Unterordnung und Rebellion -  Stefan Berking

Unterordnung und Rebellion (eBook)

Zur Evolution des Sozialverhaltens
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2023 | 1. Auflage
250 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-6210-1 (ISBN)
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Unser gegenwärtiges Sozialverhalten ist erklärungsbedürftig. Warum wollen viele Menschen "Untertan" sein? Warum gibt es Rangordnungen anstelle von gleichberechtigten Beziehungen? Warum gibt es - auch in gegenwärtigen Demokratien - gewaltige Unterschiede an Macht und Reichtum, ohne dass es zu Aufständen kommt? Was verhindert solche Aufstände? Um diese Fragen beantworten zu können ist es notwendig, das Sozialverhalten der Menschen im Verlauf der Evolution zu untersuchen. So wie unsere gegenwärtige Anatomie und Physiologie nicht ohne ihre Evolution zu verstehen sind, so ist auch unser gegenwärtiges Sozialverhalten nicht ohne seine Evolution zu verstehen.

Stefan Berking, geb. 1943, ist pensionierter Professor für Zoologie an der Universität zu Köln.

Einführung

Wir verstehen unser gegenwärtiges soziales Verhalten nur unzureichend. Erklärungsbedürftig ist vor allem das »Untertansein-wollen« vieler Menschen und das Entstehen von (stabilen) Rangordnungen anstelle gleichberechtigter Beziehungen. Etienne de La Boétie schrieb 1576 Von der freiwilligen Knechtschaft: »Diesmal möchte ich nur erklären, wie es geschehen kann, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, Städte und Völker manchesmal einen einzigen Tyrannen erdulden, der nicht mehr Macht hat, als sie ihm verleihen, der ihnen nur so weit zu schaden vermag, als sie es zu dulden bereit sind, der ihnen nichts Übles zufügen könnte, wenn sie es nicht lieber erlitten, als sich ihm zu widersetzen. Seltsam gewiß und doch so gewöhnlich; beklagen muß man es vielmehr als sich wundern, eine Million Menschen in elender Knechtschaft zu sehen, den Hals unter dem Joch, und nicht durch eine stärkere Gewalt bezwungen, sondern, wie es scheint, irgendwie verzaubert und behext allein durch den Namen des Einen, dessen Macht sie nicht zu fürchten brauchen, denn er ist allein, noch seine Vorzüge zu lieben, der statt solche zu haben unmenschlich und grausam ist.«1 Johann Gottfried Herder fragt 1785, »warum Ein Mensch durchs Recht der Geburt über Tausende seiner Brüder herrsche? warum er ihnen ohne Vertrag und Einschränkung nach Willkür gebieten, Tausende derselben ohne Verantwortung in den Tod liefern, die Schätze des Staats ohne Rechenschaft verzehren und gerade den Armen darüber die bedrückendsten Auflagen thun dürfe?«2

Heute ist zwar Feudalherrschaft seltener geworden, aber in den gegenwärtigen Demokratien gibt es weiterhin gewaltige Unterschiede an Macht und Reichtum, ohne dass es zu Aufständen kommt. Was verhindert die Aufstände?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, das Sozialverhalten im Verlauf der Entwicklung der Menschheit zu untersuchen, weil, so wie unsere gegenwärtige Anatomie und Physiologie nicht ohne ihre Evolution zu verstehen sind, auch unser gegenwärtiges Sozialverhalten nicht ohne seine Evolution zu verstehen ist.

Die Entwicklung der Menschheit hat einen merkwürdigen Verlauf genommen. Sie begann, nach allem, was wir heute wissen, mit einem Sozialsystem, das dem der heutigen Schimpansen ähnlich war: In der Horde dominierte der stärkste Mann und unter den anderen Männern gab es eine Rangordnung, die vom ersten bis zum letzten der Männer reichte. Aus diesen Anfängen haben sich über viele unbekannte Zwischenstufen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften entwickelt, in denen die Männer einander gleichrangig waren, während es in den darauf folgenden Kulturen wieder Rangunterschiede und Willkürherrschaft gab.

Was hat zur Gleichrangigkeit der Männer geführt, und warum wurde sie schließlich aufgegeben? Demokratisch, unserem heutigen Verständnis nach, waren die Jäger-und-Sammler-Kulturen allerdings nicht. Die Frauen waren von den Beratungen und den kultischen Ritualen weitgehend ausgeschlossen. Die Frauen hatten einen niederen Status. Warum, muss man sich fragen, wurde bei gesellschaftlich relevanten Beratungen und Entscheidungen auf Beiträge der Hälfte der Menschheit »verzichtet«?

Wie es zur Gleichrangigkeit der Männer kam, ist nur aus Indizien zu schließen. Leichter zu untersuchen ist die Bildung von Rangordnungen. Zu den wichtigsten Ursachen für die Ausbildung einer Rangordnung in einer Gemeinschaft werden physische Stärke, List und der Wille zu Macht und Besitz gezählt. Eine Rangordnung konnte sich nach weit verbreiteter Ansicht aber erst dann ausbilden, als ein Interesse an Besitz und dann auch die Möglichkeit aufkam, Besitz anzuhäufen. Schwer zu verstehen bleibt, dass sich in Jäger-und-Sammler-Kulturen die Gleichrangigkeit der Männer – nach heutigem Stand der Kenntnis – über große Zeiträume hinweg hielt, obwohl es in diesen Gesellschaften Kriegszüge unter Anleitung starker und geschickter Männer gab und obwohl Privatbesitz eine große Rolle spielte. Warum führte das nicht zu einer Rangordnung?

