So können wir weiter schlussfolgern: Hätten wir dieses Geschwisterpaar aus Strafe und Gefängnis nicht, werden wir irgendwann im Chaos versinken. Wer nun allerdings behauptet, diese Verbindung aus Strafe und Gefängnis muss nicht sein, weil sie keine zwingende Notwendigkeit menschlichen Zusammenlebens ist, stellt eine zentrale Grundvoraussetzung unseres Zusammenlebens in Frage. Im besten Fall denkt eine solche Person utopisch, im schlechtesten Fall anarchistisch. Im ersten Fall würden wir vielleicht sagen: »Du hast ja Recht, so wunderbar klappt das nicht mit dem Gefängnis, ich könnte mir auch etwas Besseres vorstellen – aber was?« Im zweiten Fall würde vielleicht jemand antworten: »Willst Du wirklich in Kauf nehmen, dass sich irgendwann niemand mehr an Recht und Gesetz hält?«

Aber, die Leser*innen ahnen es schon, ich will im Folgenden einige Beispiele dafür geben, dass dieses Brautpaar aus Strafe und Gefängnis nicht schon immer einen Bund fürs Leben geschlossen hat und dieser Zusammenschluss keinesfalls naturgegeben bzw. natürlich ist – ebenso wenig wie die Strafrechtsnormen.

Das Gefängnis wird heute, ca. 250 Jahre nach seiner Einführung, nicht in Frage gestellt (die Strafe ohnehin nicht). Es mag seltsam klingen, dem Gefängnis diese verhältnismäßige Jugend zu bescheinigen. Eingesperrt wurde doch schon immer. Aber jenes Gefängnis, dass wir heute kennen und an das wir heute denken, soll nicht nur ein Ort des Einsperrens, der Sühne und der Vergeltung sein. Es gilt zugleich als ein maßgeblicher Baustein einer das Verhalten ändernden Technik. Dabei geht es um die Beseitigung eines menschlichen Makels, denn, so die Auffassung, wer ein Verbrechen begeht, ist mit einem Makel behaftet.

»Das Wesentliche der Strafe, welche die Richter auferlegen, besteht nicht in der Bestrafung, sondern in dem Versuch zu bessern, zu erziehen, zu ›heilen‹. Eine Technik der Verbesserung verdrängt in der Strafe die eigentliche Sühne des Bösen und befreit die Behörden von dem lästigen Geschäft des Züchtigens« (Foucault 1977, S. 17).

Den entscheidenden Unterschied zwischen der alten, nur an Bestrafung, Sühne und Vergeltung orientierten Strafe und der neuen Strafe, die dazu ergänzend auch verbessern soll, sieht Foucault darin, dass die alte Strafe ein Manifestationsritual war. Sie zeigte die Macht des Souveräns und seine Möglichkeiten, über Leben und Tod zu entscheiden. Der damals übliche öffentliche Vollzug der Strafe als Leibesstrafe war seine Machtkundgebung. Die neue Strafe dagegen will in erster Linie verhindern und steuern. Sie will nicht öffentlich manifestieren. Sie kann deshalb im Verborgenen stattfinden, denn alle Gesellschaftsmitglieder wissen ohnehin, dass sie vollzogen wird. Das kann gern in aller Stille im Gefängnis geschehen, den Augen der Öffentlichkeit entzogen.

Um ihre Steuerungsfunktion zu gewährleisten, benutzt die neue Strafe bestimmte Techniken, die Foucault »Strafzeichen« nennt. Er zählt sechs derartige Zeichen auf (ebd., S. 120 – 126):

  • Erstens die Regel der »minimalen Quantität«. Damit ist gemeint, dass das durch die Strafe zugefügte Übel den Vorteil übertreffen muss, welchen die Tat mit sich bringen soll. Oder, einfacher ausgedrückt: Es muss gerade so viel bestraft werden, dass sich das Verbrechen nicht lohnt. Verbrechen und Strafe werden in ein Bedingungsverhältnis gestellt. Wer als Jugendlicher Ladendiebstähle begeht, muss nicht unbedingt mit einer Haftstrafe rechnen, sondern kann mit Auflagen und Weisungen davonkommen, deren Erfüllung überwacht wird. Wer hingegen eine Bank ausraubt, muss sich mit vielen Jahren Haft abfinden.

  • Zweitens spricht Foucault von der »Regel der ausreichenden Idealität«. Damit ist gemeint, dass in uns eine Vorstellung und eine Antizipation der Wirksamkeit der Strafe erzeugt wird. Wir erwarten einen Nachteil von ihr, den wir aber nicht unbedingt selbst erleben müssen, um davon überzeugt zu sein, dass sie wirkt. Die Erwartung reicht aus.

  • Drittens erwähnt er die »Regel der Nebenwirkungen«. Sie hängt eng mit der vorgenannten Regel der Idealität zusammen. Damit ist gesagt, dass sich die Strafe am stärksten bei jenen auswirken soll, die das Verbrechen nicht selbst begangen haben. Die Strafe zielt auf das zuschauende Publikum, auf die Allgemeinheit. Der für uns gebräuchlichere Begriff ist jener der allgemeinen Abschreckung.

  • Viertens nennt er die »Regel der vollkommenen Gewissheit«: Jeder Mensch muss sich darauf verlassen können, dass auf ein bestimmtes Vergehen eine bestimmte Strafe folgt, und dass dieses stabile Verhältnis zwischen Strafe und Vergehen veröffentlicht ist. Wer will, kann die Gesetze nachlesen, der Zugang zu ihrem Wortlaut wird niemanden verwehrt. »Die schriftliche Gesetzgebung ist das stabile Monument des Gesellschaftsvertrages,« wie Foucault (ebd., S. 122) Beccaria zitiert. Auch die Gerichtsverhandlungen (soweit es sich nicht um jugendliche Angeklagte handelt) sind öffentlich und daher jederzeit zugänglich.

  • Fünftens spricht er von der »Regel der gemeinten Wahrheit.« Die Wahrheit des Beweises kann erst nach vollständiger Beweisführung vorausgesetzt werden; der Verdacht allein ist kein hinreichender Grund für eine Verurteilung. Um aus dem Verdacht Gewissheit und aus der Gewissheit Wahrheit zu erzeugen, bedienen sich die Richter*innen der empirischen Nachforschung; »als Vollzug der allgemeinen Vernunft streift die Untersuchung das alte Modell der Inquisition ab« (ebd., S. 124) und sucht nach einer unabweisbaren Gewissheit. Solange diese unabweisbare Gewissheit nicht erreicht ist, gilt die Unschuldsvermutung. Wenn die Gewissheit nicht unabweisbar ist, muss wegen des verbliebenen Zweifels im Interesse des Angeklagten auf eine Verurteilung verzichtet werden.

  • Schließlich, sechstens: Die »Regel der optimalen Spezifizierung«. Diese Regel zielt auf den Unterschied zwischen Einzelnen: »›Wenn zwei Menschen den gleichen Diebstahl begangen haben, inwieweit ist dann derjenige, der kaum das Nötigste hat, weniger schuldig als der andere, der von Überfluss strotzte‹«, zitiert Foucault (ebd., S. 126) aus einer 1780 veröffentlichten Schrift. Die Strafe wird individualisiert. Nicht nur die Tat, sondern auch die Täter*innen werden berücksichtigt. »Gewiss«, so lässt Foucault einen fiktiven Richter sprechen, »wir fällen ein Urteil, das von einem Verbrechen veranlasst worden ist; aber für uns ist es lediglich eine Anleitung zur Behandlung eines Kriminellen. Wir bestrafen zwar, doch wollen wir damit eine Heilung erreichen« (ebd., S. 33).

So wird erkennbar, warum Foucault seinem Werk...

Erscheint lt. Verlag 10.1.2024
Zusatzinfo 10 Abb., 3 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Schlagworte Gesellschaft • Gesetzgebung • Sozialarbeit • Straftat
ISBN-10 3-17-037657-8 / 3170376578
ISBN-13 978-3-17-037657-1 / 9783170376571
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