Andererseits gab es in Gesellschaften mit einer Rangordnung nicht nur erzwungene, sondern auch freiwillige Unterordnung. Es gibt viele Berichte darüber, dass junge Männer aus der eigenen und auch aus benachbarten Gemeinschaften sich freiwillig einem selbstherrlich handelnden Häuptling unterordneten, um für ihn zu arbeiten und mit und für ihn Kriege zu führen. Was trieb die jungen Männer dazu? Warum wollten sie nicht frei und selbstbestimmt leben? Auf die jüngere Geschichte bezogen: Warum zogen so viele junge Männer freiwillig in den Ersten Weltkrieg? »Vaterlands- und kaisertreu waren vor allem die Tübinger Studenten«, schrieb Michael Kuckenburg. »Im Herbst 1914 standen 1400 von ihnen ›im Felde‹, im Sommer 1915 hatte Tübingen mit 89 Prozent Eingerückten den höchsten Anteil aller deutschen Universitäten. Die meisten hatten sich freiwillig gemeldet.«3 Was trieb die Studenten dazu? Bemerkenswert ist die Reaktion des Senats der Tübinger Universität nach dem Ende des Kriegs. Der Senat versicherte »Anfang Dezember 1918 dem frisch abgedankten württembergischen König Wilhelm II.: ›Dass wir in eurer Königlichen Hoheit nicht mehr unsern allergnädigsten König und Herrn sehen dürfen, bereitet uns herben Schmerz [...]‹.«4 Es bereitete den Dozenten »herben Schmerz«, dass sie nicht mehr Untertanen sein durften. Das ist erklärungsbedürftig.

Im ersten Kapitel dieses Buchs wird diskutiert, wie das Sozialsystem unserer Ahnen vor dem eigentlichen Beginn der Menschheit ausgesehen haben dürfte. Im zweiten Kapitel wird diskutiert, was zur Gleichrangigkeit unter den Männern und zur Deklassierung der Frauen geführt hat. Im dritten Kapitel geht es um die Frage, was zur Aufgabe der Gleichrangigkeit und zur Einführung einer Rangordnung geführt hat. Im vierten Kapitel geht es um gegenwärtiges Sozialverhalten und zwar um solches, das stark von dem zurückgelegten Weg unserer Evolution geprägt ist. Im fünften Kapitel wird diskutiert, was zu tun ist, um Hindernisse auf dem Weg zum »Wahren, Guten und Schönen« beiseite zu räumen.

Ein Wort zur Methode: Für das Ziel, den Lesern Aussagen über die Evolution des Sozialverhaltens plausibel zu machen, reichen pauschale Feststellungen, wie »Jäger-und-Sammler-Kulturen waren egalitär«, nicht aus. Detaillierte Beschreibungen aus nicht nur einer Kultur sind notwendig, um zu verstehen, was unter »egalitär« verstanden werden soll. Im folgenden Text wird es daher viele Zitate und auch viele Fußnoten geben. Das macht die Lektüre streckenweise schwer lesbar, aber – so meine Hoffnung – es macht die Folgerungen nachvollziehbar. Besonders viele Hinweise auf Untersuchungen von Ethnologen und Anthropologen sind an den Stellen in den Text aufgenommen, an denen ich gängige Vorstellungen in Frage stelle.

Ein großes Problem ist die Verlässlichkeit der Berichte, auf die sich meine Analysen stützen. Viele der verwendeten Berichte sind alt; sie sind von ungeschulten Beobachtern gemacht. Heute gibt es zwar geschulte Beobachter, aber die Kulturen gibt es nicht mehr. Man muss also mit den alten Berichten arbeiten. Dieses Problem ist nicht neu. John Millar schrieb 1771: »Wir beziehen [...] unsere Kenntnisse von den Daseinsformen des Menschengeschlechts in den unzivilisierten Teilen der Welt vornehmlich aus den Berichten von Reisenden. Diese sind nun zwar ihrem Ruf und ihrer Stellung im Leben nach keineswegs über jeden Verdacht erhaben, daß sie sich nicht getäuscht haben könnten, noch auch, daß sie die von ihnen berichteten Tatsachen nicht auch hätten falsch darstellen wollen. Aber dadurch, daß es sich um eine große Zahl und ganz verschiedenartige Berichte handelt, wächst ihnen in vielen Details eine Überzeugungskraft und eine Verläßlichkeit zu, die uns eine sichere Grundlage gibt, – was wiederum die Erzählung einer Einzelperson, sie sei noch so zuverlässig, nie beanspruchen könnte.«5 Dem schließe ich mich an. Und weiter schrieb Millar: »Der Verfasser hat aber zugleich aus der Befürchtung heraus, er könne langweilig wirken, andernorts nur einige wenige Fakten aus der Fülle weiterer bestätigender Umstände ausgewählt, die an sich mühelos in ihrer Gesamtheit hätten angeführt werden können.«6 Auch dem schließe ich mich an.

Unter Anthropologen ist die Anwendung evolutionsbiologischer Methoden und Betrachtungsweisen für das Verständnis der Entwicklung der Menschheit umstritten. Deren Ablehnung beruht zum Teil auf einem Missverständnis. Evolution wurde und wird von vielen als »schrittweise Höherentwicklung«7 angesehen. Evolution heißt aber nur Fortentwicklung von Organismen im Laufe von Generationen, dabei kann beispielsweise der Körperbau eines Lebewesens komplexer oder auch einfacher werden, und auch die Interaktion mit anderen...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7583-6210-5 / 3758362105
ISBN-13 978-3-7583-6210-1 / 9783758362101
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